Sechstes Kapitel.
Die Wahlen zum Deutschen Reichstag in Berlin
und den Vororten.
0 ie Zeitpcriode vom Oktober 1890 bis zum Ende des Jahres 1905
sah drei allgemeine Erneuerungswahlcn für den Deutschen Reichstag:
die Wahlen vom 15. Juni 1893, die Wahlen vom 16. Juni 1898
und die Wahlen vom 16. Juni 1903. Die politischen Konstellationen,
unter denen diese Wahlen vor sich gingen, sind im zweiten Kapitel ge
schildert. Es mag indes hier daran erinnert werden, daß der Wahlkamps
von 1893 unter dem Zeichen des Streites um oder wider die von der
Sozialdemokratie rundweg abgelehnte Caprivische Militärvorlage stand, die Er
höhung der Friedenspräsenzstärke des Leeres als Ausgleich für die Lerab-
setzung der Dienstzeit forderte; daß den Wahlen von 1898 große Flotten
bewilligungen und die Besetzung der Kiautschou-Bucht vorausgegangen
waren, während die Wahlen von 1903 die Antwort auf die Stellung der
Parteien zum neuen Zolltarif zu geben hatten, den die klerikal-
konservativ-nationalliberale Koalition unter Vergewaltigung der Geschäfts
ordnung des Reichstags im Dezember 1902 gegen die Obstruktion der
Sozialdemokratie zur Annahme gebracht hatte. Dazu kamen in der inneren
Politik jedesmal Fragen des Koalitionsrechts der Arbeiter, des Arbeiter
schutzes und der allgemeinen politischen Gesetzgebung.
Von Beschreibung der Versammlungen, die in Berlin und, wo es
nur irgend möglich war, in den Vororten bei Gelegenheit dieser Wahlen
von seiten der Sozialdemokratie abgehalten wurden, kann hier abgesehen
werden, ebenso von Schilderung der großen Wahlarbeit, die in Gestalt von
Flugblätterverbreitung, Lausagitation, Organisation und Besorgung des
Schlepperdienstcs am Wahltage jedesmal geleistet wurde. Prinzipiell ist
cs immer dasselbe Bild bewunderungswürdiger Opferwilligkeit und Tatkraft,
welches sich dabei darbietet. Nur wächst von Jahr zu Jahr die Zahl der
freiwilligen Lelfer, und die Organisation des Wahlkampfs wird immer
systematischer betrieben. Die im dritten Kapitel geschilderte Gliederung der
Organisationen bewährt sich aufs trefflichste, der Wahlkampf findet die
Partei jedesmal in der Lauptsache schon „schlachtbcrcit". Die Konstellation
der Parteien ist durchgängig die gleiche: in Berlin hat dort, wo die
Wahlkreise nicht schon Besitz der Sozialdemokratie sind, diese mit den
Freisinnigen um die Mandate zu ringen, in den zwei Vorortswahlkreisen
sind die Konservativen die stärksten Gegner. Die Bollwerke der letzteren sind