Full text: Allgemeine Gesellschaftslehre

376 ru VI. Kapitel, 
heit“ besonderer Art, und es ist wohl allgemein bekannt, zu welch’ tief- 
sinniger Unklarheit bisher die endlosen Streitigkeiten um das Gegebene 
„Pflicht“ geführt haben. Nennt man „Sittlichkeit“ das Erfüllen gött- 
licher Gebote und Verbote, so ist „Pflicht“ (als „sittliche Pflicht“) 
jenes „Sollen“, welches sich darstellt als Betroffenheit von einer Lage, 
kraft welcher wegen unsittlichen Verhaltens göttliche Strafe eintreten 
wird. Daß aber jener, der sich in besonderer Weise verhält, um einer 
Strafe zu entgehen, sich nicht „sittlich“ verhält, haben wir bereits dar- 
gelegt, so daß also auch ein Verhalten, welches sich darstellt als Er- 
füllung eines göttlichen Gebotes, kein „sittliches“ Verhalten ist, es sei denn, 
laß man eben gerade ein Verhalten zur Vermeidung göttlicher Strafe 
ein „sittliches Verhalten“ nennt, was aber unmöglich ist, da jener, der sich 
in besonderer Weise verhält, um irgend eine eigene Bestrafung zu ver- 
meiden, „rein egoistisch“ handelt. Gibt man aber der „Sittlichkeit“ 
die Grundlage der sogenannten „autonomen Normen“, also der Gebote 
und Verbote des eigenen „Gewissens“, so wäre „Pflicht“ eines besonderen 
Menschen jene besondere Lage, kraft welcher ihm wegen seines be- 
sonderen Verhaltens sittliche Reue zugehörig werden wird. Die „nächste 
seelische wirkende Bedingung“ dafür, daß jemandem eine „sittliche Reue“ 
zugehörig wird, gibt stets seine Erfahrung ab, daß er sich in besonderer 
Weise verhalten habe, eine „unmittelbare seelische grundlegende Be- 
dingung“ dafür, daß jemand eine „Sittliche Reue“ gewinnt, gibt aber 
stets solches Seelisches ab, welches man „Gewissen“ nennt. „Gewissen“ 
aber im Sinne von „sittlichem Gewissen“ ist nichts anderes als das Wissen 
darum, daß durch besonderes Verhalten der eine andere Seele be- 
treffende Interessengesamtzustand verbessert bzw. verschlechtert wird, 
so daß also selbstverständlich jenem, dem kein „sittliches Gewissen“ Zzu- 
gehört, weder ein „Verhalten-Seelenaugenblick sittlicher Gesinnung“ 
noch eine „sittliche Reue“ zugehörig werden kann. Ebensowenig aber, 
wie jemandem bloß kraft seines „Gewissens“ ein „Wollen bzw. Wider- 
Wollen sittlicher Gesinnung“ zugehörig wird, er vielmehr auch besondere 
„Unlust bzw. Lust sittlicher Gesinnung“ zugehörig haben muß, um ein 
„Wollen bzw, Wider-Wollen sittlicher Gesinnung“ zu gewinnen, wird 
jemandem bloß kraft seines „Gewissens“ „sittliche Reue“ zugehörig, 
vielmehr nur dann, wenn ihm in besonderem Seelenaugenblicke über- 
dies die Empfänglichkeit für jene besondere Unlust zugehört, als welche 
sich die „sittliche Reue“ darstellt. Deshalb kann jemand ein sehr klares 
„Gewissen“ haben, ohne sich doch jemals „mit sittlicher Gesinnung zu 
verhalten“, weil ihm eben die Empfänglichkeit für „Unlust bzw. Lust 
sittlicher Gesinnung“ fehlt, und es kann jemand ein sehr klares „Ge- 
wissen“ haben, ohne daß ihm jemals trotz seines Wissens, er habe sich 
nicht gemäß seinem „Gewissen“ verhalten, eine „Sittliche Reue“ zu- 
gehörig wird, weil ihm eben die Empfänglichkeit für solche Unlust
	        
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