Full text: Die Psychologie der Reichsfinanzreform

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In den Jahren 1887—1894, wo wir an die Bundesstaaten 
noch sogenannte Ueberschtisse von über 400 Millionen Mark 
verteilt haben, sind nach den Grundsätzen, wie sie heute 
maßgebend sind, nicht weniger wie 860 Millionen Mark 
solcher Ausgaben auf Anleihen übernommen, die aus laufenden 
Einnahmen hätten bestritten werden müssen. Allein diese 
Tatsache beweist die völlige finanzpolitische Unfähigkeit und 
Hilflosigkeit der damaligen Zeit. 
An dieser Stelle muß ferner erwähnt werden, daß auch 
die soziale Gesetzgebung den Gütererwerbs- und Sparsinn 
weitester Kreise durch die Hinwegnahme der Gefahr für 
spätere Unglücksfälle ungünstig beeinflußt hat. Auch bleibt 
zu beachten, daß dieselbe Gesetzgebung durch die Fest 
legung großer Kapitalien der Volkswirtschaft im ganzen 
bedeutende Anlagewerte entzogen hat; sind doch z. B. allein 
durch das Reich bis heute mehr wie 500 Millionen Mark 
für die Invalidenrenten gezahlt worden, wovon doch sozu 
sagen kein Pfennig produktiv angelegt worden ist. Hierbei 
will ich noch den Umstand beiseite lassen, daß die Sozial 
versicherung auch die Entwicklung der wirtschaftlichen Selbst 
kraft des Individuums zweifellos aufgehalten hat. Auch 
dadurch wird ein weiterer Weg zur Entwicklung verlegt. 
Ueberhaupt haben wir meines Erachtens die große Sozial 
politik viel zu früh unternommen. Sie war von Anfang an 
zu ideal gedacht; man hat sich nicht ausreichend klar ge 
macht, ob die materiellen Unterlagen auch vorhanden waren. 
Mindestens durften die öffentlichen Mittel nicht in dem Um 
fange in Anspruch genommen werden, wie die Reichsgesetze 
das verlangen. Und so sehen wir auch hier das dicke Ende 
schon schwer herankommen. Es ist hier, wie überall der 
Mangel an wirtschaftlicher Voraussicht, der uns die tollsten 
Sachen machen läßt. Und so haben unsere Feinde nicht 
unrecht, wenn sie sagen: laßt die Deutschen nur wirt 
schaften, sie werden sich schon selbst in die Tinte hinein 
arbeiten. Und wie recht haben sie leider! 
4. Eine weitere Ursache der Reichsfinanznot finde ich in 
dem zu weit getriebenen Egoismus der Bundesstaaten. Meine 
Herren, es ist unbestreitbar, daß die nächsten, unter dem 
Reiche stehenden, ja seine eigenen Bestandteile bildenden 
Gemeinwesen, das sind unsere lieben Bundesstaaten, allzu 
selbstherrlich darauf bedacht waren und noch sind, ihre 
eigene finanzrechtliche Stellung festzuhalten — dadurch ver 
hindern sie das Heranwachsen des Reiches zu einem auch 
wirtschaftlich selbständigen Gemeinwesen; sie lassen hierbei 
einen wichtigen Grundsatz der Politik außer acht, dessen
	        
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