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und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika verficht der allgemeine
Sprachgebrauch jeden Vertreter der Forderung einer Verstaatlichung der
Eisenbahnen, Forsten und Straßenbahnen als Sozialisten.
Solche verschwommene und unklare Ausdrucksweise führt schließlich dazu,
eine jede einigermaßen weitgehende sozialpolitische Wrsorgematznahme zu
gunsten der weniger bemittelten Volksschichten oder jeden weittragenden
Eingriff des Staates in das Wirtschaftsleben als sozialistisch abzustempeln.
Eine saubere, klare und scharfe Abgrenzung des Begriffs „Sozialismus" tut
daher dringend not. Nur auf dieser Grundlage erschließt sich das Verständnis
für die Forderungen und Bedeutung des Sozialismus und der sozialistischen
Bewegung überhaupt. Denn wie der große Immanuel Kant mit Recht sagt:
„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Da
her ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, d. h. ihnen den
Gegenstand in der Anschauung beizufügen, als seine Anschauungen sich ver
ständlich zu machen, d. h. sie unter Begriffe zu bringen."
Ablehnen müssen wir von vornherein bei Beginn unserer Untersuchungen
den skeptischen Standpunkt des genialen Sozialphilosophen und Ueberwinders
des historischen Materialismus Rudolf Stammler-Berlin, der im Hinblick
auf die ungeheure Verschiedenheit der einzelnen sozialistischen Systeme es für
unmöglich hält, sie alle unter einen Begriff zu bringen. (Wirtschaft und
Recht, 3. Auflage, S. 38 flg.) Scharf zu bekämpfen ist auch die früher selbst
in der deutschen nationalökonomischen zünftigen Wissenschaft (z. B. in Bruno
Hildebrandts berühmten Werke „Nationalökonomie der Gegenwart und Zu
kunft", 1847) lange Zeit hindurch üblich gewesene fatale völlige Gleichstellung
von „sozial" und „sozialistisch". Wie Rudolf Stammler a. a. O. (S. 638 flg.)
nachweist, hat der so vielfach in allen Farben schillernde Begriff „sozial" nicht
weniger als fünffach verschiedene Bedeutung. Zunächst bedeutet er: äußerlich
geregelt. Soziale Reform heißt eine solche der äußeren Regelung des
gesellschaftlichen Lebens der Menschheit, soziale Aufgaben sind Forderungen
nach einer solchen Reform. „Soziales Zusammenleben ist ein äußerlich
geregeltes Zusammenleben gegenüber einem — freilich in aller Geschichte
gum mindesten äußerst problematischen (Zusatz des Verfassers) — äußerlich
ungeregelten." 2. Gesetzmäßig äußerlich geregeltes Zusammenleben.
3. Direkt befehlend durch planmäßige Zentralregelung. Hierüber
wäre z. Z. die gesamte sogen. „Sozialgesetzgebung" des Deutschen
Reiches insbesondere über den Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung zu
rechnen. Diese Regelung bildet den Gegensatz zu einer mehr freiheitlichen,
indirekteren Regelung des menschlichen Gemeinschaftslebens. Die zwei letz
ten Bedeutungen sind: 4. Sozial gegenüber politisch. Hier besagt es soviel
wie: wirtschaftlich, ökonomisch und 5. Sozial für „gesellschaftlichen" Verkehr
rein konventionaler Art im Gegensatz zu rechtlichen Verhältnissen.
Man denke an die übliche Erußform, die Abstattung von Antritts- und Ab
schiedsbesuchen und die unendlich vielen, bis in die minutiösesten Einzelheiten
gehenden Vorschriften der konventionellen Satzung und des „Komments".
Vielleicht ließe sich als sechste Bedeutung des meistens gedankenlos hin
und hergeschleuderten Flickworts „sozial" noch „arbeiter-" oder „volksfreund
lich" anführen. Es liegt nunmehr wohl auf der flachen Hand, daß „so
zialistisch" und „Sozialismus" einerseits und „sozial" und „soziale Bewegung"