Full text: Die Lehren des Marxismus im Lichte der russischen Revolution

nicht den Versuch klarzulegen, welche Kategorien denn die 
Produktion und die Konsumtion unter der neuen Wirtschafts- 
ordnung regeln werden. Wohl gibt es in der russischen 
Literatur einen Versuch, den Sozialismus als eine positive 
Lehre zu konstruieren; allein dieser Versuch ist von dem 
verstorbenen M. J. Tugan-Baranovski unternommen worden, 
der natürlich nicht als orthodoxer Marxist bezeichnet werden 
kann. So muß also zweifelsfrei die folgende verblüffende 
Tatsache festgestellt werden: Der wissenschaftliche 
Sozialismus, indem er sich vollständig auf die 
Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsord- 
nung einstellte, hat bisher keine Theorie der 
sozialistischen Wirtschaftsordnung geliefert. 
Und doch hatte der Marxismus keinen zureichenden Grund, 
auf‘ die Aufstellung einer solchen Theorie zu verzichten. 
Denn obschon Marx die evolutionäre Methode zum Angel- 
punkt seiner Anschauung machte, hat er deswegen nicht 
aufgehört, ein Revolutionär zu sein. In dem bekannten Streite 
zwischen Kautsky und Lenin darüber, ob Marx die Umwand- 
lung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische 
als einen langsamen, sich aus einer Reihe von Teilreformen 
zusammensetzenden Vorgang voraussah — wie Kautsky be- 
hauptet —, oder aber als eine simultane Umwälzung — wie 
Lenin glaubt —, in diesem Streite müssen wir entschieden 
Lenin recht geben. Ja Kautsky selbst hat in seiner Schrift 
„Die soziale Revolution“ der gleichen Anschauung gehuldigt. 
Gerade das von Marx anerkannte Hegelsche Schema der 
dialektischen Entwicklung, laut der sich unter den alten 
Formen allmählich quantitative Veränderungen heranbilden, 
gerade dieses Schema postuliert revolutionäre Eruptionen, in 
denen als Ergebnis der angehäuften quantitativen Verände- 
rungen qualitative Veränderungen der sozialen Materie zu- 
tage treten. 
Sehr häufig vergleicht Marx die Entstehung einer neuen 
Gesellschaft mit der physiologischen Geburt. Wollen wir 
diese Analogie uns zu eigen machen und versuchen, aus ihr 
die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Das Kind kommt zur 
Welt, erst nachdem alle seine Organe sich bereits im Mutter- 
leibe gebildet haben; dennoch ist seine Geburt nicht lediglich 
ein mechanischer Akt, sondern sie bedeutet auch eine tief- 
gehende physiologische Umwandlung des in die Welt hinaus- 
zeworfenen Lebewesens. Um in dem neuen Milieu leben zu 
11
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.