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Vom Chingplatz zur Nachbarschaft
Die Nachbarschaft als politische Körperschaft ist durchaus keine
Neuerscheinung in der Geschichte. Sie hat ihre Vorbilder in der
Agora der griechischen Stadtstaaten und im Thingplatz der germani—
schen Staatsordnung. Die Entwicklung der griechischen Stadtstaaten
legt ein beredtes Zeugnis für die Entwicklung der Demokratie ab
und zeigt die Fehler, an denen auch die moderne Demokratie der Ge⸗
genwart krankt. Die griechischen Stadtstaaten bekannten sich zur
Volksherrschaft. Die verantwortlichen Staatsbürger versammelten sich
auf dem Marktplatz, der Agora, zur Volksversammlung. Diese Volks⸗
versammlung war so lange ein Gegenstück zu der für den Volksstaat
geforderten Nachbarschaft, solange die Volksversammlung den Ge—⸗—
setzen der Gemeinschaft unterworfen war. Die auf dem Marktplatz
vereinten Staatsbürger waren sich gegenseitig bekannt. Ihr Handeln
war den Gesetzen der Verantwortung unterworfen. Auge in Auge
mit den gewählten Führern rechtete die Staatsbürgerschaft über die
Führung des Staates. Als bei zunehmender Bevölkerungsziffer die
Volksversammlung zur Masse wurde, gewann die Demagogie die
Oberherrschaft. Hiermit begann der Niedergang dieser Staaten.
Ihre Geschichte ist ein Beweis dafür, daß die Gren—
zen der Demokratie dort liegen, wo der Gemeinschafts—
begriff des Volkes aufhört und die Masse beginnt.
Was die Agora für die griechischen Stadtstaaten war, das war
der Thingplatz für das Deutschland der älteren Tradition. In vielen
Gegenden Deutschlands hat sich der Begriff dieser nachbarlichen poli⸗
tischen Körperschaft bis in die heutige Zeit erhalten. Die Bedeutung
des Thingplatzes ging für das deutsche Volk verloren, weil der demo—
kratische Begriff des Führertums durch den absolutistischen abgelöst
wurde. Das hierdurch geschaffene Herrentum beraubte den Thing
seiner Bedeutung und seiner Rechte.
Diese Erscheinungen der Vergangenheit können für die heutigen
Verhältnisse nur bedingt zugrunde gelegt werden. Es ist aber fest⸗
zuhalten, daß auch unter neuen Verhältnissen der wahre Sinn dieser
Ordnung gewahrt bleiben kann. Es bleibt die Frage zu lösen, nach
welchem System die an der Regierung mitverantwortliche Volksver—⸗
sammlung mit Gemeinschaftscharakter erhalten werden kann.
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