Heutzutage spricht im gleichen Italien das italienische Staatsoberhaupt von
dem verwesten Leichnam der Freiheit und vom Ende der Demokratie, wieder-
holt und übertreibt die Reden, die wir an Wilhelm IT. getadelt hatten.
In unserer Jugend standen wir zwei Auffassungen von Freiheit gegenüber :
der britischen und der französischen. Für England war die Freiheit mehr
eine selbstverständliche historische Tatsache als eine politische Anschauung.
Die Engländer haben unabhängig von jeder theoretischen Formulierung
Schritt für Schritt ihre öffentlichen und persönlichen Freiheiten erkämpft.
Für die Franzosen war die Freiheit eine Idee der Vernunft, eine Bejahung:
von Prinzipien unabhängig von geschichtlichen Tatsachen, die Selbstbehaup-
tung der ihrer Fesseln befreiten menschlichen Persönlichkeit. Diese beiden
Auffassungen hatten sich in unserem Geiste zu einer Synthese vereinigt, und
die Gewöhnung der Freiheit lehrte uns, das heilige Erbe eines jahrhunderte-
langen Ringens um die Emanzipation für unantastbar zu halten.
Schon vor der Verkündung der Menschenrechte in Frankreich war die Pro-
klamierung der Verfassung der Vereinigten Staaten Amerikas am 17. Sep-
tember 1787 das größte Ereignis der modernen Geschichte gewesen. Zu
einer Zeit, wo fast überall absolute Monarchien bestanden, stellte jene Staats-
verfassung einen bewundernswerten Ausgleich von praktischer Weisheit und
Idealismus dar ; sie hatte das Prinzip des Selfgovernment durchgesetzt und
zur Grundlage einer großen Republik gemacht. Es war die erste große Repu-
blik der modernen Welt. Sie sollte später durch das Vorbild ihrer Größe die
herrschende monarchistische Gesinnung erschüttern und die Monarchie, deren
historische Funktion noch nicht beendet ist, einem fast republikanischen
System zutreiben wie in Großbritannien. Vor den Völkern mit starkem Kultur-
bewußtsein, welche eine beträchtliche Entwicklungsstufe erreicht haben, steht
schon seit einigen Jahrhunderten deutlich das grundlegende Problem der
Freiheit.
Kann eine fortgeschrittene Gesellschaft dulden, daß eine Dynastie oder
eine kleine politische Partei, gegründet auf eine organisierte Macht, die so-
zialen Kräfte fesselt, oder ist es im Interesse der Gemeinschaft wünschens-
werter, daß jede Gesellschaft sich selbst organisiere, je nach ihren Bedürf-
nissen und ihren Tendenzen ?
War die autokratische Gesinnung am Ende der feudalen Zeit möglich, als
das Bedürfnis nach einem mächtigen Staat stärker empfunden wurde, so ist
sie um so absurder in einer Gesellschaft, wo große soziale Kapitals- und
Arbeitskräfte, große industrielle Verbände und große Presse-Organisationen,
die vielfachsten Gedanken- und Lebensströmungen bestehen. Die dynastische
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