Full text: Die Lehren des Marxismus im Lichte der russischen Revolution

Zwar sucht Bucharin uns in seiner „Ökonomik der Über- 
gangszeit‘‘ davon zu überzeugen, daß der Umbau der Gesell- 
schaft nicht Jahre, sondern Jahrzehnte erfordern werde, und 
die russische Erfahrung scheint in der Tat dafür zu sprechen, 
daß ein solcher Umbau nicht allzu stürmisch in Angriff ge- 
aommen. werden. darf. 
Allein früher oder später, wenn die Diktatur des Prole- 
tariats die Klassengliederung der Gesellschaft endgültig über- 
wunden haben wird, werde sie sich nach der marxistischen 
Auffassung von selbst auflösen; noch mehr, es wird dann 
der marxistischen Lehre zufolge, ein Absterben des Staates 
beginnen. Behauptet doch der wissenschaftliche Sozialismus, 
daß der Staat nichts als die Organisation der Klassenherr- 
schaft sei. In der Demokratie übt die Bourgeoisie vermittelst 
des Staates ihre Herrschaft über das Proletariat aus; durch 
die Diktatur des Proletariats werde nun aber wiederum mit 
Hilfe des Staates die umgekehrte Aufgabe verwirklicht wer- 
den. Nachdem jedoch die soziale Klassengliederung gänzlich 
verschwunden sein wird, werde auch der Staat überflüssig 
werden. In der sozialistischen Gesellschaft werde es keine 
Herrschaft von Menschen über Menschen geben, sondern 
lediglich die Organisation der Produktion — also die Herr- 
schaft der Menschen über Dinge, über Natur. Der Sozialıs- 
mus führe die Menschheit, wenn auch auf ganz anderem Wege, 
zu dem gleichen seligen staatenlosen Zustand, den ihr auch 
der Anarchismus verheißt. 
Diese ganze Konstruktion eines staatenlosen. Zustandes er- 
weckt indessen bei näherer Betrachtung starke Bedenken. 
Trifft es wirklich zu, daß die sozialistische Gesellschaft ledig- 
lich die Herrschaft der Menschen über leblose Dinge, über 
die Natur kennt? Nehmen wir an, ich bin im Rahmen der 
bürgerlichen Gesellschaft ein Eigentümer eines Hauses. Ist 
28 nicht einleuchtend, daß damit nicht meine Beziehung zu 
einem physischen Körper, nämlich zum Hause, gekennzeich- 
net wird? Es wird vielmehr durch jene Bezeichnung das 
rechtliche Verhältnis zwischen mir und meinen Mitbürgern 
in bezug auf das Haus charakterisiert. „Das Haus gehört 
mir‘ bedeutet, daß niemand von meinen Mitbürgern es ohne 
meine Erlaubnis benutzen darf. Genau denselben rechtlichen 
Charakter werden aber die analogen Beziehungen auch im 
Rahmen der sozialistischen ‚Gesellschaft beibehalten. Nur 
witt hier statt des einzelnen Hauseigentümers die Allgemein- 
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