Das mitteleuropäische Wirtschaftsproblem vor der Weltwirtschaftskonferenz. 131
6. Abschnitt.
Das mitteleuropäische Wirtschaftsproblem
vor der Weltwirtschaftskonferenz.)
{. Die allgemeine Wirtschaftslage in Mitteleuropa.
Die tiefstgreifenden Proportionsverschiebungen und Neubildungen im
Wirtschaftsgefüge haben sich in dem Teile Europas vollzogen, der vor
dem Kriege zu den einheitlichsten und bestorganisierten Wirtschaftsge-
bieten der Welt gehörte, ;
Mitteleuropa, das vor dem Kriege infolge der zahllosen sichtbaren und
unsichtbaren Verknüpfungen des wirtschaftlichen Lebens, infolge seines
Eisenbahnnetzes, seiner Wasserwege, seiner Handelsverträge, seiner
Kreditorganisation, seiner Energiewirtschaft einen einheitlichen Wirt-
schaftskörper darstellte, ist nach dem Kriege zu einem bloßen geo-
graphischen Begriff herabgesunken: einem geographischen Begriff zur
Bezeichnung von sieben selbständigen Staaten, die sich wirtschaftlich
fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Die Gemeinsamkeit und
die Einheitlichkeit der mitteleuropäischen Wirtschaft kommt in der
Nachkriegszeit in dem dauernden Krisenzustand zum Ausdruck,
der alle Länder Mitteleuropas gleichzeitig erfaßt.
An die Wiederherstellung der früheren politischen Ordnung in Mittel-
europa denkt kein vernünftiger Mensch. Jeder vernünftige Mensch
jedoch muß sich angesichts der heutigen Lage fragen, ob es richtig war,
die große Wirtschaftsgemeinschaft, die durch die Tradition von Ge-
nerationen und durch mächtige Naturkräfte zusammengeschweißt war,
mittels Machtspruches einfach zu sprengen. Als politisches Gebilde war
die österreichisch-ungarische Monarchie den in ihr lebenden Nationen
nichts weniger als populär, allein dies konnte keinen ausreichenden
1) Das mitteleuropäische Wirtschaftsproblem bildete keinen besonderen Gegenstand
der Verhandlungen. Es wurde aber von mehreren hervorragenden Konferenzteil-
nehmern (Zimmermann, Layton, Loucheur) angeschnitten und dabei auf Mitteleuropa
als den Hauptsitz der wirtschaftlichen Übel hingewiesen. Im Vordergrunde der über
die mitteleuropäische Frage einsetzenden Diskussion stand die Denkschrift des Ver-
fassers „über die wirtschaftlichen Probleme Mitteleuropas‘, die im Auftrage der
Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung in Wien ausgearbeitet wurde, und im Verlage der
Wirtschaftstagung erschienen ist. Von der überaus reichhaltigen, zum Teil polemischen
Literatur, zu der die Denkschrift Anlaß gab, seien hervorgehoben: „Mitteleuropa und
die Weltwirtschaftskonferenz‘“, Frankf, Zig. vom 10. Mai 1927, 1. Mgbl.; „Mitteleuropa“,
Voss, Ztg. vom 4., 7. und 16. Mai 1927; Pester Lloyd „Mitteleuropäischer Anschluß“
vom 1.Juni und 28. August 1927; Leipziger Neueste Nachrichten „Mitteleuropa‘“ vom
4. August 1927; Le Temps „La Conference et l’Europe centrale‘“ vom 16. April und
5. Mai 1927; Le Figaro „La Conference &conomique‘“ vom 1.Mai 1927; L’£conomiste
Francais „Sur la Conference &conomique internationale“ vom 14. Mai 1927; The
Christian Science Monitor „Succession States Memo‘ vom 2.Mai 1927; Deutscher
Außenhandel vom. 25. Sept. 1927 „Die wirtschaftlichen Probleme Mitteleuronas‘‘.