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"X. Kapitel,
mit ihr keine logische Entwicklung von unklarem Wissen zum klaren
Wissen um die Gegebenen „Staat“ und „Recht“ vorliegt, sondern eher
umgekehrt eine alogische Entwicklung von klarem Wissen zu unklarem
Wissen um die Gegebenen „Staat“ und „Recht“, eine Entwicklung,
deren Triebfeder nichts anderes ist als der Wunsch, die Gegebenheiten
„Staat“ und „Recht“ so lange in künstlich konstruierten „Begriffen“ um-
zudeuten, bis sie jenes „Bild“ ergeben, welches den Forderungen
der Anhänger des „konstitutionellen Liberalismus“ und
der „parlamentarischen Demokratie“ entspricht. So ist es denn
auch leicht begreiflich, daß die schließliche „Lehre von der Ununter-
schiedenheit von Staat und Recht“ aufs engste verbunden ist mit einer
entschlossenen Stellungnahme für die „parlamentarische Demokratie“
und geradezu eine „Apotheose“ dieser Staatsform in sich schließt. Am
Höhe- und Endpunkte der Entwicklung einer Staatsrechtslehre, die
zwar stolze Unabhängigkeit gegenüber dem „finsteren Mittelalter“ der
„Monarchie“ und „Diktatur“ mimt, hingegen aber eine jede wissen-
schaftliche Klarheit verhindernde Abhängigkeit von den fortschreiten-
den Erfolgen der „liberalen“ und „demokratischen“ Bemühungen zeigt,
muß selbstverständlich das Gegebene „Staatsmacht“ verschleiert oder gar
mit einem Unwert-Zeichen versehen in die Hölle des „finsteren Mittel-
alters“ verwiesen werden, an diesem Höhe- und Endpunkte muß ein als
„Rechtsbegriff“ verkleideter „Idealtypus“ der parlamentarischen Demo-
kratie triumphierend zum Himmel der modernen Götzen erhoben werden,
kurz es muß die „Staatsrechtslehre“ aus einer „ancilla“ der „absoluten
Monarchie“ in eine „ancilla“ der „parlamentarischen Demokratie“ um-
gewandelt werden. Ganz selbstverständlich ist es, daß diese Entwick-
lung ohne „böse Absicht“ vor sich geht, daß jene, welche diese Ent-
wicklung gefördert haben, oft gar nicht die Absicht hatten, fortschreiten-
den politischen Bewegungen zu dienen, sondern die reine Wissenschaft
zu „mehren“, daß sich schließlich in jener Entwicklung auch tatsäch-
lich manche „wissenschaftliche Entwicklung“ findet. Wenn wir aber
Entwicklungen, die als „wissenschaftliche“ Entwicklungen betrachtet
werden, prüfen, so steht gar nicht die Absicht, die Gesinnung jener,
welche diese Entwicklung gefördert haben, zur Frage, sondern ledig-
lich der wissenschaftliche Erfolg — und solcher Erfolg hat sich im
ganzen nicht ergeben, vielmehr ist es schließlich — wie heute kaum
mehr geleugnet werden kann — zur Todeskrise der bisherigen Staats-
rechtslehre, dieses Gemenges von „politischen Weltanschauungen“ und
billigen „formal-juristischen Konstruktionen“ gekommen. Die Gegebenen
„Staat“ und „Recht“ aber blieben und bleiben von allen Dichtungen
der „Staatsrechtslehre“ unberührt, sie sind „da“, sie lassen sich zwar
durch Reden „verschleiern“, aber nicht „verändern“ und drängen uns
immer wieder die Frage nach ihrem „Wesen“ auf, solange, bis wir ge-