184 6. Abschnitt. II
europa‘ eine Erweiterung erfährt und das mitteleuropäische: Wirt-
schaftsgebiet eine Vergrößerung findet. Umspannte das mitteleuropäi-
sche Wirtschaftsgebiet vormals nur das Deutsche Reich und das ehe-
malige Österreich-Ungarn, so dehnt es sich heute nach Osten und Süden
aus und umfaßt wesentliche Bestandteile des früheren Balkans. Jugo-
slawien, Rumänien und Polen, die in der mitteleuropäischen Wirt-
schaftspolitik der Vorkriegszeit kein Wort mitzusprechen hatten, er-
heben mit Recht Anspruch, in die mitteleuropäische Interessensphäre
eingeschaltet zu werden. Weite, reiche Gebiete Österreichs und Ungarns
sind ihnen überantwortet worden und haben Veranlassung zu einer
Neuorientierung dieser Staaten nach dem Westen gegeben. Am Rande
Mitteleuropas vindizieren. Polen und Rumänien die Rolle der
dauernden Grenzfesten Mitteleuropas gegen Osteuropa, gegen das bol-
schewistische Staats- und Wirtschaftssystem Rußlands. Die Republik
Polen hat das volkswirtschaftliche Programm des Obersten polnischen
Nationalkomitees, das nach Niederwerfung Rußlands Polen politisch
mit Galizien zu vereinigen wünschte, in seinen Grundlinien aufrecht
erhalten. „Abtrennung vom wirtschaftlichen System Osteuropas, Zu-
sammenschluß mit Mitteleuropa nach außen, Stärkung und Verbesse-
rung der Wechselbeziehungen Polens zum übrigen Mitteleuropa im
Rahmen der übereinstimmenden beiderseitigen Interessen, also unter
dem überragenden Gesichtspunkt der gemeinsamen großen Interessen.“
Diese Bauformel, die sich an das moderne Konzentrierungsgesetz in der
Volkswirtschaft anpaßt, wird auch von den weitblickenden Politikern
des neuen Polens vertreten. Die Sehnsucht Rumäniens nach Mittel-
europa ist nicht geringer. In Rumänien ist der Wille vorhanden, west-
lich zu sein, die Kultur großer siebenbürgischer Städte, wesentliche
Teile des früheren ungarischen Banats, die Bukowina sowie die ge-
waltige Wasserstraße der Donau können den wirtschaftlichen An-
schluß Rumäniens bedeutend fördern. Die Angliederung Jugosla-
wiens an Mitteleuropa ist durch den Umstand bestimmt, daß die Ge-
bietsfläche, die das S.H.S.-Königreich von der alten Monarchie über-
nommen hat, nahezu zwei Drittel seines Gesamtgebietes ausmacht,
und daß dieser mitteleuropäische Teil in Bezug auf kulturelle und wirt-
schaftliche Entwicklung die ehemaligen Balkanterritorien weit hinter
sich 1äßt 1).
1) Die Zugehörigkeit Bulgariens und der Schweiz zum mitteleuropäischen Block ist
erwägenswert, Für Bulgarien spricht seine Lage im Donaubecken, gegen seine Ein-
beziehung, daß ‚es nichts vom früheren M’tteleuropa besitzt und auch nicht über die
gleichen wirtschaftlichen Einrichtungen verfügt. Dagegen wird die Sch weiz wirtschafts-
und verkehrspolitisch an das frühere Mitteleuropa eng angeschlossen, Heute sucht sie
eher die westliche Orientierung. „Merkwürdigerweise‘“ — schreibt Gothein — „ist
selbst in der von allen Seiten durch mehr oder minder hohe Zollmauern ihrer vier
Nachbarstaaten eingeschlossenen Schweiz trotz ihrer überaus starken industriellen Ent-
wicklung das Bedürfnis nach einem mitteleuropäischen Zollbündnis keineswegs lebhaft.“
(Gothein, „Ist eine paneuropäische Zollunion durchführbar?“ Sonderdruck der Deut-
schen Liga für Völkerbund. S.16.)