1. DIE INNEREN MERKMALE DES STAATES 263
richtung eigner Schulen und Kirchen, die Schaffung von Vereinen zur Pflege
ihres Volkstums, kurz alles das gewährt, was man heute gewöhnlich als „kul-
turelle Autonomie“ bezeichnet. Er wird auf diese Weise die Andersgearteten
leichter als loyale Staatsbürger gewinnen. Die kulturelle Autonomie ist nicht zu
verwechseln mit der „Selbstbestimmung der Völker“ auf rein politischem Gebiet.
Selbstbestimmung der Völker. Wie mit dem 19, Jahrhundert
in Zeitalter einsetzt, das das Recht der Selbstbestimmung jedes Einzel-
menschen als oberste Forderung ausspricht, so hat auch das Recht
jeder einzelnen, auch der kleinsten Nation, ihre Geschicke unabhängig
von anderen Einflüssen selbst zu bestimmen, allmählich immer größere
Beachtung und Anerkennung gefunden.
So sind von unseren Gegnern im Weltkriege die Vereinigten Staaten unter
wiederholter Betonung der Absicht, dieses Recht der schwächeren Nationen
zu schützen, in den Weltkrieg eingetreten. Wenn der Leiter der amerikani-
schen Politik, W. Wilson, wie es scheint, es mit dieser Absicht ehrlich meinte,
so kann man ihm den Vorwurf nicht ersparen, daß er über die tatsächlichen
Verhältnisse der Bevölkerungsverteilung namentlich an der deutschen Ostgrenze
nicht genügend orientiert war. Nur so könnte man die unter Wilsons Zustim-
mung durch den Versailler Vertrag verfügten Änderungen an dieser Grenze ver-
stehen. Daß die „Selbstbestimmung der Völker“ für die Politik Englands
und Frankreichs gegebenenfalls keine Hemmungen bedeutet, zeigt der bloße
Hinweis auf die irische und die indische Nation und auf Elsaß-Lothringen, das
Frankreich ohne Entscheid durch Volksabstimmung forderte. Wenn aber der
Angriff Italiens auf Österreich und der Vorstoß Polens gegen die deutsche Ost-
grenze als eine Tat zur „Erlösung“ der unter dem fremden Joche schmachten-
den Stammesbrüder hingestellt wird, so erhellt leicht, daß dies in Wirklichkeit
nur ein Vorwand für erstrebte Gebietserweiterungen war, weil Italiener sowohl
wie Polen auch Ansprüche auf Gebiete erhoben, die gar nicht, zum mindesten
nicht überwiegend von ihren Stammesbrüdern bewohnt sind.
Wenn man aber immerhin jetzt dem Selbstbestimmungsrecht der
Völker einen weiteren Spielraum, ja im politischen Leben eine ent-
scheidende Bedeutung zugestehen will, so wird damit das Verhältnis von
Volk und Staat auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Nicht sollen
sich künftig die Nationen eines Staates dem Staatswohle unterordnen,
sondern umgekehrt soll die Nation bestimmen, welche Größe und Grenzen
ihr Staat haben soll, und wenn sie selbst auf einen eigenen Staat ver-
zichtet, soll sie frei entscheiden, welchem Staate sie angehören will.
Die Verfechter dieses Rechts der Selbstbestimmung der Völker gehen von
der Ansicht aus, daß mit der Durchführung dieses Grundsatzes die wichtigsten
Ursachen. für Reibungen und Zwistigkeiten zwischen den Staaten und damit
also für kriegerische Verwicklungen aus der Welt geschafft seien. Alle sonstigen
Streitfälle aber glaubt man durch ein Schiedsgericht beseitigen zu können.
Daß ein solch idealer Zustand eines ewigen Völkerfriedens auf Grund eines
zu schließenden allgemeinen Völkerbundes wirkliche Aussicht auf Verwirk-
lichung hat, ist nach den politischen Ereignissen der letzten Vergangenheit und
den bisherigen Erfahrungen, die die Welt mit dem von der Entente gegründeten
Völkerbund gemacht hat, zum mindesten zweifelhaft.
Es sprechen dagegen auch wichtige sachliche Gründe: Zunächst ist der
Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker als Grundlage für die Ziehung von
Staatsgrenzen überall da offenbar nicht anwendbar, wo zwei Nationen in so
enger Berührung und Mischung miteinander leben, daß es unmöglich ist, eine
auch nur einigermaßen richtige Sprachgrenze zu ziehen. Das ist in ausgesprochener
Weise z. B. im Osten Deutschlands der Fall, wo sich eine völkische Mischzone