Full text: Allgemeine Gesellschaftslehre

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IX. Kapitel. 
des eine andere Seele betreffenden Interessengesamtzustandes abgibt. 
Nun gibt es aber zahlreiche Lagen, in welchen jemandes „Sittliches 
Verhalten‘ gegenüber einem Anderen zugleich eine Verschlechterung 
des eine dritte (vierte usw.) Seele betreffenden Interessengesamtzustandes 
nach sich ziehen oder ein besonderes ‚„sittliches Verhalten‘ gegenüber 
einer dritten (vierten usw.) Seele ausschließen würde, In solchen Fällen 
erhebt sich nun die Frage nach der „Gerechtigkeit‘‘, d. h. nach solchem 
besonderen Verhalten, welches trotz eines bestehenden Widerstreites 
zwischen den Interessen mehrerer anderer Seelen ein zugleich gegen- 
über allen jenen Seelen ‚„sittliches Verhalten‘ darstellt. Eine Gerech- 
tigkeits-Wissenschaft‘““ ist also die Wissenschaft von jenen Richtlinien 
dzw. Wider-Richtlinien, durch welche solches Verhalten bestimmt ist, 
das ein gegenüber mehreren Seelen, zwischen welchen ein Interessen- 
Widerstreit obwaltet, „sittliches Verhalten“ darstellt. Die außerordent- 
liche Schwierigkeit, die „Normen“ der „Gerechtigkeit“ zu bestimmen, 
liegt auf der Hand, und es ist auch kein auf solche Bestimmung zielen- 
der Versuch bisher gelungen. Wie nun schon das Wort „Recht“ be- 
sagt, steht es geschichtlich in engem Zusammenhange mit dem Worte 
„Gerechtigkeit‘‘, weshalb auch die in der idealistischen Rechtslehre‘‘ 
auffindbare Gleichung „Recht =Gerechtigkeit‘ verständlich wird. Indes 
hat eben das Wort „Recht‘ doch einen anderen Sinn angenommen 
als das Wort „Gerechtigkeit‘‘, und dieser Sinngegensatz findet auch 
in der Entgegensetzung des „positiven Rechtes‘ und des ‚,Naturrechtes‘“ 
(„Vernunftrechtes‘‘) seinen Ausdruck. Es wäre freilich durchaus mög- 
lich, der lästigen Zweideutigkeit des Wortes „Recht“ („positives Recht‘“ 
und „Gerechtigkeit‘“) dadurch ein Ende zu bereiten, daß man das ‚,po- 
sitives Recht‘ genannte Gegebene mit einem anderen Worte belegt, 
und das Wort „Recht‘“ lediglich im Sinne von „Gerechtigkeit‘“ ge- 
braucht. Da nun aber der Gebrauch des Wortes „Recht“ im Sinne 
von „positives Recht“ heute allgemein eingebürgert ist, empfiehlt es 
sich, das Wort „Recht“ lediglich im Sinne von „positives Recht‘ 
niemals aber im Sinne von „Gerechtigkeit‘“ zu gebrauchen, obwohl 
ursprünglich alles „positive Recht“ als „Gerechtigkeit“ angesehen worden 
sein mag, woraus sich dann die Zweideutigkeit des Wortes „Recht“ er- 
geben hat. Die ‚„idealistische Rechtslehre‘“ ist nun in Wahrheit keine 
Lehre vom Gegebenen „positives Recht‘, sondern eine „Gerechtigkeits- 
lehre‘‘, und der ganze Streit zwischen „positivistischer Rechtslehre‘“ 
und „idealistischer Rechtslehre‘‘ beruht offenbar auf der immer wieder 
übersehenen Tatsache, daß eben zwei verschiedene Gegebene mit 
dem Worte „Recht‘“ belegt werden. Wollen etwa die Anhänger der 
„idealistischen Rechtslehre‘ nur ‚Gerechtigkeit‘ als „Recht“ bezeichnen 
und damit die „positivistische Rechtslehre‘“ aus dem Felde schlagen, 
so ist einzuwenden, daß letzten Endes kein Streit um die wahre Be-
	        
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