122 I. Buch B III: K. Oldenberg, Wirtschaft, Bedarf u. Konsum. § 4 Nehmen wir das Jahreseinkommen von 60 Millionen Deutschen mit 30—35 Milliar den Mark, den täglichen Nahrungsbedarf mit 50 Pfennigen an, so würde der tägliche Nahrungsbedarf der Nation 30 Millionen, der jährliche 11 Milliarden Mark, mit den Ausgaben für Wohnung und Kleidung etwa 19 Milliarden Mark wert sein. Die Aus gaben des Reichs, des Staats, der Kommunen und Kommunalverbände werden amt lich für 1907 auf 11 y 2 Milliarden Mark berechnet, von denen aber netto wahrschein lich nicht über die Hälf te Verwaltungsausgaben sind '), auch diese zum Teil sich deckend mit Posten, die schon in den 19 Milliarden stecken. Immerhin bleiben für freie Ausgaben nicht für Nahrung, Wohnung, Kleidung usw. nicht viele Milliarden übrig, wenn wir noch 3—5 Milliarden als den Betrag der jährlichen Ersparnis abziehen. Bei diesen Ansätzen erscheint es hoch, wenn allein der jährliche Alkoholkonsum in Deutschland auf 3—4 Milliarden, der Tabakkonsum auf 6—800 Millionen Mark, der Kaffeekonsum schon nach dem Einfuhrwert des Rohstoffs auf mehr als 200 Mil lionen Mark geschätzt wird; Summen, in denen allerdings einige 100 Millionen Mark Zölle und Steuern enthalten sind, die in den Reichsausgaben wiederkehren. Beach tenswert ist, daß ein Gelehrter wie R u b n e r in den neueren Auflagen seines Lehr buchs der Hygiene * 2 ) den in Deutschland schnell zunehmenden Kaffee- und Teege nuß als hygienisch bedenklich charakterisiert. Von anderen größeren Ausgabeposteri der breiten Masse dürfte z. B. für den englischen Arbeiter die Ausgabe für Sportwetten ins Gewicht fallen. In Paris sollen die Theatereinnahmen 1850—1907 von 8 auf 45 Millionen Fr. gestiegen sein, und zwar durch die Einnahmen der sogenannten spectacles divers, cafes-concerts, music halls u. dgl. 3 ). In Deutschland werden die jährlichen Ausgaben für die gewöhnlichste Schundliteratur, namentlich Detektivromane und Räubergeschichten, auf 50—60 Millionen Mark veranschlagt; außerdem dürften die Ausgaben für höher stehende erotische Romane beträchtlich sein. In neuester Zeit sollen an Eintrittsgeldern der Kino-Theater z. B. in Nordamerika hunderte von Millionen Mark einkommen. Auf den höheren Einkommensstufen schwillt das Reisenkonto enorm an, zu gutem Teil allerdings nicht durch freie, sondern standesmäßig gebundene Ausgaben. Den Mil lionären scheint es an Ausgabenzwecken zu mangeln; bekannt sind die Exzentrizi täten amerikanischer Diners, mit denen der Gastgeber für seine Person Reklame zu machen wünscht, vergleichbar dem Grundbesitzer der naturalwirtschaftlichen Zeit, der auch seinen Reichtum und seinen wirtschaftlichen Vorrang von einer ge wissen Grenze an nur durch eine Gastfreiheit großen Stils zur Schau bringen konnte. Ein breites Betätigungsfeld bilden überhaupt die altruistischen Aufwendungen, und wohlhabende Yankees benutzen es reichlich; freilich stehen ihre menschen freundlichen Stiftungen, oft Bastarde von Auszeichnungstrieb und Altruismus, manch mal in einem auffälligen Gegensätze zu den Mitteln, mit denen die Millionen er worben sind. Einer der führenden amerikanischen Reichen aber empfiehlt die Ein führung einer Erbschaftssteuer von exorbitanter Höhe für Deszendenten, weil er den Wert nicht im Reichtum, sondern im Erwerben sieht. Wir kommen damit auf unsere frühere Wertung des wirtschaftlichen Fortschritts zurück. Nicht viel anders ist mutatis mutandis die Antwor t, die Brentano in seiner Theorie der Bedürfnisse auf diese letzten Fragen in Anlehnung an Goethe sucht. Er sieht den Betrug des Konsumenten durch seinen Reichtum. Er unterscheidet zwischen passiven Genüssen, die der Mensch kaufen kann, und der Befriedigung, die die Frucht einer Willensbetätigung ist. Die passiven Genüsse, die den unerfahrenen Menschen locken, sind trügerisch, auch wenn es geistige Genüsse sind. „Wo der Mensch in Kundenkreis 10—20 drinks an einem Tage mit je y 2 Schilling zu bezahlen hat“ (M a n e s , Ins Land der sozialen Wunder, 1911, S. 206). x ) Denkschriftenband zur Begründung des Entwurfs eines Gesetzes betr. Aenderungen im Finanzwesen, 1908, I 127 f. 2 ) z. B. 7. Aufl. (1903), S. 472. 3 ) C 1 6 m e n t, La döpopulation en France, Paris 1910, S. 289.