Full text: Russlands Kultur und Volkswirtschaft

miteinander fallen, wenn Rußland den Anschluß an die Jetztzeit gewinnen 
soll? Oder wäre es wirklich denkbar, daß auch hier die Religion Kräfte in 
sich enthält, die es dem russischen Volke ermöglichen, aus dem Eigensten 
heraus Gegenwartswerte zu schaffen? 
Wenn man durch die äußere Form einer Religion zu ihrem inneren Reben 
hindurchdringen will, so gilt es überall, zunächst die Gottesvorstellung zu er 
fassen. Sie ist in der russischen, wie in der griechischen Kirche überhaupt, 
ihrer Art nach näher bestimmt durch den Gegensatz, der dort zwischen einer 
oberen, der geistlichen, und einer unteren, der sichtbaren Welt aufgerichtet 
wird. Das Verhältnis, in das diese beiden Welten zueinander gesetzt sind, 
erinnert an den platonischen Gegensatz zwischen Ideenwelt und Erscheinungs 
welt. Und es erinnert nicht bloß daran: platonischer Schwung und platonische 
Sehnsucht leben tatsächlich in dieser Anschauung der griechischen Kirche fort. 
Das Diesseits der Ort des Rastenden und Drückenden, des Dunkels und 
der Unvollkommenheit, des Streits, des Übels und des Bösen; hoch darüber die 
obere Welt als die Stätte des Friedens, der Ruhe, der Eintracht, des Glanzes, 
der Helle, des Glückes und der Freude. 
Die Vorstellung dieser oberen Welt ist aber für den Russen nicht bloß 
eine Häufung gestaltloser Wünsche, sie wird als Anschauung und damit als 
Wirklichkeit erfaßt in der Form eines lebendig sich aufbauenden Bildes. 
In der höchsten Höhe droben thront Gott als Herrscher in dem Reiche des 
Richts. Um ihn her stehen als seine Diener die Engel in bestimmt festgesetzter 
Rangordnung; in dreimal drei Stufen steigt ihre Reihe durch Engel, Erzengel, 
Herrschaften, Gewalten, Mächte bis zu ihm empor. Es unterliegt keinem 
Zweifel, daß hier das byzantinische Herrscherbild in das Religiöse hinüber 
gewirkt hat. Wie der Kaiser umgeben ist von einer peinlich abgestuften 
Beamtenhierarchie, in deren Zahl und mannigfacher Gliederung seine Größe 
sich spiegelt, so meint man auch Gott sich denken zu müssen. Hier wie dort 
ist die lange Reihe der Zwischenglieder das Mittel, um die Erhabenheit des 
Herrschers und den Abstand von ihm dem Menschen gewissermaßen sinnlich 
fühlbar zu machen. Oft genug haben die Prediger in rednerischer Aus 
schmückung dieses Bild den Gläubigen vor Augen geführt. Wer Gott in Ge 
danken erreichen will, der muß hinausgehen über das Sichtbare, hinaufsteigen 
über die Gestirne, über Engel und über Erzengel; weit über ihnen noch, 
hoch über allem, was er geschaffen hat, dort erst thront Gott. 
Auf diesem Hintergründe empfindet der griechische Christ die Tiefe 
des christlichen Erlösungsgedankens. Jene beiden Welten, die sonst durch 
eine breite Kluft geschieden sind, sind einmal tatsächlich zusammengekommen; 
Himmel und Erde haben sich einmal wirklich berührt. Das war in der Er 
scheinung des Gottmenschen. Nur durch ein Gotteswunder ward hier das Un- 
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