Full text: Allgemeine Gesellschaftslehre

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{1I. Kapitel. 
lust verbunden denkt. Nimmt:z. B. der Arzt A an B eine schmerz- 
hafte Operation vor, welche B von ihm verlangt hat, so weiß zwar A 
im Augenblicke seines Strebens (des „operativen Tuns“), daß B die 
„Schnitte“ unmittelbar vor Beginn des Tuns des A als mit eigener 
Unlust verbunden, trotzdem aber emotional günstig gedacht, 
nämlich als „Mittel“ dafür erwartet hat, daß seine eigene gegenwärtige 
Unlust unter Verbesserung des ihn betreffenden Wertgesamtzustandes 
durch jene „Schnitte“ verloren gehen und Lust gewonnen werden wird. 
Unzutreffend wäre es auch, „Gewalt“ als solche Wirkung zu bestimmen, 
welche sich als adäquate Erfüllung in Beziehung zu einem Streben 
darstellt, in welchem der Strebende jene Wirkung als solche Wirkung 
gedacht hat, die mit Unlust eines Anderen verbunden sein 
wird. Denn ganz abgesehen von dem Umstande, daß ein Strebender 
häufig weiß, daß die adäquate Erfüllung seines Strebens zwar mit Un- 
lust eines Anderen verbunden sein wird, trotzdem aber von dem An- 
deren als „Mittel“ emotional günstig gedacht wurde, gibt es auch genug 
Fälle, in welchen der Strebende weiß, daß ein Anderer die Erfüllung 
dieses Strebens als „nicht mit eigener Unlust verbunden“ denkt, während 
sie in Wahrheit mit seiner Unlust verbunden sein wird. Sagt also z. B. 
der Zahnarzt zum Patienten: „Das Ziehen des Zahnes wird nicht 
schmerzen“ und nimmt, nachdem er beim Patienten Glauben gefunden 
hat, den Eingriff vor, mit dem Wissen, „daß es doch schmerzen wird“, 
so ist er selbstverständlich trotz dieses Wissens kein „Gewalttätiger“, 
weil er eben weiß, daß der Patient unmittelbar vor Beginn des „Zahn- 
ziehens“ die Wirkung nicht ungünstig emotional gedacht hat. Schließ- 
lich kann „Gewalt“ auch nicht bestimmt werden als adäquate Erfüllung 
eines Strebens, welche mit Unlust eines Anderen verbunden 
ist. Denn wenn z. B. A dem B eine Mitteilung macht, die Unlust 
des B erweckt, ohne daß A diese Unlust vorausgesehen hat, so ist A 
selbstverständlich kein Gewalttätiger, wenn ihm nicht in seinem Streben 
das Wissen zugehörte, daß B solche Mitteilung emotional ungünstig 
denke. „Gewalt“ ist also eine Wirkung lediglich als adäquate Erfüllung 
eines Strebens, in welchem auch gewußt wurde, daß ein Anderer jene 
Wirkung emotional ungünstig gedacht hat, und zwar in jenem vor 
Beginn des Gewalt-Strebens letzten Augenblicke, da er 
sie überhaupt dachte, als solche Wirkung gedacht hat, 
durch welche unter Verschlechterung des ihn betreffenden 
Interessengesamtzustandes eigene Lust verloren und eigene 
Unlust gewonnen würde. Sagt also z. B. jemand, der an einer seiner 
Meinung nach unheilbaren Krankheit leidet, zu seiner Pflegerin: „Bitte, 
geben Sie mir eine starke Injektion, damit ich endlich sterben kann“, 
so übt die Pflegerin, wenn sie diese Bitte erfüllt, keine Gewalt gegen 
den Kranken, wenn sie auch weiß, daß der Kranke früher derartige
	        
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