Es ist einerlei, ob diese Legende eine tatsächliche Grund⸗
lage hat oder nur ein Mythe ist. Man kann mit ihr ebenso—
gut wie mit einer anderen den Anfang machen, wenn man
sich mit Abessinien beschäftigen will. Dieses Land führt
heutige Einrichtungen auf uralte Gewohnheiten zurück. Es
ist christianisiert seit dem vierten Jahrhundert. Stolz ver—
knüpft es seine Vorfahren und ihre Überlieferung mit
Judäa. Mit Ausnahme von Liberia ist es das einzige Stück
Land auf diesem großen, reichen, unter den Mächten aufge⸗
teilten Kontinent, das sich aus eigener Kraft von europäi⸗—
schen Fesseln frei gehalten hat und dessen Volk, wie es
scheint, ebenso sicher aus Asien stammt wie das Liberias
aus der Neuen Welt.
Mein Besuch in Abessinien hatte alle die Reize, aber
auch alle die Nachteile eines Unternehmens aus dem Steg—
reif, einer Reise, die weder geplant noch vorbereitet war.
Meine Vorbereitungen für eine Reise nach Indochina
waren bereits bis zum Stadium des Kofferpackens gediehen,
als ich in Paris einen Brief meines Freundes Dr. Prüfer,
des deutschen Gesandten in Addis Abeba, erhielt, in dem er
eine Karawanenreise stizzierte, die er durch einen Teil des
äthiopischen Reiches machen wollte. Er hatte die Absicht,
den Blauen Nil bis zu feiner Quelle hinauf zu verfolgen
und ein Lager beim Tanasee zu beziehen. Die Reisegesell—
schaft sollte bestehen aus ihm und seiner Frau, dem italieni⸗
schen Gesandtschaftsrat Herrn Porta, dessen Frau und mir
— wenn ich Lust hätte mitzumachen.
Sofort warf sich meine Wanderlust auf Abessinien. Ich
telegraphierte an Dr. Prüfer und machte mich unverzüglich
auf die Reise nach dem Lande der grün⸗gelb-⸗roten Flagge.
Ich schiffte mich in Marseille ein und laͤndete kaum zwei