Full text: Gesellschaftslehre

Die Eigenschaften der Masse. 
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Kollektivierung eine ungewöhnliche Stärke. — Ein drittes Beispiel lie- 
fert uns der Staat. Man hat von einer eigenen Massenmoral im Gebiet 
der äußeren und abgeschwächt auch der inneren Politik gesprochen: die 
äußere Politik kennt überhaupt keine Moral, sie arbeitet nur mit List 
und legthin mit Gewaltmitteln; und mit besonderer Härte zeıgen sich 
diese in dem Verhalten der zivilisierten Völker gegen niedrigere Rassen, 
gegen ganze Stämme wie gegen deren einzelne Angehörige, die als völlig 
rechtlose Wesen und mit der größten Grausamkeit behandelt werden. 
Auch hier soll das niedrige Niveau des sittlichen Verhaltens eine Folge 
der Kollektivierung sein. Tatsächlich kommt zunächst die Verschieden- 
heit der Sozialmoralen gegen Nahestehende und gegen Fremde ($ 34) in 
Frage. Dazu muß man beachten, daß die verschiedenen Staaten zueinan- 
der in einem ganz anderen Verhältnis stehen als die verschiedenen Bür- 
ger innerhalb eines Staates. Der Sat: jede Persönlichkeit hat ihre eigene 
Moral, gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen und Ob- 
jektivgebilde wie z. B. den Staat!). — Man sieht: ein allgemein gültiges 
Urteil über das Niveau der Gruppe im Verhältnis zu demjenigen ihrer 
Mitglieder ist unmöglich. Man mag von einem durchschnittlichen Cha- 
rakter im Sinne der Trivialität und von der Tendenz zu einer solchen 
sprechen. Aber dasselbe würde auch von den menschlichen Individuen zu 
sagen sein. Im übrigen kommt es hier wie dort auf die Individualität an. 
Wesentlich für den in Rede stehenden Sachverhalt ist der Grad 
von objektivem Geist (d. h. von Sinn- oder Wertgehalt), der 
in einer Gruppe wirksam ist: je stärker er ist, desto mehr hebt er den 
einzelnen über sich selbst hinaus (d. h. genauer über diejenigen Eigen- 
schaften, die er besigt abgesehen vom Einfluß des in Frage kommenden 
objektiven Wirkungszusammenhanges?). Einen besonders starken Ein- 
Auß übt in dieser Beziehung das Amt auf seine Träger aus, besonders 
wo lange Tradition und eine gewisse Abschließung des gesamten Stan- 
des mit der Pflege eines besonderen Standesbewußtseins und Verant- 
wortungsgefühles zusammenwirken. Denken wir uns umgekehrt eine 
Menge haltloser und gehaltloser Menschen sich zu einer Gruppe zusam- 
menschließen, deren Zusammenhalt rein auf der gegenseitigen persön- 
lichen Anziehungskraft und Seelenverwandtschaft beruht, so hat diese 
Gruppe offenbar ein Mindestmaß von objektivem Geist. Sie würde zu- 
gleich fast eine Art von pathologischem Beigeschmack haben — ein Hin- 
weis darauf, daß solche Gruppen. die nach ihrem Geist der üblichen Vor- 
1) Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsraison, S. 534. 
2) Vgl. die treffenden Bemerkungen bei Mc. Dougall, The group mind, 
Ss 63
	        
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