Full text: Russlands Kultur und Volkswirtschaft

IV 
Die Russen sind ein wohlbegabtes Volk von ungebrochener Kraft; niemand 
wird einen anderen Eindruck haben, der durch die jetzt neugeordneten Land 
bezirke wandert und die Bauern bei ihrer geschickten Hantierung sieht, der 
wunderbaren Musik in den Kirchen und Konzerten lauscht, die herrlichen 
Sammlungen einheimischer Bildwerke im Museum Alexander III. oder in 
der Tretjakow Galerie betrachtet. Aber die Kräfte dieses großen Volkes 
sind bisher nur wenig zur Entwicklung gelangt. Wohl setzte die Aneignung 
von Elementen der westeuropäischen Kultur schon unmittelbar nach der 
Abschüttlung des Tatarenjoches ein. |JDie Niederwerfung des polnisch 
litauischen Reichs, das Vordringen Peters des Großen zur Ostsee und 
Katharinas II. zum Schwarzen Meere, der Ausbau des Kanalsystems durch 
diese Herrscher und durch Alexander I. machten die Verbindung mit den 
alten europäischen Kulturvölkern enger. Doch löste erst der spät ein 
setzende Eisenbahnbau die Masse der Bevölkerung aus einem naturalwirt 
schaftlich abgeschlossenen Binnenleben, drängte die altüberkommenen Formen 
häuslichen Gewerbfleißes durch eine bedeutende Fabrikindustrie zurück, 
erhob den Warenaustausch zu einem integrierenden Bestandteil der Wirtschaft 
und Rußland zu dem umfangreichsten agrarischen Exportgebiet. Aber auch 
dann verblieb die Bauernschaft, der noch fast neun Zehntel der Gesamtheit 
angehören, in einem Zustande der wirtschaftlichen und geistigen Gebunden- 
j heit. Denn auf der Grundlage der slavischen Großfamilie hatte sich unter 
dem Drucke der Leibeigenschaft und der staatlichen Kopfsteuer das ge 
meinsame Eigentum der Dorfgemeinde an der ganzen Gemarkung in Groß 
rußland und einem Teil von Kleinrußland entwickelt. Die erste große Reform, 
welche die Gesellschafts- und Rechtsordnung dem neuen verkehrsmäßigen 
Zustande der Volkswirtschaft anzupassen unternahm, die Bauernemanzipation 
von 1861, ließ den Agrarkollektivismus der Bauernschaft unberührt, und so 
dauerte bis in die neueste Zeit eine Verfassung fort, welche auf den deutschen 
Ackerfluren schon in den Anfängen unserer Geschichte überwunden war, wenn 
sie dort jemals bestanden hat. Dieser Zustand lähmt die Kräfte des einzelnen 
und gibt den Angehörigen der allzu engen örtlichen Gemeinschaft jenen 
herdenhaften Zug, der uns den russischen Bauer wie einen Menschen des 
Mittelalters erscheinen läßt. Fortschritte im Landbau, im privaten und 
kommunalen Leben der Dorfbewohner konnten nur von außen und von oben 
her kommen, selten vermochte der einzelne kraftvolle Mann seine Genossen 
zu dauernden Verbesserungen zu bewegen. Der lähmende Einfluß jener Ver 
fassung setzte sich durch die Schichten der Gewerbetreibenden fort und be 
gründete die tiefe Kluft, welche im Denken, Fühlen und Wollen die Masse des 
Volkes von den oberen Klassen trennt. Erst die Agrargesetze von 1906 und 
1910 haben der russischen Gesellschaft mit der Herstellung des Privateigentums
	        
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