11. DIE ÄUSSEREN MERKMALE DES STAATES 229
Hat man einerseits künstliche Grenzsäume neu geschaffen, so haben
andrerseits alte natürliche Grenzsäume vielfach mit der zunehmenden wirt-
schaftlichen Entwicklung und dem steigenden Ausbreitungsbedürfnis der
anwohnenden Völker an trennender Wirkung verloren. Fortschritte in
den Methoden der Bodenbebauung, die es ermöglichten, auch den
Steppen, Wüsten und Sümpfen noch Früchte abzuringen, führten dazu,
daß sich die Grenzvölker von beiden Seiten in die trennenden Gebiete
vorschoben. Mineralschätze der Gebirge lockten zu derselben Bewegung.
Diese dauerte fort, bis die benachbarten Völker und Staaten innerhalb
des Grenzsaums aufeinandertrafen, so daß sich nunmehr die Notwendig-
keit herausstellte, eine vertragsmäßige Grenzlinie festzulegen.
Die staatsrechtliche
Grenze zwischen Böh-
men und Deutschland
bilden heute nicht mehr
Böhmer Wald, Erzge-
birge und Sudeten, die
zwischen Spanien und
Frankreich nicht mehr
die Pyrenäen, die zwi-
schen Chile und Argen-
tinien nicht mehr die
Anden, sondern immer
eine Linie innerhalb
dieser Gebirge.
Meist suchte man
bei Bestimmung sol-
cher Linienim Bereich
des Grenzsaums sich
wieder gewissen Leit-
linien der Natur anzu-
passen, z. B. in Gebir-
gen den |Kammli- 192. Die Grenze des Deutschen Reiches im Algäu als
nien oder den Wasser- Beispiel einer Kammgrenze. (Nach Ratzel.)
scheiden zu folgen.
Da aber Kammlinien und Wasserscheiden häufig einen recht verwickelten
Verlauf haben, so ist die Voraussetzung für die Benutzung dieser Linien eine
genaue geographische Erforschung der betreffenden Gebiete. Wo diese fehlt
und dennoch in den Verträgen jene Linien als maßgebende bestimmt sind,
können leicht Grenzstreitigkeiten eintreten. Die Geschichte der Staaten Süd-
amerikas ist aus diesem Grunde erfüllt von Grenzstreitigkeiten. I. Bowman
und R. R. Platt zeichnen in ihre Darstellung der Grenzverhältnisse der süd-
amerikanischen Staaten nicht weniger als zehn strittige Gebiete ein (Abb. 193).
Auch sind Kammpartien vielfach gar nicht als Linien, sondern als Flächen
ausgebildet, und das gilt oft auch von Wasserscheiden, namentlich wo diese in
Niederungen liegen.
Selbst da, wo Wasserflächen die Grenzsäume bildeten, hat man
jetzt Linien gelegt, bei den Flüssen an eines der beiden Ufer oder
öfter in die Mitte, in den Stromstrich.
Die Grenze zwischen Kanada und der Union geht durch vier der Großen
Seen (Abb. 194), die zwischen ehemalig Deutsch- und Englisch-Ostafrika in