Die Macht.
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diese beiden Worte sprachgeschichtlich enge zusammenhängen. Wird
jedoch gegenüber jemandem der Anspruch erhoben, sich derart zu ver-
halten, wie es der Sitte eines besonderen Menschenkreises entspricht,
so liegt ein „Anspruch auf sittengemäßes Verhalten“ vor,
welchen man gewöhnlich „Konventionalnorm“ („Konventionalregel“)
aennt. Durch einen „Anspruch auf sittengemäßes Verhalten“ kann
aber eine Soll-Lage jeder Art begründet werden, keineswegs ist es also
zutreffend, den „Konventionalnorm“ genannten Anspruch als bloße
„Bitte“ zu bestimmen.
„Sittengemäßes Verhalten“ ist aber keineswegs „sittliches
Verhalten“, „Sitte“ ist nicht „Sittlichkeit“ Einen „Verhalten-
Seelenaugenblick sittlicher Gesinnung“ nennen wir jeden
Verhalten-Seelenaugenblick, in welchem jemandem entweder a) „Un-
lust sittlicher Gesinnu ng“ und der Gedanke zugehört, daß durch
eigenes mögliches Handeln jene Unlust unter Gewinn von „Lust sitt-
licher Gesinnung“ verloren würde, oder b) eine „Lust sittlicher
Gesinnung“ und der Gedanke zugehört, daß durch eigenes Lassen
der Gewinn einer „Unlust sittlicher Gesinnung“ vermieden würde.
Ein „Verhalten-Seelenaugenblick sittlicher Gesinnung“ ist also jeder Ver-
halten-Seelenaugenblick, welcher einen emotionalen Gegensatz zwischen
gegenwärtiger „zuständlicher Bestimmtheit sittlicher Ge-
sinnung“ und gedachter entgegengesetzter „zuständlicher Be-
stimmtheit sittlicher Gesinnung“ umfaßt. Jeden, dem ein „Ver-
halten-Seelenaugenblick sittlicher Gesinnung“ zugehört, nennen wir einen
„Sich mit sittlicher Gesinnung Verhaltenden“, einen „mit
sittlicher Gesinnung Handelnden“ oder einen „mit sittlicher
Gesinnung Lassenden“, Als „Lust sittlicher Gesinnung“ stellt sich
aber jede Lust dar, deren Gegenständliches der ohne Beziehung zu
dem die eigene Seele betreffenden Interessengesamtzustande
Zedachte Sachverhalt ist, daß in der Welt besonderer auf eine
andere Seele bezogener Wert verwirklicht ist; „Lust sitt-
licher Gesinnung“ ist also eine Lust, in deren Gegenständlichem
sich nur auf andere Seele bezogener Wert findet. Hingegen ist „Un-
lust sittlicher Gesinnung“ jede Unlust, deren Gegenständliches der ohne
Beziehung zu dem die eigene Seele betreffenden Inter-
essengesamtzustande gedachte Sachverhalt ist, daß in der
Welt besonderer auf eine andere Seele bezogener Unwert
verwirklicht ist; „Unlust sittlicher Gesinnung“ ist also eine Unlust,
in deren Gegenständlichem sich nur ein auf andere Seele be-
zogener Unwert findet. Es ist völlig unzutreffend, zu meinen, daß der
„Mit sittlicher Gesinnung Handelnde“ — um jetzt nur von der „Hand-
lung mit sittlicher Gesinnung“ zu sprechen — nicht nach „eigener
Lust“ strebe, denn solches Streben gibt es nicht und ist un-
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