ANHANG I
EIN BRIEF AUS KANTON
Ich benutze die Gelegenheit, um die Ereignisse zu schildern, deren Zeuge
ich war. Aus meinen Telegrammen — vorausgesetzt, daß sie Euch erreicht
haben — und aus der ausländischen Presse werdet Ihr wahrscheinlich schon
eine Vorstellung von dem erhaiten haben, was sich in Kanton am 14, und
15, April abgespielt hat, Da ich aber nicht die Gewißheit habe, daß Ihr
meine Telegramme erhalten habt, und da mein über die portugiesische
Kolonie Makao gesandtes Telegramm das englische Kabel passieren muß und
vielleicht aufgehalten oder entstellt ist, nehme ich wie gesagt, die Gelegen-
heit war, um mehr oder weniger ausführlich die Ereignisse in Kanton und
die gegenwärtige Lage zu schildern,
Kanton war bekanntlich mehrere Jahre das Zentrum der nationalen
Revolution. In Kanton wurde der Feldzug nach dem Norden organisiert, Doch
die nationale Revolution, die sich gegen den Imperialismus richtete, barg in
ihrem Inneren die tiefsten Klassengegensätze, die sich mit dem Vormarsch
der revolutionären Truppen und der Eroberung immer neuer und neuer Pro-
vinzen zuspitzen mußten, Gegensätze ergaben sich bereits vor dem nörd-
lichen Feldzug in der Frage der sozialen Forderungen der Arbeiter- und
Bauern, Die Leitung der Kuomintang beschränkte sich auf revolutionäre
Phrasen und eine formelle politische Demokratie, sie vertagte immer wieder
die Erfüllung der sozialen Forderungen der Arbeiter- und Bauernmassen.
Die Revolution besteht aber geräde darin, daß sie an die Spitze die sozialen
Forderungen der kämpfenden Klassen stellt, d, h. die Fragen des Arbeits-
tages, der Löhne, des Streikrechtes, Steuerfragen, die agrarische Frage, die
Frage des mittelalterlichen Schachers mit Aemtern und Würden usw. Auf
dem Territorium, das die nationale Regierung besetzte, mußten in diesen
Fragen diejenigen Klassen und sozialen Zwischenschichten kollidieren, die
in der Einheitsiront der nationalen Revolution zusammengefaßt waren, Die
Großhändler und die mit dem ausländischen Kapital arbeitenden Kom-
missionäre versuchten in der ersten Zeit der Revolution offen Widerstand zu
leisten, In dem Maße aber, wie sie sich überzeugten, daß die linken Phrasen
und das linke Programm der Kuomintangführer ihre Klasseninteressen nicht
schädigten, daß sich in der Leitung der nationalen Befreiungsbewegung und
in der Regierung Millionäre befanden — schiugen sie eine andere Taktik
ein, sie gingen dazu über, sich in der Kuomintang,. sowie im militärischen
und staatlichen Verwaltungsapparat festzusetzen, Dadurch steigerte sich
der Gegendruck der Bourgeoisie gegenüber den sozialen Forderungen der
Arbeiterklasse, dadurch mußten sich innerhalb der nationalen Revolution
mit jedem Tage die Meinungsverschiedenheiten verschärfen,
Die chinesische Bourgeoisie und die Militaristen nutzten sehr geschickt
die Spaltung der Arbeiterbewegung aus, trieben den Keil immer tiefer, indem
sie den Verband der Mechaniker (8000 Mitglieder) und die Gewerkschalts-
föderation von Kwangtung (30000 Mitglieder) zu einem Werkzeug ihrer auf
die Desorganisierung der Arbeiterbewegung gerichtete Politik machten, sie