Full text: Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905

..<Sr 
— 40 - 
Zu mehr konnten sich die Lerren vom Zentrum und Freisinn jedoch 
nicht verstehen. Anträge der Sozialdemokratie, das Koalitionsrecht dev 
Arbeiter, von dem erwiesen war, daß es nur erst ganz unzulänglich bestand, 
nun auch sicherzustellen, wurden am 1. Dezember 1899 unter Mitwirkung 
derselben Parteien abgelehnt, die mit der Sozialdemokratie die Regierungs 
vorlage verworfen hatten. Dagegen nahm der Reichstag fünf Tage 
darauf in letzter Lesung das schon oben erwähnte „Not-Vereinsgeseh" an, 
das "für ganz Deutschland alle Bestimmungen aufhob, die politischen 
Vereinen verboten, untereinander in Verbindung zu treten. Damit war 
wenigstens den Gewerkschaften eine größere Bewegungsfreiheit ermöglicht, 
als ihnen bis dahin zustand. 
Was die Agitation der Arbeiterschaft gegen die Regierungsvorlage 
ungemein stärkte und der sozialdemokratischen Propaganda überhaupt 
großen Nachdruck verlieh, war das im Februar 1899 ergangene Lirteil im 
Prozeß gegen neun Maurer in Löbtau, die, von einem Richtschmaus 
komniend, auf einem Ban im Streit mit dem Bauherrn, der ihnen den 
Zutritt verwehren wollte, Gewalttätigkeiten verübt hatten. Sieben von 
ihnen waren zu durchschnittlich acht Jahren Zuchthaus, zwei zu je 
vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wenn je, so war in diesem 
Erkenntnis des Dresdener Schwurgerichts, vor dem die Sache verhandelt 
war, der Ausdruck Klassenjustiz am Platze. Denn wenn die Arbeiter 
sich auch straffällig gemacht hatten, so rechtfertigte doch nichts eine Ver 
urteilung, die über das Maß der Bestrafung gewöhnlicher Raufereien 
hinausging. Die Maurer hatten den Bauherrn, der auf sie aus einem 
allerdings blind geladenen Revolver geschossen hatte, so geschlagen, daß er 
mehrere Tage das Bett hüten mußte, aber weder ihm noch sonst jemand 
war ein ernsthaftes Übel zugefügt worden. Wenn trotzdem jene furcht 
baren Strafen verfügt wurden, so stand das in so schreienden, Wider 
spruch zu dem Verhalten der Gerichte, wo vornehme Raufbolde in Betracht 
kommen, daß der Spruch überall, wo Arbeiter zu denken angefangen hatten, 
die tiefste Entrüstung Hervorrufen und die Gemüter mehr als je für den 
politischen und gewerkschaftlichen Kainpf anstacheln mußte. 
Das hatte aber um so mehr zu bedeuten, als unter dem Einfluß der 
Eaprivischen Handelsverträge die Entwickelung Deutschlands zum Industrie 
staat gerade in dieser Zeit Riesenfortschritte machte. Zwischen 1882 und 1895 
hatte die landwirtschaftliche Bevölkerung Deutschlands um 700 000 Köpfe 
abgenommen, die industrielle um 4 200 000 Köpfe sich vermehrt, in der 
Industrie aber entfiel der Zuwachs auf die Arbeiterklasse, die mit ihren 
Angehörigen von 8,7 Millionen auf 12,9 Millionen Köpfe gestiegen war. 
Lind dieser Entwickelungsgang, der sich ähnlich, wenn auch nicht in gleicher 
Schroffheit, im Lande! und Verkehr vollzogen hatte, — von einer Gesamt 
zunahme um 1 400 000 entfiel eine Million auf die Arbeiter dieser Berufs 
gruppen — nahm unausgesetzt in der gleichen Richtung seinen Weg. Die 
Industrieorte wuchsen mit einer Schnelligkeit, die vielfach an amerikanische 
Vorgänge erinnert, und die Arbeiterschaft nahm einen immer breiteren 
Raum in der Öffentlichkeit ein. Die Arbeitseinstellungen nahmen an Zahl 
und Ausdehnung zu, und öfter als früher fanden die Arbeiter bei ihren 
Kämpfen bürgerliche Elemente auf ihrer Seite, wofür ein besonders bekannt 
gewordenes Beispiel die Unterstützung der Hafenarbeiter Hamburgs bei
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.