24 GEOGRAPHISCHE STAATENKUNDE Zwei Drittel der Bevölkerung Amerikas und fast die gesamte Einwohnerschaft Australiens und Neuseelands sind europäischer Ab- stammung. Dagegen hat Großbritannien, namentlich Irland, im 19. Jahrhundert 8—10 Millionen Menschen verloren, Deutschland 5 bis 6 Millionen. Auch Italien und Spanien verloren bis 1910 ins- gesamt 6 Millionen Menschen durch Abwanderung. Aber diese Aus- wanderung bedeutete gleichzeitig eine ungeheure, nie vorhergesehene Ausbreitung der europäischen Herrschaft. Denn auch da, wo die Europäer nur in geringer Zahl einwanderten, wußten sie vermöge ihrer überlegenen Intelligenz und höheren Kulturstufe die Herrschaft an sich zu reißen. Sie eroberten große Gebiete und machten sie sich als Kolonialland nutzbar. Der Kolonialbesitz der europäischen Staaten hat einen Umfang von der siebenfachen Größe unseres Erd- teils. So stehen denn 80% der bewohnten Erde und 70% ihrer Bewohner unter der Herrschaft des europäischen Geistes: die Erde wurde europäisiert. Allerdings scheint dieser Prozeß gegenwärtig seinen Höhepunkt erreicht oder vielleicht schon überschritten zu haben. Einmal haben in den letzten Jahren nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch andere Länder, wie besonders der Australische Staatenbund, durch ge- setzliche Bestimmung den weiteren Zuzug von Einwanderern auch aus europäischen Staaten erheblich eingeschränkt. Dann aber ist auch in der Eingeborenenbevölkerung zahlreicher Länder der Widerstand gegen die wirtschaftliche und politische Bevormundung seitens der Europäer stark gewachsen. Die Völker Ostasiens, Indiens und selbst die Neger Afrikas haben das Wort von der „Selbstbestimmung der Völker“ wohl vernommen. Der Weltkrieg hat ihnen gezeigt, daß auch der weiße Mann nicht unbesiegbar ist, und hat sie in dem Bestreben gestärkt, ihre Geschicke in eigene Hand zu nehmen. Von ähnlicher Bedeutung wie die überseeische Auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert waren in früherer Zeit die Wanderbewegungen, die sich inner halb des Kontinentes von einem europäischen Staat zum andern vollzogen. Freilich waren es nicht so große Massen, die dabei in Betracht kamen. Ihre Zuwanderung hatte nicht so entscheidenden Einfluß auf die Bevölkerungszahl und -zusammensetzung der betroffenen Länder. Um so größer aber war der Einfluß auf ihre kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung. Man denke an die Bedeutung der französischen Emigranten zur Zeit des Großen Kur- fürsten für die Entwicklung der preußischen Industrie, an den Einfluß der Nämischen Einwanderung auf den Osten Deutschlands oder an den der deutschen Kolonisten auf die wirtschaftliche Erschließung Südrußlands und der mittleren Wolgaländer, Ungarns und Siebenbürgens, nicht zu vergessen der Verdienste deutscher Bergleute um die Eröffnung des Bergbaus in Nordungarn, im Ural und in Sibirien, Die zwangsmäßige Auswanderung mohammedanisch-türkischer Bewohner Griechenlands nach der Türkei und griechischer Bewohner Klein- ? Australien stemmt sich unter dem Einfluß der „Labour Party“ grundsätzlich gegen jede Kinwanderung, Ob aber 6 Mill. Einwohner ein Land, das’ ein Vielfaches dieser Zahl ernähren kann, bei der zunehmenden Raumnot benachbarter Völker auf die Dauer werden halten können, erscheint zweifelhaft. Die gelbe Sturmilut des viel zu eng zusammengepferchten Japaner- und Chinesentums brandet empor und fordert neues Siedlungsland um jeden Preis. Schon erheben ernste englische Politiker warnend ihre Stimme und verlangen die Öffnung des fünften Krdteils für ungehinderte weiße Rinwanderung. In Bondon erschien 1926 ein Buch, das dies brennende Problem auf die knappe Formel bringt: „Australien — weiß oder gelb?“ (RR. Hennie.)