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meist nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten erfüllt.
Aber es gäbe in der Gesellschaft ebensogut „Gesetze“ wie in der
Natur, das heißt also: man könne gesellschaftliche Erscheinungen
ebensogut auf Regeln bringen wie die Naturerscheinungen.
Diese Auffassung hält eine dritte Gruppe!?® von Forschern — ganz
unberechtigterweise, wie ich bemerken will — für falsch. Nach ihrer
Meinung gibt es in der Gesellschaft, also auch in der Wirtschaft,
überhaupt keine „Gesetze“ im Sinne der Naturgeseize. Sie begründen
ihren Standpunkt mit dem Hinweis darauf, daß die gesellschaftlichen
Erscheinungen zu „kompliziert“, daß sie nicht meßbar, nicht be-
rechenbar, nicht beständig seien, oder mit dem Hinweis auf die Frei-
heit des menschlichen Willens. Keine dieser Tatsachen bildet einen
hinreichenden Grund, um die Möglichkeit auszuschließen, Regeln für
menschliches Verhalten aufzustellen.
Die Vertreter der verstehenden Nationalökonomie können nun mit
den beiden Begriffen von Gesetz und Gesetzmäßigkeit, die ich eben
kurz besprochen habe, nichts anfangen: den Gesetzesbegriff der
richtenden Nationalökonomie müssen sie ablehnen; weil er meta-
physisch ist, den der ordnenden Nationalökonomie, weil er. dem
Grundgedanken der verstehenden Nationalökonomie widerspricht; die
eben wirtschaftliche Erscheinungen verstehen und nicht bloß: ordnen
will. Der naturwissenschaftliche ‚;Gesetzes‘“begriff käme ‚für. sie
höchstens als Hilfsmittel des Verstehens in Frage.
Aber liegt in der Richtung des Verstehens nicht doch vielleicht
die Möglichkeit, zu einer echten Gesetzmäßigkeit und zu echten Ge-
setzen zu gelangen, wie sie die richtende Nationalökonomie kannte
und kennt? Mit anderen Worten: gibt es nicht verbindliche Normen,
denen das Wirtschaftsleben untersteht, oder: aus dem Imperativischen
in das Indikative übersetzt: kennt das gesellschaftliche Zusammen-
leben der Menschen nicht doch das Verhältnis der Notwendigkeit
des Seins und Geschehens? Und hat dieser Gedanke nicht doch auch
vielleicht Platz in einer Gesellschaftswissenschaft, das heißt:
können wir ihn seines metaphysischen Gewandes entkleiden? So
stellt sich die Frage nach der Gesetzmäßigkeit (und den Gesetzen)
120 Siehe z. B. karl Diehl, "Thearetische Nationalökonomie, Band I: Einleitung
in die Nationalökonomie. 2. Aufl, rg23.