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indenDorfgemarkungen jenes individualistische Fundament verliehen, auf dem
die europäische Kultur beruht. Durch nichts hat der russische Staat der Gegen
wart so sehr seine schöpferische Kraft betätigt, wie durch die Bnergie, Hin
gabe und Sachkenntnis, mit der diese Reform durchgeführt wird. Nach zwei
Studienreisen kann ich in Übereinstimmung mit Professor Auhagen, der
die russischen Agrarverhältnisse schon vor langer Zeit als landwirtschaftlicher
Sachverständiger für Russisch-Asien zu seinem besonderen Studium erhoben
hat, dem großen Werk im ganzen ein großes Gelingen prophezeien.
Es wäre auch im Widerspruch zu allen geschichtlichen Erfahrungen in
Alt-Europa und in den europäischen Siedlungskolonien, wenn der Gang
ein anderer sein sollte. Der Dandmann, dem ein Stück der Heimat zu aus
schließlicher Verfügung mit dem Recht der Vererbung übertragen ist,
dessen Grundstücke beisammen liegen und durch die Übertragung von
Guts-, Domänen-, Apanageländereien zu selbständigem Besitztum ab
gerundet sind, strengt alsbald seine geistigen und körperlichen Kräfte
an, um solch kostbares Gut zu erhöhter Ergiebigkeit zu bringen und
seinen Nachkommen zu erhalten. Mit dem sozialen Unterbau verändern sich
Struktur und Wesen der Gesellschaft überhaupt. Nun erst entsteht eine von
der Bauernschaft scharf getrennte industrielle Arbeiterklasse, die ihre Arbeit
als üebensberuf und darum mit Hingabe ausübt. Die Reichtümer des russischen
Bodens kommen nun erst zur Hebung; die Industrie findet in der verstärkten
Nachfrage der Bauernschaft eine breitere Basis und wird die auf dem Rande
frei gewordenen Arbeitskräfte voll zu beschäftigen vermögen. Der auch
in den führenden Schichten zu spürende Geist behaglichen Schlendrians
oder schwermütigen Träumens verträgt sich wenig mit der neuen Ordnung;
auf allen Stufen der Gesellschaft werden Straffheit und Initiative heimisch
werden, Tugenden, die bisher nur in der starken staatlichen Zentralisation
einen allgemeinen Entstehungsgrund fanden.
Kann sich die umfassende und tiefgreifende Neugestaltung der Bedin
gungen des gesellschaftlichen Bebens schwerlich ohne Erschütterungen und
Rückschläge abspielen, so steht das Russische Reich doch in den deutlich
sichtbaren Anfängen einer neuen und großen Zeit. Es ist eine Entwick
lung, die sich weit über Rußlands Grenzen hinaus fühlbar machen wird,
und der mit Aufmerksamkeit und sympathischer Anteilnahme zu folgen
wir als Nachbarn besonderen Anlaß haben.
Unsere Studiengesellschaft, 108 Köpfe stark, bestand meistens aus
Richtern und höheren Verwaltungsbeamten. Wir haben die drei historischen
Mittelpunkte des russischen Gesamtstaates Kiew, Moskau und St. Petersburg
mit ihren öffentlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen kennen gelernt,