Weltwirtschaft und Weltwirtschaftskonferenz, 23
Ein wichtiges Glied in‘ der Kette der neuen weltwirtschaftlichen Or-
ganisation ist die Gründung des internationalen Stahlkartells!). Die
Aufgabe dieses Abkommens ist die Regelung der durch Überproduktion,
Inflation und Friedensverträge zerrütteten Preis- und Absatzverhält-
nisse auf dem Weltmarkte. Das Stahlkartell hofft dieses Ziel zunächst
mit einem bloßen Produktionskartell erreichen zu können. Die zuge-
lassene Produktionsmenge wird unter den Werken der Mitgliedsstaaten
aufgeteilt, die weitere Verteilung des zuerkannten Kontingents zwi-
schen den Inlandsproduzenten bleibt häusliche Angelegenheit der be-
treffenden Länder, Die Statuten des Stahlkartells enthalten keine Ver-
fügung über Verkaufspreis oder Markt. Jedes Werk ist berechtigt, falls
nur keine bindenden inländischen Vereinbarungen bestehen, zu ver-
kaufen, wo es will und wie es kann. Das Kontingent wird dreimonat-
lich festgestellt und jedes Land ist verpflichtet, nach jeder Tonne der
Überproduktion 4 Dollar Entschädigung zu entrichten, während für jede
rückständige Tonne, wenn die Überproduktion 10% des Kontingents
nicht übersteigt, 2 Dollar Buße vergütet werden. Aber das Maß die-
ser Rückvergütung wird stufenweise herabgesetzt und hört gänzlich
auf, wenn sich ständige Produktionsrückstände ergeben sollten, um
nicht die geringere Produktionsfähigkeit auf Kosten der Gesamtheit
einer Unterstützung teilhaft werden zu lassen. Lohn und Strafe sind
die beiden Hebel, mit denen das Kartell das Angebot auf dem Welt-
markte im Gleichgewicht hält. Es ist wohl nicht ausgeschlossen, daß
seitens eines oder des anderen Produktionsgebietes der Preisdruck
weiter gesteigert wird, dadurch wird jedoch nur die Verwirklichung
der zweiten Etappe, jenes des Preiskartells, beschleunigt. Nachdem fast
sämtliche kontinentalen Länder Europas sich dem Kartell, das anfangs
in viel engeren Grenzen geplant war, angeschlossen haben, befaßt man
sich gegenwärtig mit dem Plan, die festländischen Preise bis zur Höhe
der englischen Selbstkosten zu heben und auf diese Weise den An-
schluß der englischen Industrie zu ermöglichen. Der Anschluß Englands
und der Abschluß eines internationalen Kohlenkartells wird dem Stahl-
und Eisenkartell erst seine wahre weltwirtschafftliche Bedeutung ver-
leihen.
Das Eisenkartell ist der erste großzügige Versuch, die Produktion,
die Industrie Europas auf privatwirtschaftlicher Grundlage zu organi-
sieren. In anderen Industrien sind ähnliche, wenn auch nicht so groß-
zügige Vereinbarungen mit ähnlichen Zielsetzungen teilweise zustande
gekommen, teilweise im Entstehen begriffen ?). Alle verdanken sie ihr
Zustandekommen der wirtschaftlichen Depression Europas und sind
auch geeignet, den überspannten Wetthewerb zu unterbinden. Auf wirt-
1) Die anhaltende industrielle Depression führte zum internationalen Abkommen der
Stahlproduzenten von Frankreich, Belgien, Deutschland und Luxemburg, das in Brüssel
am 30. September 1926 abgeschlossen wurde, und dem später die Industriellen Öster-
reichs, Ungarns und der Tschechoslowakei beitraten.
2) Siehe umseitig.