Der Ideengehalt der Weltwirtschaftskonferenz. 105
IV. Die Idee der Rationalisierung
gehört zu den wenigen neuen ‚;wirtschaftspolitischen Gedanken,
die die Nachkriegszeit hervorgebracht hat. Sie ist zur großen
Mode unserer Tage geworden, sowohl in der wissenschaftlichen
Literatur, wie auch in der praktischen Anwendung. Ähnlich den
meisten volkswirtschaftlichen Idealen ist die Rationalisierung ein
Kind der Not. Aus der Knappheit an menschlichen Arbeitskräf-
ten im vorkriegszeitlichen Amerika geboren, ist sie im Nachkriegs-
europa aus der Armut an Kapitalien und Naturkräften hervorgegangen.
Diese Verschiedenheit des Ursprungs hat schon zu vielen Mißverstän-
den Anlaß gegeben und auch zu manchen Widerständen der Rationali-
sierung gegenüber geführt.
Man hat vor allem geglaubt, die Nutzanwendung amerikanischer
Wirtschaftsmethoden ablehnen zu müssen, da der Bedarf an Menschen
in der rationalisierten Produktion kleiner wird und der haushälterische
Umgang mit Arbeitskräften die Riesenarmee unbeschäftigter Arbeiter
anwachsen lassen werde. Man hat ferner die Unmöglichkeit amerika-
nischer Massenproduktion mit dem Mangel eines entsprechenden, Wirt-
schaftsgebietes, eines genügend großen Innenmarktes zu begründen ge-
sucht. Man hat endlich in der Standardisierung der Produktion eine
Gefahr für die Individualität und dadurch für die Entwicklung der
guropäischen Zivilisation erblickt.
Die Untersuchungen, die anläßlich der Weltwirtschaftskonferenz an-
gestellt wurden, haben erwiesen, daß zu solchen pessimistischen Auf-
fassungen kein Anlaß vorliegt. Daß eine wirksame Rationalisierung
vorübergehend Arbeitslosigkeit bewirken kann, soll nicht geleugnet
werden. In dem Maße aber, in dem durch die rationellere Organi-
sation die Möglichkeit zu einer fühlbaren und dauerhaften Senkung der
Preise und damit zur Steigerung der Kaufkraft im Inlande und des
Warenexportes ins Ausland gegeben ist, erscheint wieder die Neuein-
stellung von Arbeitern geboten. Eine zielbewußt durchgeführte Ratio-
nalisierung bietet die beste Gewähr für die Stabilisierung des Arbei-
terstandes. Ein großer amerikanischer Industriebetrieb hat durch der-
artige Maßnahmen erreicht, daß der Wechsel in seinem Arbeiterstand
im Jahre nicht ganz ein Prozent betrug, eine Ziffer, die der Sterblich-
keitsquote fast gleichkommt.
Auch die Schwierigkeit amerikanischer Massenproduktion in der
Enge europäischer Wirtschaftsgebiete soll nicht verkannt werden. Aber
„rationalisieren‘ heißt „vernunftmäßig handeln‘, und dieses gebietet,
die isolierten europäischen Märkte durch Abbau der sinnlos erhöhten
Zollschranken zu einem großen Absatzgebiet zu erweitern. Die Ent-
wicklung nach dieser Richtung hat, trotz aller Hindernisse und Schi
ete souvent employ6e ä& la Conference, il n’a pas 6t6, question du libre-&change; ce que
Von s’est efforce d’obtenir, ou d’encourager, ce fut un ‚meilleur echange‘.“ Journal de
la 8me session. Geneve 1927. September 1918. S. 205.