sich zu einer Macht auswuchsen, die einer an sich vorhandenen
Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft mit Erfolg zu Leibe zu
gehen imstande war. Wir wissen aus der Erfahrung nichts anderes,
als dass der einzelne Unternehmer stets bestrebt ist, seine Arbeiter
möglichst niedrig zu entlohnen, da nach seiner Vorstellung jede
Mark Lohnersparnis für ihn ein wirtschaftlicher Vorteil ist, und nur
wegen dieses Vorteils betreibt er sein Unternehmen. So erscheint
ihm jede abgezwungene Lohnerhöhung als eine geschäftliche
Niederlage, jede Lohnsenkung, die er durchsetzen kann, als ein
wirtschaftlicher Sieg. Man ist so sehr gewöhnt, in der Lohnhöhe
nur ein Objekt der sozialen Machtkämpfe zu sehen, dass dahinter
die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Frage ziemlich ver-
borgen blieb.
Der wirtschaftliche Vorsprung der Vereinigten Staaten rührt nicht
zuletzt daher, dass die Bedeutung des Lohnfaktors für die Gesamt-
wirtschaft erkannt und gewürdigt wird. Nicht nur die Tatsache des
höheren Lohnniveaus, sondern mehr noch die weite Verbreitung der
Erkenntnis, dass von der Lohnhöhe die Blüte der Wirtschaft ab-
hängt — eine Auffassung, zu der sich selbst massgebende Unter-
nehmerorgane unumwunden bekennen —, muss auf den deutschen
Gewerkschafter geradezu wie eine neue Offenbarung zwar nicht
der volkswirtschaftlichen Vernunft, aber der kapitalistischen Wirt-
schaftsführung wirken. Dabei hiesse es Ursache und Wirkung ver-
wechseln, wollte man in dem höheren Reallohn einfach nur das
Ergebnis eines grösseren Wirtschaftsertrages sehen. Umgekehrt
ist es richtig. Aus mancherlei Gründen, die mit der kolonialen Ent-
wicklung des Landes zusammenhängen, war erst der Zwang zu
hohen Löhnen da, und dieser Zwang erwies sich dann als unwider-
stehliche Kraft zur Rationalisierung und Ertragsteigerung der
Wirtschaft.
Hier liegt nach unserer Meinung die wichtigste Lehre, die für die
deutsche Wirtschaft aus dem amerikanischen Beispiel zu ziehen ist,
gilt doch in Deutschland, seit dem Zusammenbruch mehr noch als
immer schon, als der volkswirtschaftlichen Weisheit letzter Schluss,
dass das Volk und besonders die arbeitenden Massen die Tugenden
des höchsten Fleisses und der sparsamsten Lebensführung mit-
einander vereinen müssten, um die Wirtschaft vorwärtszubringen.
Viel produzieren und wenig verbrauchen, niedriger Lohn und lange
Arbeitszeit, so lautete und lautet immer noch das Generalrezept
gegen die Krankheit der deutschen Wirtschaft. Wohin wir damit
gekommen sind und unweigerlich kommen mussten, offenbart mit
erschreckender Deutlichkeit die gegenwärtige Krise. Der Pro-
duktionsapparat ist mit einer Schnelligkeit wiederaufgebaut worden,
die nur zu erklären ist aus den gewiss nicht freiwillig gebrachten
Opfern in der Lebenshaltung der breiten Massen. Aber nun zeigt
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