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Erkenntnisse gewinnen, die für jeden normalen Menschen oder
weniger biologisch ausgedrückt: für jedes Vernunftwesen Gültigkeit
haben. Inmitten der Buntheit von Glauben und Maximen, von
Werten und Streben will sie einen Bezirk abgrenzen, auf dem
sich alle „finden“ können. Die wissenschaftliche „Wahrheit‘“ soll
ebenso für den Christen wie für den Buddhisten, ebenso {für
den Konservativen wie für den Revolutionär, ebenso für den Mann
wie für die Frau „gelten“. Die Wissenschaft wendet sich an das
— verhältnismäßig kleine — Seelenvermögen, das in allen gesunden
Individuen, in allen Völkern, in allen Rassen dasselbe ist. Um dieses
Ziel zu erreichen, nimmt das wissenschaftliche Erkennen eine Re-
duktion an Sein und Gehalt der Umwelt vor. „Das Seiende. ... (ist) in
eben derselben Seins-Relativität auf das Leben überhaupt so zu er-
kennen und zu denken, daß es in größtmöglicher Vollständigkeit und
Ausscheidung aller prinzipiellen Seins-Relativität auf Individuum,
Rasse, Volk nur mehr auf die menschliche Organisation überhaupt oder
auf das Identische in jedem Menschen seinsrelativ ist.“ (Scheler.)
Mit dem Postulat der Allgemeingültigkeit gegeben ist das Er-
fordernis der Allgemeinübertragbarkeit. Das heißt: die Ergeb-
aisse der wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen völlig objektivier-
bar, loslösbar von der Person des Erkennenden, sein und müssen
„beweisbar‘“, aufzwingbar sein. Die Ausbreitung der wissenschaft-
lichen Erkenntnisse erfolgt also nicht wie bei der Philosophie durch
die Macht der Persönlichkeit, sondern durch die Beweiskraft ihrer
Argumente. Was sich nicht nachprüfen läßt, darf als wissenschaft-
liche Erkenntnis nicht gelten.
Man kann diesen Gedanken — mit Wertbetonung — auch so
fassen: „Aus ihrer Not, ihrem Mangel an Glaubenskraft machte die
neue Zeit ihre Tugend: daß sie nurnoch an Beweisbares und Veri-
fizierbares glaubte und ein nachträgliches Kriterium der Wahrheit
an Stelle des spontanen Fürwahrhaltens setzte.“ (Ed. Landmann.)
Die Allgemeingültigkeit und Allgemeinübertragbarkeit ihrer
Forschungsergebnisse liegt der Wissenschaft so sehr am Herzen, daß
sie darum bereit ist, wie wir noch sehen werden, wenn es nötig ist,
auf den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnisse zu verzichten. Sie muß
sich aber, will sie ihr Ziel erreichen, streng innerhalb der Grenzen