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der‘ bewußten oder unbewußten Annahme einer bestimmten „Ten-
denz‘“ des Geschehens.
Der Geltungswert der Tendenz kann nicht zweifelhaft sein: sie
hat nicht die Dignität der Notwendigkeit, sondern trägt nur einen
mehr oder weniger hohen Grad von Wahrscheinlichkeit an sich:
es besteht eine größere oder geringere „Chance“, daß die Dinge sich
so gestalten werden, wie man annimmt, Der Grad der Wahrscheinlich-
keit eines der angenommenen Tendenz entsprechenden Ablaufs der Er-
eignisse hängt einerseits ab, wie ich schon sagte, von der richtigen Ein-
schätzung der wißbaren Zustände, andererseits von dem Eintritt oder
Nichteintritt „zufälliger‘““ Ereignisse: die ganze Arbeit der Versiche-
rungsgesellschaften ist zerstört, wenn ein Krieg wie der Weltkrieg und
eine Entwertung der Valuta, wie wir sie erlebt haben, dazwischen-
fährt, wie ein Komet in das Planetensystem..
Die Urteile über Tendenzen kann man fester begründen, wenn man
dort, wo sich Ziffern angeben lassen, den Apparat der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung in seinen Dienst nimmt. Man kann
damit den Begriff der „objektiven Möglichkeit‘“ bilden und sagen,
daß der Eintritt eines Ereignisses diesen oder jenen Grad von Wahr-
scheinlichkeit habe. Daß derartige zahlenmäßige Bestimmungen einer
Tendenz nur in seltenen Fällen möglich sind, leuchtet ein.
Die Zuverlässigkeit des Tendenzurteils hängt in hohem Maße ab
von der Zeitlage. Es gibt Zeiten, in denen sich der Verlauf des Wirt-
schaftslebens leichter als in anderen voraussagen läßt. Von welchen
Umständen das abhängt, soll hier nicht erörtert werden: es führt
hinüber in den Aufgabenkreis der materialen Nationalökonomie.
Uns mag es an dieser Stelle genügen, daß wir in den „Tendenzen“
einen Begriff gefunden haben, mittels dessen wir Erscheinungen der
Wirklichkeit zur Einheit zusammenfassen können, auf die der Be-
griff des Gesetzes ihres empirischen Charakters wegen nicht an-
wendhbar ist.