Full text: Russlands Kultur und Volkswirtschaft

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lebnisses, in dem jeder sich als unwürdig Begnadeten empfindet, schafft zunächst 
ein starkes Gefühl für die Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem 
Menschen. Die gewohnten Anreden „Brüderchen“, „Väterchen“ sind nicht 
bloße Redensarten. Die natürliche Gutmütigkeit des Russen ist unter dem 
Einfluß des christlichen Gedankens gesteigert und vertieft. Man würde es 
in Rußland sich übel nehmen, wenn man gegenüber einem menschlichen 
Unglück stumpf bliebe; mag der Betreffende sein, wer er will, auch ein Ver 
brecher. Und man würde es ebenso als unverzeihliche Härte betrachten, wenn 
man die Hand nicht öffnete, um einen Notleidenden zu unterstützen. Es ist in 
allen christlichen Kirchen anerkannt, daß nirgendwo die Wohltätigkeit so frei, 
so als selbstverständliche Pflicht geübt wird wie gerade in Rußland. Hier steht 
der Grundsatz noch ungebrochen in Kraft, den das älteste Christentum aufge 
stellt hat, daß das Almosen gegeben werden müsse ohne Verzug und ohne daß 
der die Gabe Heischende erst auf seine Würdigkeit geprüft wird. Ist er es nicht 
wert, heuchelt er nur eine Not, so trägt er die Verantwortung. Der Christ hat 
nur ohne Besinnen die Pflicht zu erfüllen, die die sich darbietende Gelegenheit 
von ihm fordert: „Nimm das Gute, wirf es ins Meer; sieht es der Eisch nicht, 
so sieht es der Herr.“ 
Der Eindruck, den der Russe im Gottesdienst empfängt, legt aber auch 
seine Haltung gegenüber Gott in bestimmter Richtung fest. Dankbarkeit 
für die empfangene göttliche Gabe ist ein alter schöner Zug des griechischen 
Wesens. Er hat sich vom Griechentum ins griechische Christentum und 
von da ins Russentum vererbt. Vielleicht ist keine christliche Kirche sich 
so stark dessen bewußt, daß das erste Gefühl, das sich Gott gegenüber ziemt, 
Preis und Dank ist. Wenigstens besitzt keine christliche Kirche so viele Gebete, 
die Loblieder auf den großen, auf den herrlichen Gott sind. Diese Dankbarkeit 
setzt sich innerhalb des Werktages um in geduldiges Gottvertrauen. Welt 
und Leben sieht der Russe, wenn er sie außerhalb desGottgedankens betrachtet, 
schwermütig an. Er liebt es geradezu, wie Literatur und Kunst reichlich 
beweisen, das Widrige und Grausige sich vorzustellen, und er findet darin 
nichts, was mit seinem Glauben von vornherein in Widerspruch stünde. Im 
Gegenteil: das Diesseits ist als Geschaffenes, von Gott weit Entferntes notwendig 
unvollkommen, und daß die Welt imArgenliegt, bestätigt ja die Bibel selbst. Aber 
diese trübe Stimmung wird doch niemals so stark, daß dem Russen darüber 
der Glaube an den endlichen Sieg des Guten und der Glaube an die göttliche 
Vorsehung entschwände. Ich erinnere dafür nur an Tolstoi. Wie oft und wie 
ergreifend hat er die unheimliche Macht der Finsternis geschüdert! Aber 
er versäumt niemals — man denke etwa an den gefälschten Kupon —, den 
Satz von der überlegenen, der unwiderstehlichen Gewalt des Guten daneben zu 
stellen. Frißt das Böse und mit ihm das Unglück um sich wie ein verzehrendes
	        
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