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lichen Schichtung oder politischen Leitung (Kjellen). Wo aber einem
Staate der Wille zur Macht fehlt, da wird er trotz aller anderen Vor-
bedingungen nicht zur Großmacht aufsteigen.
Andrerseits verliert der Wille zur Macht seine Bedeutung, wenn ihm die
tatsächlichen Grundlagen fehlen. Die großserbischen und großpolnischen An-
sprüche zeigten zeitweise diese Art unbegründeten Machtwillens. Auch das
Bestreben Frankreichs, neben der Beherrschung und Durchdringung seiner weit-
schichtigen Kolonial- und Interessengebiete in Afrika, Vorderasien, Indien und
Südamerika gleichzeitig eine Hegemoniestellung in Europa einzunehmen, beruht
zweifellos auf einer Überschätzung seiner tatsächlichen Kräfte. Frankreich hat
schon mehrmals im Lauf der Geschichte sich in diesem. Zustand befunden,
wie das Scheitern des großangelegten nordamerikanischen Kolonialunternehmens
and der Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches in Europa beweisen.
Die wichtigsten Grundlagen für die Durchsetzung des Willens zur
Macht sind aber doch die Größe des Volkes und als Voraussetzung
für diese die Größe des Landes und die seiner wirtschaftlichen Hilfs-
quellen. Land und Volk bieten die Mittel, um den vorhandenen
Willen zur Macht auch wirklich in die Tat umzusetzen. So kann
man also diejenigen Staaten als Großmächte bezeichnen, die den
Willen zu einer großen Machtentfaltung haben und auch
über die Mittel verfügen, diesen Willen durchzusetzen. Frei-
lich ist auch diese Begrenzung des Begriffes noch ungenau und schließt
allerlei Abstufungen in sich. Letzten Endes bilden die Großmächte
eine Gesellschaft von Staaten, die sich gegenseitig als solche aner-
kennen und miteinander verkehren, und die sich durch Einladung
zur Zusammenarbeit bei großen Unternehmungen zusammenfinden.
Daß Großmächte ebensosehr wie die Mittelmächte und Kleinstaaten
dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind, beweist die Geschichte in
zahlreichen Beispielen und zeigt die Gegenwart.
Das Altertum und Mittelalter sah eine Reihe von Weltmächten, die den
jeweiligen gesamten Kulturkreis zu umfassen bestrebt waren, im allgemeinen
nacheinander entstehen und vergehen (Assyrien, Perserreich, Reich Alexanders
des Großen, Römisches Reich, Arabisches Kalifat, Reich Karls des Großen,
das deutsche Kaiserreich des Mittelalters). Mit dem Zeitalter der Entdeckungen,
das den europäischen Völkern Land in verschwenderischer Fülle zur Verfügung
stellt, weitet sich der europäische Ausbreitungsdrang und Machtwillen so ge-
waltig, daß von nun an mehrere Großmächte nebeneinander bestehen, von
denen aber immer wieder die eine oder andere verschwindet, um durch neue
Mächte abgelöst zu werden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bilden
fünf Mächte „den europäischen Senat“, der sich in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende durch Aufnahme Italiens, der
Vereinigten Staaten und Japans zu einer Achterherrschaft der politischen Welt
erweitert. Aus diesem Achterkreis ist Rußland nach Verlust wirtschaftlich
wichtiger und dichtbevölkerter Landesteile und nach Auflösung der alten staat-
lichen Ordnung vorübergehend ausgeschieden. Auch Deutschland hat durch
die erzwungene Ablieferung seiner Kriegsflotte, die Auflösung seines stehenden
Heeres, den Verlust seiner Kolonien, die Folgen der Novemberrevolution
und durch die ihm auferlegten unerhört schweren Friedensbedingungen vor-
läufig die Stellung als Großmacht eingebüßt. Trotz allem aber besitzen beide
Staaten in der Größe und dem Reichtum des ihnen verbleibenden Landbesitzes,
in der Größe, und Deutschland namentlich auch in der Art seiner Bevölke-
rung und deren kulturellem Hochstand die Vorbedingungen, um künftig wieder