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Wir stehen vor der theoretischen Lebensfrage der Reli
gion: wie steht es um ihre Wahrheit? Bei der Auffassung
der Religion als Maskierung von Klasseninteressen ist der
religiösen Welt meines Erachtens jede Realität unweiger
lich genommen. Anders ist es schon, wenn die religiösen
Vorstellungen Widerspieglung ökonomischer Tatsachen und
Gesetze sind. Vor allem Goehre^) hat sich seinerzeit be
müht, .die Verträglichkeit der ökonomischen Geschichtsauf
fassung mit der Religion, mit dem Christentume zu er
weisen, indem er aus dem Marxismus den naturwissen
schaftlichen Materialismus und Empirismus ausschaltete;
in der Tat betonen wohl alle Marxisten außer Kautsky,
daß die ökonomische Geschichtsauffassung keine metaphysi
schen Probleme zu lösen habe, sondern sie sei ein heuristi
sches^) Prinzip, mit dessen Hilfe man der geschichtlichen
Entwicklung auf den Grund kommen könne. Wir wollen
uns aber hier auf die psychologisch-philosophischen Schwie
rigkeiten nicht einlassen. Wir können uns an einigen
anderen Punkten leichter wehren.
Wie steht es denn bei den anderen Teilen des ideologi
schen Überbaus mit der Realität? Sollen Kunst und
Wissenschaft im Zukunftsstaate auch verschwinden, sind sie
auch nur phantastische Gespenster? Denn den Sinn hat
doch im sozialistischen Durchschnittsbewußtsein das Wort
Ideologie erhalten. Der ganze Begriff Ideologie ist eben
in sich verfehlt.
Und ist es denn wahr, daß im Zukunftsstaat, seine
Möglichkeit zugegeben, nichts mehr ist, was eine Dissonanz
im Menschen hervorruft und eine religiöse Widerspiege
lung möglich macht? Sollte der Tod in der Zukunfts
gesellschaft beseitigt oder ihm durch die veränderten ökono
mischen Verhältnisse sein bedrückender Charakter genom-
nien werden können? Blicken wir ferner von der Endzeit
zur Urzeit der Religion! Auch da stimmt die Behaup
tung offenbar nicht: der Mensch soll sein Wesen gespalten
«) Sozialistische Monatshefte 1902.
5 ) ivQiev,[iv finden.