212 des Ganzen den Sinn jeder Einzelerscheinung bestimmt. Wir haben uns hier eine überindividuelle geistige Realität vorzustellen, die aus Sinnbezügen besteht; einen Bereich des objektiven Geistes, der aber nicht in einem einzelnen Zweckzusammenhang fest umschrieben ist, sondern der sich über zahlreiche solcher Zweckzusammenhänge er- streckt, die sämtlich ihr Dasein doch jenem obersten Sinn verdanken, in dem sie gründen. Die einzelnen Zweckzusammenhänge erscheinen also gleichsam als die Ausprägungen eines einheitlichen Sinnes, sie erhalten das Gesetz ihres inneren Maßes, die ‚Vernunft‘ ihrer Ge- stalt und Gestaltung durch. jenen übergeordneten Geist, in den sie eingebettet sind. Ebenso erfolgt jede Handlung — unbewußt — in Übereinstimmung mit dem überindividuellen Sinnzusammenhange. So gibt es — um das Gesagte an einem Beispiele aus einem anderen Kulturgebiet zu verdeutlichen — einen „Geist“ der Gotik, in dem alle einzelnen Kunstschöpfungen dieser Zeit, alle Zwecksetzungen der einzelnen Künstler wie jedes ihrer Werke ihre Einheit finden??. Das Muster eines solchen Stilzusammenhangs in unserem Kultur- bereich ist nun das Wirtschaftssystem. In letzter Zeit ist — im Anschluß an meine größeren Arbeiten — wieder mit großer Leb- haftigkeit die Frage erörtert ‚worden: „was‘“ denn eigentlich der „Kapitalismus‘‘, ob er eine „Realität‘““ und von welcher Art diese „Realität‘‘ sei. Ich antworte darauf: er ist eine Realität in dem Sinne eines Stilzusammenhangs, wie ich ihn eben zu kennzeichnen versucht habe. Das erkennen wir daran, daß die einzelnen Er- scheinungen des Wirtschaftslebens „sinnbezogen‘“ auf eine über- individuelle geistige Einheit, um nicht das so sehr mißbrauchte Wort „Idee‘“ zu verwenden, sind, so daß sie selber einen realen Zusammen- hang bilden: die einzelne Unternehmung, der einzelne Lohnvertrag, die einzelne Buchung findet ihren „Sinn“ im Sinn des kapitalistischen Wirtschaftssystems; jeder Unternehmer, jeder Arbeiter handelt „orientiert“ am „Geiste‘“ des Kapitalismus. Es ist nun einmal so: hier steckt etwas hinter der Einzelerschei- aung, das kein Nominalismus der Welt wegdeuten kann. Es ist außer- ordentlich schwierig, es zu bestimmen; aber da ist es. Ich bin auch 87 Vgl. Heinr. Wölfflin, Der Stil in der bildenden Kunst in den Abhand- lungen der preuß. Akademie der Wissenschaften. 1912.