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In einem anderen Sinne wird der Ausdruck immanente Gesetz-
mäßigkeit von Marx gebraucht, der ihn auch besonders liebt. Er
denkt, wenn er z. B. von den immanenten Gesetzen der kapitalisti-
schen Entwicklung spricht, an einen der Idee des Kapitalismus ge-
mäßen Ablauf der Ereignisse, also von einer Gestaltung der Dinge,
wie sie sich bei völlig rationalem Verhalten der handelnden Personen
argeben würde, weshalb man in diesem Fall von einer rationalen
Entwicklung sprechen könnte.
Noch eine dritte Bedeutung hat der Ausdruck: immanente Gesetz-
mäßigkeit, wenn man dabei an die Entwicklung eines Kulturgebietes
in seinen notwendigen Bestandteilen, das heißt seinen Sinnzusammen-
hängen denkt: die Entwicklung konnte sich nur in bestimmten
Formen auswirken, welches auch immer die (zufälligen) Zweck-
setzungen sein mochten, und diese Formen lassen sich a priori in
eine bestimmte Reihe bringen. In diesem Sinne, in denen der Aus-
druck allein richtig gebraucht wird, bedienen sich seiner z. B. manche
Kunstwissenschaftler, wenn sie der Kunstgeschichte die Aufgabe
stellen: „die immanente Entwicklung des menschlichen Kunst-
wollens‘“ zu erforschen. Nur muß man sich bewußt bleiben, daß man
damit seinen Standpunkt aus der Wirkens- in die Sinnsphäre verlegt,
was damit bestätigt wird, daß der Kunsthistoriker, dem ich das obige
Zitat entnehme, die Ansicht äußert, daß „für diese Aufgabe... die
allzu enge Verbindung mit der Geschichte nicht nur unnütz, sondern
gefährlich geworden‘ ist1%.
Aber es gibt noch einen anderen Begriff, der sinnvoll mit den
Gleichförmigkeiten des sozialen, insonderheit des wirtschaftlichen Ge-
schehens in Verbindung gebracht wird und mittels dessen wir in der
zlücklichen Lage sind, diese wichtige Erscheinung in unser System
ainzuordnen, das ist der Begriff der Tendenz.
Unter Tendenz können wir verstehen: ein in die Zukunft proji-
ziertes Geschehen. Die Tendenz bezeichnet die Richtung, in der sich
das Geschehen vermutlich bewegen wird, wobei als Grundlage des
Urteils die Annahme einer vermutlichen Gestaltung der treibenden
Kräfte und einer vermutlichen Gestaltung der objektiven Bedingungen
136 Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte. 1913. S. 1716.