N. DIE ÄUSSEREN MERKMALE DES STAATES
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Die Tabelle zeigt zu-
nächst, daß die Flächen-
größe allein für die
Stellung eines Staa:
res als Großmacht
nicht maßgebend ist.
Zwar gehören sechs der
hier angeführten Mächte
der ersten Größenklasse
an, für Japan und Öster-
reich-Ungarn aber trifft
das nicht zu. Andrerseits
fehlen die meisten der
auf S. 232 angeführten großräumigen Staaten, und nicht einmal solch
gewaltige Gebilde wie China und Brasilien sind vertreten. — Von
größerer Bedeutung ist offenbar die Bevölkerungsmenge,
denn alle hier angeführten Staaten verfügen über eine ansehnliche Volks-
zahl, wenn auch im einzelnen die Unterschiede sehr groß sind. Italien
besitzt noch nicht den zehnten Teil der Bevölkerung des Britischen Welt-
reiches. Und doch fehlt in der Reihe China mit seiner gewaltigen
Volkszahl von 330 Millionen. Auch die Niederlande haben mit ihren
Kolonialländern mehr Einwohner als Italien. Aber es handelt sich
dabei zu sechs Siebentel um Kolonialbevölkerung. Es kommt eben nicht
nur auf die Zahl der Bevölkerung an, sondern auch auf deren Art.
Das sehen wir an China, das trotz seiner gewaltigen Fläche und seiner
riesigen Bevölkerungsmasse zur Zeit an politischem Gewicht nur einem euro-
päischen Mittelstaat vergleichbar ist. Das sehen wir an Indien, das sich trotz
derselben. Vorbedingungen im Zustand kolonialer Abhängigkeit befindet. Die
Gebundenheit beider Völker an einseitige religiöse und gesellschaftliche An-
schauungen (Kastenwesen), die Erstarrung ihrer einst hochentwickelten Kulturen,
endlich die äußerst geringe Volksbildung*!, das alles schafft eine gewisse Müdig-
keit und Schlaffheit des Volkes, eine Art Dämmerzustand der Volksseele, der
die Gesamtheit des Volkes nicht. zum Bewußtsein der tatsächlichen Stärke
kommen läßt (Wütschke). In diesem Sinne können wir von einem „Erwachen“
jener Völker reden, wenn wir an ihre jetzigen Bemühungen um die Reform des
sozialen Lebens und namentlich um die Hebung der Volksbildung hören.
Das führt uns zum Dritten, das die Großmacht bedingt: Es ist
der Wille eines Staates zur Macht. Dieser kommt in verschie-
dener Weise zum Ausdruck, so in der Schaffung einer großen Wehr-
macht — man denke an die Flotte Englands oder an die stehenden
Heere der alten europäischen Großmächte —, in der Steigerung der
wirtschaftlichen Leistungen, in der Förderung von Bodenbau, Industrie
und Handel, Technik und Wissenschaft, die alle mittelbar die Macht-
entfaltung eines Staates unterstützen, schließlich in einer zielbewußten
Politik, die dem Willen des Volkes einheitliche Richtung und große
Ziele gibt. Daher beruht auch die Stärke einer Großmacht auf sehr
verschiedenen Voraussetzungen: bei der einen auf Erzeugung und
Handel, bei der anderen auf rein militärischen Machtmitteln, bei der
dritten vielleicht auf den Bevölkerungsverhältnissen, der gesellschaft-
Tabelle IV
(Großmächte nach dem Stand von 1914).
Staat
1 Yon den Chinesen können 98%, von den Indern 93°%g nicht lesen und schreiben.