Full text: Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer

Il. Die Eigenart des gesellschaftlichen Aufbaues 
1. Geschichtliche Besonderheiten, 
Ds gesellschaftliche Gebilde der nordamerikanischen Union 
hat in seiner heutigen Gestalt, wie in der Eigenart seiner Ent- 
stehung, weder einen Vorgänger in der Geschichte noch ein Seiten- 
stück in der Gegenwart. Aus einer Vielheit von Nationen alter 
europäischer Kultur entstand in drei Jahrhunderten ein neues 
Volk, das in Gesinnung, Bildung, Geistesrichtung und äusseren 
Gepflogenheiten deutlich und wahrscheinlich noch auf unabseh- 
bare lange Zeit die Spuren seiner Herkunft und vornehmlich die 
Einflüsse des alten Englands aufweist. Englisch ist der Geist der 
Schule und das Schrifttum, an dem die Jugend herangebildet wird, 
englisch ist die diktatorische Macht der öffentlichen Meinung und 
die demokratische Form und der freie Ton im Verkehr der 
Menschen und der Gesellschaftsschichten untereinander; englisch 
sind ihrer Wesensart nach die Formen der Rechtspflege, zahlreiche 
Institutionen des öffentlichen Lebens, und nicht zuletzt zeigt auch 
die. Arbeiterbewegung trotz stark ausgeprägter Eigenart sinn- 
fällige angelsächsische Gemeinsamkeiten. 
Indessen ist, trotz aller geistigen und äusserlichen Erbstücke 
aus der Alten Welt, der soziale Körper des Landes in wesentlichen 
Dingen andersartig. Die wirtschaftlich-soziale Lebensform ist 
— wie in Europa — der Kapitalismus. Aber dort drüben lebt er 
ohne die hemmenden und verschleiernden Reste aus vorkapitalisti- 
schen Wirtschafts- und Gesellschaftszuständen, die heute noch 
in Europa zu finden sind. Sowohl die untere wie die obere Klasse 
jener amerikanischen, rein kapitalistischen, Gesellschaft ist anderer 
Art. Der ersteren fehlt die generationenlange Vergangenheit eines 
feudalen Hörigkeitsverhältnisses, die nicht selten bei uns ‚die 
Unterdrückten selber an den Glauben gewöhnte, für alle Zeit zum 
Dienen bestimmt zu sein. Die Einwanderer, die während dreier 
Jahrhunderte das Land bevölkerten, brachten mit sich den 
starken freien Willen, sich ihre Zukunft — eine freiere und mate- 
riell reichere Zukunft — selbst zu gestalten, ein Umstand, der in 
der bundesstaatlichen Verfassung, der Stellung der Menschen zum 
Staate, den öffentlichen Finrichtungen und, heute noch, in tausend 
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