Die Unentbehrlichkeit des Zinses

93

der Frage der Notwendigkeit des Zinses an sich, und also zunächst
die Frage auswerfen, ob auch eine nach kollektivistischen Grundsätzen
eingerichtete sozialistische Gesellschaft in der Weise, wie es heute ge-
schieht, bei der Preisbildung der waren einen besonderen Preis für
die Nutzung des Napitals zu erheben genötigt sein würde. Diese
Trage ist nun entschieden zu bejahen. Auch eine sozialistische Ge-
sellschaft dieser Art kommt nicht ohne die Erhebung eines Zinses
aus. Sobald der sozialistische Staat seinen Bürgern Freiheit des
Konsums gewährt, und die Hauptoertreter des wissenschaftlichen So-
zialismus haben ja im Unterschiede von den eigentlichen Kom-
munisten erklärt, an der Einrichtung der Freiheit des Konsums fest-
halten zu wollen, wird die Erhebung eines Zinses nach dem Maße,
wie bei der Herstellung der einzelnen Güter Kapital gebraucht
wird, zur unumgänglichen Notwendigkeit. Auch der sozialistische
8taat kommt dann mit einer Berechnung der Güterpreise bloß nach
den Arbeitskosten nicht aus, er kann beispielsweise die Mietpreise
der Wohnungen nicht in der weise festsetzen, daß durch die Mieten nur
die jährlichen Unterhaltungskosten der Häuser und ihre Abnutzung
gedeckt werden, auf einen Zins für das in den Häusern steckende Ka-
pital dagegen verzichtet wird.

herrscht in einer Wirtschaftsordnung Freiheit des Konsums in
dem früher erläuterten Sinne (f. S. 12), verzichtet also der Staat
daraus, die Nachfrage mit dem Angebot auf andere weise als nur
durch den Druck der Preisbildung zur Übereinstimmung zu bringen,
so muß bei der Bildung der Warenpreise für jeden Bestandteil der
Produktionskosten, der aus selbständigen Gründen knapp ist im Ver-
hältnis zum Bedarf, auch ein besonderer Preiszuschlag gemacht wer-
den. Vas trifft aber für das Kapital ebenso zu wie für die Arbeit.
Das Angebot von Kapitalnutzungen ist immer nur beschränkt vor-
handen, es hat noch nie ausgereicht, um gleichzeitig alle Fälle, wo
an sich das Kapital mit Nutzen verwertet werden könnte, zu berück-
sichtigen. Diese beständige Knappheit des Kapitals geht aber auf
ihre eigenen, besonderen Ursachen zurück. Das Kapital ist nicht nur

Pohle, Uapltalismus und Sozialismus, 2. lluji.	7

Landwirtschaft und Sozialismus

147

Volkswirtschaft, das ja auch im sozialistischen Staate ganz unentbehr-
lich ist, wenn das gegenwärtige Niveau der Lebenshaltung beibehal-
ten und gesteigert werden soll, und andererseits die durchschnittliche
Arbeitsleistung gestalten? Mit diesen fragen werden zweifellos die
wunden pustkte jeder sozialistischen Gesellschaftsordnung getroffen.

I. Vas Anwachsen des Realkapitals der Volkswirtschaft,
ihrer Bestände an Wohnhäusern, Fabrikgebäuden und Produktions-
anlagen aller Art, an Verkehrseinrichtungen usw. vollzieht sich gegen-
wärtig in einem Tempo, das nicht nur dem Wachstum der Bevölke-
rung entspricht, sondern das darüber hinaus Raum läßt für eine
Vermehrung des Rapitalvorrats der Volkswirtschaft, eine Zunahme
ihrer Rapitalintensität. In fast allen Ländern Europas konnte vor
dem Weltkriege ein rasches Wachstum ihres Realkapitals festgestellt
werden, ein Wachstum, das mit G. Lasset auf ungefähr 3o/o jähr-
lich geschätzt werden kann. Die unumgängliche Voraussetzung für
dieses rasche Anwachsen des Volksvermögens in der heutigen Wirt-
schaftsorganisation ist aber der Umfang, in dem in den modernen
Volkswirtschaften „gespart" wird, in dem die einzelnen Privaten
freiwillig große Teile ihres Einkommens dem Konsum entziehen
und in den Dienst der Kapitalbildung stellen. Der große Umfang,
in dem die Spartätigkeit sich heute in allen Ländern europäischer
Kultur vollzieht und dadurch die Vorbedingung für die Vermehrung
des Realkapitals erfüllt wird, hängt aber wieder ganz wesentlich
mit ihrer individualistischen Wirtschaftsverfassung zusammen. Sowie
das individualistische Wirtschaftssystem in Frage gestellt wird, wird
auch die Neigung der einzelnen zu sparen auf eine gefährliche Probe
gestellt und unter Umständen geradezu gelähmt. Der einzelne spart
ja heute nicht zu dem objektiven Zwecke, um dadurch das Realkapital
der Gesellschaft zu vermehren, sondern er spart unmittelbar aus einem
subjektiven Grunde, nämlich hauptsächlich, um dadurch die eigene
sowie die Zukunft seiner Angehörigen sicherzustellen. In dem Maße,
wie ihm das durch Änderungen der Rechtsordnungen im sozialistischen
Sinne unmöglich gemacht oder erschwert wird, wird auch der Spar-

104

II, 2. Die Arbeitslosigkeit

im Grunde eine Absurdität und nur ein Leweis für die Urteilslosig-
keit des Durchschnittsmenschen in politischen Dingen. Das hindert
bekanntlich aber die politischen Parteien vielfach nicht, ihre Kritik
nach diesem Rezepte zu üben.

warum gibt es nun im modernen Wirtschaftsleben beständig eine
gewisse Zahl von Arbeitslosen? Selbstverständlich wird diese Frage
hier nur in dem Sinne gestellt, daß die wirtschaftlichen Ur-
sachen, aus denen in gewöhnlichen Zeiten in unserer Wirtschafts-
ordnung Arbeitslosigkeit entspringt, untersucht werden sollen. Die
Arbeitslosigkeit, die jetzt am Kriegsende in einem besiegten, von der
übrigen Welt abgeschnittenen und mit seinem Wirtschaftsleben in
ganz abnorme Zustände geratenen Volke so bedrohliche Dimensionen
annimmt, kann aber nicht unserer Wirtschaftsordnung an sich zur
Last gelegt werden. Deshalb ist auch die Frage der staatlichen Ar-
beitslosenunterstützung jetzt anders zu beurteilen als bei normaler
Lage der Dinge.

Auf die vorhin aufgeworfene Frage ist nun zu antworten: Ein
gewisses Maß von Arbeitslosigkeit ist heute zunächst unvermeidbar
als Folge der absoluten Freiheit des Arbeitsverhältnisses, die für
beide Parteien des Arbeitsvertrags gilt, sowie der natürlichen
Unvollkommenheit, die notwendig jeder Arbeitsvermittlung anhaf-
tet, gleichviel wie ihre Organisation geartet ist. In einer Wirtschafts-
ordnung, die dem Arbeiter das unbeschränkte Recht gibt, seine bis-
herige Stellung zu kündigen und ebenso unbeschränkt darüber zu ent-
scheiden, ob er eine neue ihm angebotene Stelle annehmen will oder
nicht, und in der ebenso auch der Unternehmer die entsprechenden
Rechte besitzt, wird es jederzeit eine gewisse Zahl von Arbeitslosen ge-
ben. Denn auch die denkbar beste Grganisation der Arbeitsvermitt-
lung kann es nie dahin bringen, daß die Arbeiter, die aus irgendeinem
Grunde ihre bisherige Stellung aufgegeben haben, immer da, wo
offene Stellen für sie vorhanden sind, sofort wieder eingestellt werden,
ohne daß dazwischen eine Zeit der Beschäftigungslosigkeit eintritt. So
ist es insbesondere zu erklären, daß auch in der Zeit des besten Ge-

Die Freiheit der Arbeit	15

e er wie wenn sie erst vor wenig mehr als einem Jahrhundert in vielen
will. Ländern ihren Einzug gehalten habe.

steht wie diese Vorstellung sich hat ausbilden können, das ist ja leicht
eits- zu verstehen Die Fortschritte in wirtschaftlicher Freiheit, die da-
Pro-	mals an der wende vom l8. zum ly. Jahrhundert gemacht wurden,

und	waren so groß und so bedeutsam, daß es den Anschein gewann, als

habe es vorher überhaupt noch keine Freiheit im Wirtschaftsleben
äiete gegeben, als sei damals zum ersten Male das System der Freiheit
Le- an die Stelle des Systems des Zwangs und der obrigkeitlichen Be-
ugen vormundung gesetzt worden. Die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit,
chaft	die Freiheit	des Konsums und	die Freiheit der Produktion insbe-,

and-	sondere, hat	aber auch vorher	nicht völlig gefehlt. Sie war auch

den im Wirtschaftsleben des Mittelalters schon grundsätzlich anerkannt,
wie- aber sie konnte sich praktisch allerdings nur in viel engeren Grenzen
betätigen, von der Produktionsfreiheit insbesondere, dem Recht der
ums freien Berufswahl usw., konnte man damals nur in lokal engbegrenz-
)enn ten Verkehrskreisen Gebrauch machen. Und ganz besonders galt das
'urci? in dem bis zum Ende des l8. Jahrhunderts staatlich so ungemein
igen zersplitterten Deutschland, was wir gewöhnlich schlechthin als Lin-
> ist	führung des	Rechtssystems der	freien Konkurrenz bezeichnen, näm-

Rr-	lich die auf	Betreiben des ökonomischen Liberalismus vor hundert

liög- Jahren vorgenommenen Reformen des Wirtschaftsrechts im freiheit-
nen. lichen Sinne, das war aber im Grunde gar nichts prinzipiell Neues,
löst- sondern es war nur eine besondere Ausgestaltung des an sich
pro- schon uralten individualistischen Rechtssystems, seine Be-
rfts- freiung nämlich von einer Reihe von Bindungen, die bisher gegolten
afts- hatten. Nicht das Rechtsprinzip des Individualismus an sich ist damals
den	aber neu in das Gesellschaftsleben eingeführt worden, sondern es fiel

mei-	nur der größte Teil der Schranken, von denen bis dahin die Bewe-

tion gungsfreiheit der Staatsbürger umgeben gewesen war. An denGrund-
die lagen der eigentlichen wirtschafts o r d n u n g selbst ist aber durch diese
ische Reformen so gut wie nichts geändert worden, vor wie nach diesen Re-
l sei, formen beruhte sie in gleicher weise auf dem Grundsatz der wirtschaft-

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Die Entwicklung der kommunistischen Ideen

erstickt, und sein Unternehmen, der Französischen Revo-
en kommunistisch-proletarischen Charakter zu verleihen,
Episode.

19. Jahrhundert hat der kommunistische Gedanke in der
roch zahlreiche Vertreter gefunden. Aus den letzten Jahr-
en außer Lellami) s bekanntem „Rückblick aus dem Jahre
' nur noch Bebels Buch über die Frau und den Sozia-
allods „Zukunftsstaat" (2. ctufl. 1919), „Der Horn*
von Eduard palyi (Berlin 1919), sowie Popper-
| , »die allgemeine Nährpflicht" (1913), genannt. Der 3u-
, von dem diese Autoren ein Bild zu entwerfen suchen,
.Züge des unverfälschten Kommunismus, wenn daneben
ünigen Autoren der versuch gemacht wird, von den Heu-
ichtungen verschiedenes beizubehalten und Kommunismus
idualismus nebeneinander bestehen zu lassen. So alt die
ische Literatur nun auch schon ist — sie hätte wäh-
Meltkriegs das Jubiläum ihres vierhundertjährigen Be-
ern können —, so ist es doch auffallend, einen wie ge-
aeren Fortschritt diese Literatur zeigt. Nkan kann nicht
der kommunistische Zukunftsstaat im Laufe dieser mehr-
'rigen Entwicklung nun wirklich greifbare Gestalt und
~ 3üge angenommen hätte. Sein Bild ist bei den Kommu-
19. Jahrhunderts noch ebenso verschwommen -und unklar
| enen der vorhergehenden Jahrhunderte. Die ganze Li-
tung ist in der Beschreibung der allgemeinsten Einrich-
> ckengeblieben und bietet überwiegend nur kleine vari-
ier das von Nlorus in seiner Utopia behandelte Thema,
dem schon von diesem entworfenen Grundbild wesentlich
fjr- hinzufügen zu können. Nur in solchen Punkten, wie der
täglichen Arbeitszeit, die in dem Zukunftsstaat für nötig
wird, unterscheiden sich etwa die verschiedenen Autoren,
tszeit, in der einzelne von ihnen alles für die Versorgung
kerung Nötige glauben produzieren lassen zu können, ist

3

50

1,3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

absetzten. In dem Maße, wie der Zernabsatz zunimmt und immer
entferntere Absatzgebiete aufgesucht werden müssen, geht aber regel-
mäßig die Besorgung des Absatzes in die Hände von Unternehmern
über, die ihn auf eigene Rechnung und Gefahr übernehmen. Aus
Zwischenhändlern, die anfänglich nur das aufkauften, was die Rlein-
produzenten aus eigener Initiative hergestellt hatten, verwandelten
sich diese Raufleute dann immer mehr in wirkliche Produktionsleiter,
die von einem Termin zum anderen Aufträge an die Produzenten
erteilen und diese fortgesetzt beschäftigen. Rurz, das Verhältnis wird
immer mehr das zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern. Ganz
deutlich läßt sich diese Wandlung in der Stellung der ehemals selb-
ständigen Gewerbetreibenden z. B. in der Genfer Taschenuhrenher-
stellung verfolgen. Da gab es ursprünglich nur selbständige Uhr-
machermeister, die auf eigenes Risiko Uhren herstellten und darauf
warteten, daß von auswärts Räufer sich einstellten, um ihnen die
kleine. Zahl von Stücken abzunehmen, die sie von einer Meßzeit zur
anderen fertigzubringen vermocht hatten. Für die Führung der frem-
den Einkäufer waren besondere Vermittler angestellt, die ihre Tätig-
keit nach bestimmten Regeln auszuüben hatten, um keine Bevor-
zugung einzelner eintreten zu lassen. Allmählich aber, seit der zwei-
ten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sind aus diesen Vermittlern selbst
Auftraggeber geworden, welche für eigene Rechnung und nach eige-
nen Anweisungen Uhren herstellen ließen und ihren Absatz nach
außerhalb besorgten. Indem diese Elemente so größere Gewinne
machten, kamen sie auch in die Lage, die Forderungen ihrer Liefe-
ranten, der Rleinproduzenten, schon vor den üblichen Meßtsrminen
begleichen zu können.

Diese Entwicklung hat sich dann in der Zeit nach den Napoleoni-
schen Rriegen immer weiter fortgesetzt. Und zwar waren es sehr
bezeichnenderweise die Rleinproduzenten selbst, die immer kürzere
Zahlungstermine verlangten und damit ihre Stellung immer mehr
der von Lohnarbeitern annäherten. Die Auftraggeber mußten sich
zunächst den tüchtigeren, dann auch den mittelmäßigeren Elementen

42

1,3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

denartiges zusammenwerfen, wenn man die eben erwähnten beiden
Fälle dem Risiko, das der Unternehmer zu tragen hat, einfach
gleichsetzt.

was zunächst die Zinskapitalisten betrifft, so ist es ja richtig,
auch sie können beim Zusammenbruch einer Unternehmung das
dieser überlassene Uapital einbüßen. Aber die Gefahr einer Ua-
pitaleinbutze ist für sie eben durch das Vorhandensein eines eigent-
lichen Unternehmungskapitals verringert. Erst mutz dieses ganz ver-
loren sein, ehe das von ihnen der Unternehmung überlassene Uapital
gefährdet sein kann. Vas Verhältnis zwischen dem fix entschädigten
und dem auf den Überschutz der Produktion angewiesenen Uapital
ist naturgemäß in den einzelnen Geschäftszweigen sehr verschieden
und schwankt auch von Betrieb zu Betrieb wieder stark.

wenn der Unternehmer über dieses Verhältnis die Entscheidung
trifft, so kommen für ihn sehr verschiedene, und zwar zum Teil
miteinander in Widerstreit liegende Gesichtspunkte in Betracht. In
je höherem Matze er mit fremdem, fest verzinslichem Uapital ar-
beitet, um so bessere Gewinnaussichten hat er für das von ihm
selbst in seinem Betrieb investierte Uapital. Diese Erwägung drängt
ihn also, möglichst viel fremdes Uapital gegen festen Zins heran-
zuziehen. Ruf der anderen Seite aber wird eine Unternehmung um
so widerstandsfähiger und bricht weniger leicht zusammen, je stär-
ker das eigene, auf den Ertrag der Unternehmung angewiesene
Uapital im Verhältnis zu dem Uapital vertreten ist, das Anspruch
auf feste Entschädigung hat. Vas hat sich z. B. sehr deutlich bei
den amerikanischen Eisenbahnen gezeigt. Die amerikanischen Eisen-
bahnen sind meist mit einem relativ geringen Aktienkapital und
einer sehr hohen Gbligationsschuld begründet worden. Der Fall er-
eignet sich daher ziemlich häufig bei ihnen, daß die für die Dbligatio-
nen aufzubringenden Zinsen nicht aus den Betriebserträgnissen gedeckt

Personen, welche ihm ihr Vermögen kreditiert haben. Der Unternehmer
produziert daher zwar immer auf eigene Rechnung, aber nicht nur auf
eigene, sondern auch auf die Gefahr seiner Arbeiter und seiner Gläubiger."

66

1,4. Der Sozialismus

tung. Denn er erkennt nur einen Produktionsfaktor an: die Kr-
beit. Die Herstellung der Güter kostet der wirtschaftenden Mensch-
heit nach seiner Auffassung Arbeit und nichts als Arbeit. Jedes
Einkommen, das auf anderen Rechtstiteln als Arbeit beruht, ist ihm
also ein ungerechtfertigter Abzug am Ertrag der Arbeit anderer.

Me es gar nicht anders sein kann, so steht hinter dieser von einer
sehr unzulänglichen nationalökonomischen Theorie ausgehenden Nri-
tik aber zugleich die Vorstellung eines bestimmten Gesellschaftsideals.
Dieses Gesellschaftsideal ist sogar die eigentliche Grundlage des
wissenschaftlichen Sozialismus. Richt die nationalökonomische Theo-
rie des wissenschaftlichen Sozialismus hat fein Gesellschaftsideal ge-
schaffen, sondern umgekehrt, weil diesen Sozialisten ein bestimmtes
Gesellschaftsideal vorschwebte, deshalb sind sie zu ihrer national-
ökonomischen Theorie gekommen und halten so zäh an ihr fest. Rarl
Marx war schon lange Sozialist, ehe er den Mehrwert entdeckte.
Der Schopenhauersche Satz von dem willen, der sich den In-
tellekt zu seinem Dienste geschaffen hat, trifft auch hier zu.

Die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus, und ganz be-
sonders die Marxisten, haben e; allerdings vorsichtig vermieden, ein
zusammenhängendes Bild ihres Zukunftsstaates zu entwerfen. Bei
den Marxisten bildete es sogar einen Teil ihres Systems, alles Fragen
nach den Einrichtungen des Zukunftsstaates, das „Zukunftsstaats-
fragespiel", als überflüssige und alberne Neugierde zurückzuwei-
sen. Die wirtschaftliche Entwicklung werde das „hineinwachsen in
den Zukunftsstaat" schon ganz von selbst besorgen, ohne daß sich
die Menschen die Näpfe darüber zu zerbrechen brauchten, wenn so
der wissenschaftliche Sozialismus auch über die ihm vorschwebende
Gesellschaftsorganisation sich ausgeschwiegen hat, so ist es doch nicht
schwer, die wesentlichen Züge des Zukunftsstaats, der nach ihm das
Ziel der Entwicklung bildet, zu entwerfen. Sie ergeben sich aus
der Nritik, die er an den bestehenden Einrichtungen, andererseits
aber auch an dem Gesellschaftsibeal des Nommunismus geübt hat,
gewissermaßen von selbst.

96

11,1. Vas arbeitslose Einkommen

Dazu sind insbesondere aber auch sehr beträchtliche Mittel er-
forderlich. was in einem Lande wie Deutschland in jedem Jahre
gebraucht wird, um die Zahl der Wohnungen, die Produktionsanlagen
in der Industrie, die Verkehrseinrichtungen usw. entsprechend dem öe-
völkerungswachstum zu vergrößern, das war vor dem Kriege auf eine
Summe von mindestens 4 bis 5 Milliarden Mark zu veranschlagen.
In einer solchen wachsenden Gesellschaft aber ist es ganz unmöglich,
dem Arbeiter ein Recht auf den vollen Arbeitsertrag einzuräumen.
In jeder fortschreitenden Gesellschaft müssen vielmehr die Arbeiter
immer sich Abzüge vom Arbeitsertrag gefallen lassen, sonst wäre
jede Ausdehnung der Produktion unmöglich. Vas hat auch K. Marx
sehr wohl gewußt. Unter den Posten, die nach ihm vom Volkseinkom-
men abgezogen werden müssen, ehe sich das ergibt, was für den Kon-
sum verteilt werden kann, befinden sich als Nr. 2 „zusätzliche Teile für
die Ausdehnung der Produktion".

Die einfachste, zweckmäßigste und auch gerechteste Form, wie sich
eine sozialistische Gesellschaft die für die Ausdehnung der Produktion
erforderlichen Mittel beschafft, wird aber die Erhebung von Preis-
zuschlägen auf die Arbeitskosten der einzelnen waren nach Art der
heutigen Kapitalzinsen sein. Und wenn Freiheit des Konsums im
Sozialstaate herrschen soll, dann kommt, wie bereits gezeigt, eine
andere Art der Erhebung (etwa durch allgemeine Steuern) über-
haupt nicht in Frage. Denn ohne die Ansetzung von Kapitalzinsen
bei der Warenpreisbildung würde eine Regulierung des Konsums
nur durch den Druck der Preisbildung ganz undurchführbar sein.

Durch die Ergebnisse, zu denen wir bei dieser Betrachtung ge-
langt sind, gewinnt nun auch die Frage des privaten Zinsbe-
zugs und überhaupt des arbeitslosen Einkommens in der gegen-
wärtigen Wirtschaftsordnung ein ganz anderes Gesicht, wir werden
dadurch genötigt, bei der Beurteilung des arbeitslosen Einkommens
nicht sowohl darauf zu achten, in welcher höhe arbeitsloses Einkom-
men von einzelnen Personen bezogen wird, als vielmehr darauf,
wie dieses Einkommen von ihnen verwendet wird. Die Frage

74

1,4. Der Sozialismus

nicht recht wirksam zu werden vermag, die Gefahr zu beseitigen,
dast das Privatkapital dauernd abnorm hohe Unternehmergewinne |
bezieht, kann ja auch der eintreten, der im übrigen durchaus auf
dem Loden der individualistischen Wirtschaftsordnung steht. Dar
Mast von Sozialisierung, das in diesen Grenzen sich hält, kann man
kaum schon als wirklichen Sozialismus bezeichnen. Der Staatssozia-
lismus ist daher ein Zugeständnis, das bis zu einem gewissen Grade j
sehr wohl vom Individualismus gemacht werden kann, ohne daß
dieser sich selbst aufgibt. In den eigentlichen Sozialismus fängt
der Staatssozialismus erst da an einzumünden, wo die Sozialisierung
blost um der Sozialisierung willen betrieben wird, ohne dast sich
besondere Vorteile nachweisen lassen, die durch die Verstaatlichung
der betreffenden Erwerbszweige erreicht werden sollen. Solange der
Staatssozialismus diese Grenze aber nicht überschreitet, über deren
Vorhandensein oder Nichtvorhandensein man ja im einzelnen Falle
auch noch verschiedener Meinung sein kann, liegt kein Grund vor, sich
über ihn sonderlich aufzuregen. Er bedeutet insoweit noch nicht ei»e
neue Wirtschaftsordnung, sondern nur eine Reformaktion auf des
Loden der bestehenden Wirtschaftsordnung. Es gehört daher auch
nicht zum Plan dieses Schriftchsns, näher auf ihn einzugehen, ab-
gesehen von der Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des
Staatsbetriebs im allgemeinen, die uns im zweiten Abschnitt noch
-beschäftigen wird.

Sobald man das richtige Verständnis für das Wesen des Rechte
gedankens gefunden hat, der dem Sozialismus zugrunde liegt, wirb
man es selbstverständlich finden, dast in jeder individualistischen XDi^
schaftsordnung auch immer eine gewisse sozialistische Stimmung o&ct
Disposition für den Sozialismus vorhanden sein wird. Der Sozialir-
mus begleitet den Individualismus wie der Schatten das Licht. 3» j
einer Gesellschaftsordnung, die auf dem individualistischen Rechts-
prinzip beruht, liegt es in der Natur der Dinge, dast Parteien ode»
wenigstens Gruppen sich bilden, die däs individualistische Rechts
Prinzip verwerfen und dem sozialistischen vor ihm den Vorzug gebe»'

Die wirtschaftlichen Folgen der Rapitalknappheit	J39

Zum Kommunismus bedeuten, und der steht zunächst hier nicht zur
Debatte. Der wissenschaftliche Sozialismus hat sich bisher immer
energisch gegen die Behauptung gewehrt, er wolle die Familie zer-
stören — freilich ohne diese Behauptung so ganz entkräften zu
können.

Neben der Kleinheit des lokalen Marktes ist es noch ein zweiter
Umstand, der heute auf den technischen Fortschritt und den Übergang
zum Großbetrieb hemmend und retardierend einwirkt. Vas ist die
Knappheit des Kapitals. Damit kommen wir zugleich zu
einer dritten Erscheinung, auf die sich die Anklage des Sozialismus
von der wirtschaftlichen Inferiorität des heutigen Wirtschaftssystems
stützt, von Sozialisten wird der heutigen Wirtschaftsordnung sehr oft
zum Vorwurf gemacht, daß durch die Einrichtung des Kapitalzinses
zugleich eine Schranke für die Einführung arbeitsparender Produk-
tionsmethoden errichtet sei. Und das ist ja an sich vollkommen rich-
tig. Der Unternehmer, der vor die Frage der Einführung einer
neuen Maschine gestellt ist, kann nicht bloß fragen, ob durch die Ma-
schine Arbeit gespart wird, sondern er muß fragen, ob die Maschine
für ihn auch rentabel ist, ob sie einen so großen Gewinn abwirft,
daß für ihn mindestens der landesübliche Zins herausspringt. Ma-
schinen und andere technische Erfindungen, bei denen die durch sie
erzielbaren Krbeitsersparnisse nicht so groß sind, daß die Maschine
auch für den Unternehmer rentabel wird, bleiben heute von der
Anwendung in der Praxis regelmäßig ausgeschlossen. Dieses vor-
herrschen des Uentabilitätsgesichtspunktes stellt der Sozialismus gern
als einen schweren wirtschaftlichen Fehler der heutigen Wirtschafts-
ordnung hin, und er lobt dafür sein soziales System, das von diesem
Mangel frei sei und nicht durch die Schranke, die der Kapitalzins auf-
gerichtet hat, an der Ausnutzung von Erfindungen irgendwie ge-
hindert werde, sondern jede Erfindung, die auch nur die kleinste Ar-
beitsersparnis verspreche, sofort in der Praxis einführen könne.

In Wahrheit vermag aber der Sozialismus an der Lage der
Dinge in dieser Beziehung gar nichts zu ändern. Auch für den Sozia-

Die Urisenarbeitslosigkeit

113

tigkeiten verlangt, als sie den Arbeitern eignen, die durch die Ände-
rung der Nachfrage ihre Beschäftigung verlieren. Und selbst wenn
auf diesem Gebiete leidliche Übereinstimmung vorhanden sein sollte,
so wird die weiter erforderliche örtliche Übereinstimmung zwischen
Einschränkung und Ausdehnung der Arbeitsnachfrage fehlen. Die
neuen Arbeiter werden meist an ganz anderen Grten gebraucht als
denen, wo gleichzeitig Arbeiter überzählig geworden sind. Dabei ist
auch zu beachten: der Mensch ist, wie Iastrow einmal treffend
bemerkt, keine Ware, die man beliebig wie einen Ballen Baum-
wolle von einem Drt zum anderen schicken kann. Der Arbeiter, zu-
mal der verheiratete, kann sehr triftige Gründe haben, daß er auf
den Verlust seiner bisherigen Beschäftigung nicht gleich mit einem
ivechsel des Wohnorts reagiert, sondern zunächst einige Zeit abwar-
tet, ob sich nicht am alten Drte wieder eine Stellung für ihn findet.

Unter diesen Umständen wird aber im Gefolge von Bedarfs-
verschiebungen regelmäßig auch eine stärkere Arbeitslosigkeit in den
auf die Schattenseite der Nachfrage geratenen Gewerben unver-
meidlich sein. Je beweglicher allerdings die Arbeiterschaft wird, je
leichter sie bereit ist, den Wohnort zu wechseln, um so eher wird sich
diese Arbeitslosigkeit überwinden lassen.

Alles, was eben über die Arbeitslosigkeit im Gefolge von 8e-
darfsverschiebungen gesagt wurde, trifft auch für die Arbeitslosigkeit
Zu, von der einzelne Gewerbe im Zusammenhang mit der Einfüh-
rung arbeitsparender Erfindungen, insbesondere neuer Maschinen,
betroffen werden. Gewerbe, die eine solche technische Umwälzung
erfahren, entgehen ja gewöhnlich auch dem Geschick nicht, durch eine
Periode vermehrter Arbeitslosigkeit hindurch zu müssen. Auch hier
liegen die Dinge nicht etwa so, wie die vulgäre Auffassung und
auch viele Sozialisten meinen, daß durch die Maschine überhaupt
die Gesamtnachfrage nach Arbeit in der Volkswirtschaft vermin-
dert würde, sondern die Arbeitslosigkeit entsteht erst durch das Zu-
sammenwirken der eben näher geschilderten Momente. Sie entsteht
also dadurch, daß die Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine

Die wirtschaftliche Selbftverantrvorilichkeit	7

Zwang zur Arbeit aus. Wenn heute der einzelne arbeitet, so tut
er es nicht auf Grund staatlicher Vorschrift, sondern aus rechtlich
freier Entschließung, gezwungen nur durch den Druck wirtschaft-
licher Verhältnisse und um seinem Leben einen befriedigenden In-
halt zu geben. Eine Ausnahme hiervon wird höchstens bei solchen
Personen gemacht, denen gegenüber nahen verwandten die recht-
liche Pflicht obliegt, für ihren Unterhalt zu sorgen, und die diese Pflicht
in gröblicher weise vernachlässigen. Auf solche Personen wird auch
im heutigen individualistischen Staat unter Umständen ein Arbeits-
zwang ausgeübt.

Da, wo der Rechtsgrundsatz der wirtschaftlichen Selbstverantwort-
lichkeit des einzelnen gilt, da sind Erfolg oder Ulißerfolg der ökono-
mischen Betätigung immer von jedem Bürger selbst zu tragen. Jeder
ist auf sich selbst gestellt und selbst seines Glückes Schmied. Lächelt
ihm das Glück, so kann er den Gewinn für sich allein behalten, er-
leidet er Verluste, so kann er nicht den Staat dafür haftbar machen.
Nur wenn und solange die körperlichen und geistigen Uräfte des einzel-
nen zu schwach sind, sich selbst und den Angehörigen, für die er nach
dem Gesetz zu sorgen hat, das Dasein zu fristen, tritt die öffentliche
Armenpflege helfend und unterstützend ein. Nach dem Recht der mei-
sten Rulturstaaten geschah das bisher aber auch nicht etwa im Sinne
eines Rechtsanspruchs, den der verarmte selbst gegen den Staat gel-
tend machen konnte, sondern in Ausübung einer öffentlich-rechtlichen

Pflicht.

Wenn wir diese Wirtschaftsordnung die „individualistische" nen-
nen, so ist das freilich, näher betrachtet, kein daswefen derSacheganz
richtig bezeichnender Ausdruck. Wie die chemischen Rörper nicht un-
mittelbar aus Atomen gebildet sind, sondern aus Atomen, die in
bestimmter Weise zu Molekülen gruppiert sind, so ist die eigentliche
Einheit unseres sogenannten individualistischen Gesellschaftssystems
nicht das Individuum, sondern die Familie, also die nach Blutsver-
wandtschaft in bestimmter Weise gruppierten Individuen. Diese Tat-
sache kommt in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre meist etwas

___-	Entstehung der modernen Konsumvereine	25

= i schäften zu nennen. Sic haben sowohl in den angelsächsischen Län-
iigi dein wie neuerdings auch in Deutschland ganz erhebliche Leistungen
aufzuweisen. Die Stellung, die sie in den angelsächsischen Ländern
chen errungen haben, haben sie aus eigener Kraft, ohne wesentliche sit-
tlich Wirkung des Staats erlangt. Ihre günstige Entwicklung in diesen
ge- Ländern hängt mit der dortigen Vorherrschaft des Rleinhauses zu-
lon- sammen. Anders liegen die Verhältnisse in Deutschland. Bei uns
an hat die Baugenossenschaftsbewegung überhaupt erst in den letzten
137, Jahrzehnten einen stärkeren Aufschwung genommen. Noch 1890 be-
igen trug die Zahl der Baugenossenschaften in Deutschland erst 38, dann
rten ging sie bis 1900 auf 322 mit 47000 Mitgliedern in die höhe und
hält stellte sich 1910 auf 1056 mit rund 200 000 Mitgliedern. Die Zahl
Non der von den Baugenossenschaften erbauten Häuser wuchs von 1900
mof- bis i9gy von 3400 auf 13 344, die Herstellungskosten der von ihnen
an- gebauten Häuser beliefen sich aus fast 314 Millionen Mark,
eder Im Gegensatz zu England und Amerika beruht dieser rasche Auf-
ver- fchwung der deutschen Baugenossenschaften im letzten Jahrzehnt in-
lark. dessen nicht auf natürlichen, sondern auf künstlichen Ursachen, er
glie- ist hauptsächlich den Unterstützungen zuzuschreiben, welche den Bau-
inen genossenschaften in den letzten beiden Jahrzehnten von der öffent-
Be- lichen Gewalt gewährt worden sind. Die Baugenossenschaften, ins-
erei- besondere die für bestimmte Gruppen von Beamten und Arbeitern
imo- bestimmten, sind sowohl vom Reiche selbst, als von den Bundes-
ische- staaten als teilweise auch von den Gemeindeverwaltungen geför-
scher dert worden, von den letzteren namentlich auch durch die billige
-den. Überlassung von städtischem Boden im Erbbaurecht, vor allem aber
Ron- sind den Baugenossenschaften aus den Mitteln der Invalidenver-
l der ficherungsanstalten große Summen im Betrage von vielen Millionen
u die als Darlehen zu einem wesentlich niedrigeren Zinsfuß überlassen
eige- worden, als ihn die private Bautätigkeit gleichzeitig auf dem Rapital-
hat. markte erhalten konnte. Vieser Subventionierung haben die deut-
-inen scheu Baugenossenschaften ihre rasche Ausbreitung nach 1890 Haupt-
macht sächlich zu danken,
sen-

Freiheit oder Gleichheit?

123

Zwischen Individualismus und Sozialismus angelangt. Denn, wie
bereits angedeutet wurde: Nlles, was uns an der heutigen Wirt-
schaftsordnung mißfällt, wie die Unsicherheit der wirtschaftlichen
Existenz des Urbeiters, die nicht selten fehlende Übereinstimmung
Zwischen der Höhe des Lohnes für eine Urbeit und der Mühe, die sie
verursacht, das zeitweilige empfindliche Zurückbleiben des Ungebots
hinter der Nachfrage auf manchen Gebieten, alle diese Mißstände
der heutigen Wirtschaftsordnung, aus denen man gern ebensoviel
Nnklagepunkte gegen sie macht, sind in letzter Linie nur Folgeerschei-
nungen der weitgehenden wirtschaftlichen Freiheitsrechte, welche die
bestehende Wirtschaftsordnung ihren Mitgliedern gewährt, und sie
lassen sich nur beseitigen, wenn man auch diese Freiheitsrechte auf-
hebt. Der Streit zwischen Individualismus und Sozialismus spitzt
sich also schließlich notwendig auf die Frage zu: was ist vorzu-
ziehen, eine Wirtschaftsordnung, welche allen die
größtmögliche Bewegungsfreiheit gewährt, oder eine
Wirtschaftsordnung, die allen ihre wirtschaftliche Exi-
stenz von Staatswegen garantiert und eine mehr oder
weniger vollkommene ökonomische Gleichheit zwischen
ihnen herstellt? Venn die Lage der Dinge ist h'er eben die: Zwei
Ideale schweben den meisten Menschen vor, die sie in der Gesellschafts-
ordnung verwirklicht sehen möchten, das Ideal der Freiheit und das
Ideal der Existenzsicherheit und Gleichheit. Die Natur der Dinge hat
es nun aber so eingerichtet, daß man beide Ideale nicht zusammen in
einer und derselben Gesellschaftsordnung erreichen kann, sondern nur
das eine auf Kosten des anderen. Man kann das größte Maß von
wirtschaftlicher Freiheit nur dann erreichen in der Wirtschaftsord-
nung, wenn man dafür eine weitgehende Ungleichheit der Einkom-
mens- und Vermögensverhältnisse in Kauf nimmt. Ebenso aber kann
Man auf der anderen Seite annähernde ökonomische Gleichheit und
Sicherung der Existenz aller in einer Gesellschaft nur verwirklichen,
wenn man dafür die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des einzelnen
Zu opfern bereit ist. Gder, wie Goethe schon kurz und bündig es



Öffentlicher Betrieb und INonopolwesen

157

vor dem Aufkommen neuer Konkurrenz genießt. Zwischen völlig
freier Konkurrenz und wirklichem Monopol gibt es eben im Wirt-
schaftsleben noch eine Reihe von Zwischenstufen, und das Gebiet
dieser Zwischenstufen ist es, auf welches die öffentliche Unterneh-
mung in neuerer Zeit ihre Herrschaft ausgedehnt hat. Vas ist aber
kein Zufall, sondern das hat seinen tiefen Sinn. Und diese Tatsache
ist nicht ein Zeichen der Stärke, sondern ein Zeichen der Schwäche des
öffentlichen Betriebs. In ihr kommt zum Ausdruck, daß die öf-
fentliche Unternehmung sich eben nur auf solchen Gebieten zu be-
haupten vermag, wo nicht der scharfe Wind völlig freien Wett-
bewerbs weht, sondern wo es sich um konkurrenzgeschützte Plätze
handelt. Vas ist das eine. Vas andere Moment aber, das bei der
neuerlichen Ausbreitung des öffentlichen Betriebs eine Rolle ge-
spielt hat, ist das, daß da, wo einzelne Betriebe oder Gewerbezweige
in eine solche bevorzugte, monopolartige Stellung gelangen, dann
sehr starke Gründe dafür sprechen, dem öffentlichen Betrieb den Vor-
zug vor dem privaten zu geben. Venn hier besteht dann immer die
Gefahr, daß die privaten Unternehmer ihre begünstigte Stellung
zur Erzielung abnorm hoher Gewinne ausnutzen. Zum mindesten ist
die öffentliche Meinung regelmäßig von einem starken Mißtrauen
nach dieser Richtung — und sicher nicht ohne Grund — erfüllt.
Sie läßt sich von der Erwägung eines amerikanischen Gerichtshofes
leiten, der in einem Prozeß gegen den Standard-Dil-Trust sich einmal
dahin aussprach, es sei nicht angebracht, der menschlichen Natur da
zu trauen, wo ihr Gelegenheit gegeben sei, sich auf Kosten anderer zu
bereichern, wo sich im Wirtschaftsleben durch die Natur der Ver-
hältnisse selbst monopolähnliche Stellungen herausbilden, da ent-
scheidet sich darum die öffentliche Meinung gewöhnlich mit großer
Wucht und Bestimmtheit dafür, daß diese Betriebe in der Hand des
Staates oder der Gemeinde am besten aufgehoben seien.

Vas find die wahren Gründe für das in den letzten Jahrzehnten
festzustellende Vordringen des öffentlichen Betriebs. Vagegen ist es
eine falsche Deutung der Tatsachen, wenn man daraus den Schluß

Pohle, Kapitalismus und Sozialismus, 2. klufl.	H

68

1,4. Der Sozialismus

ohne auf die wirtschaftlichen Freiheitsrechte, die der Staatsbürger in f
der heutigen Wirtschaftsordnung genießt, verzichten zu müssen. So c
versichern die Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus regel- >
mäßig, daß auch in ihrem Zukunftsstaat die freie Ledarfsbildung,	i

die heute herrscht, bestehen bleiben soll, daß jeder selbst soll ent-	i

scheiden können, was er konsumieren will. Zu diesem Zweck wollen '
sie auch das Geld etwa in Form von Bescheinigungen über die gelei- '
stete Arbeit beibehalten, aus Grund deren dann jeder aus den Waren-
lagern der Gesellschaft das ihm Zusagende in entsprechenden Wen-
gen entnehmen kann. Und ebenso wie die Freiheit des Konsums
soll im kollektivistischen Staat auch die Freiheit der Arbeit erhalten
bleiben, letztere wenigstens in dem Sinne, daß der Arbeiter selbst
bestimmen kann, in welchem produktionszunige er beschäftigt sein will.

Daß der wissenschaftliche Sozialismus Freiheit des Konsums und
Freiheit der Arbeit in seinem Zukunftsstaat aufrechterhalten will,
darf man als ein wertvolles Zugeständnis buchen. Er gibt damit
zu erkennen, daß er die soziale Bedeutung dieser Einrichtungen rich
tig erkannt hat. Dem Menschen diese Einrichtungen nehmen, heißt
ihm seine würde nehmen und ihm etwas zumuten, was gegen seine
Natur geht. Line ganz andere Frage ist es nun aber, ob im kollekti-
vistischen Gemeinwesen Freiheit des Konsums und Freiheit der Ar-
beit sich wirklich auf die Dauer werden aufrechterhalten lassen. AN
dem guten Villen und der ernsten Absicht vieler Anhänger des wissen-
schaftlichen Sozialismus, diese Einrichtungen wirklich einzuführen,
soll damit nicht im geringsten gezweifelt werden, es fragt sich nur
eben, ob die Umstände ihnen auch gestatten werden, ihr versprechen
einzulösen. Die sozialen Einrichtungen haben ihre eigene Logik. Er
kommt nicht darauf an, welche Zusammenstellungen
von sozialen Einrichtungen uns in den Parteiprogram-
men versprochen werden, sondern welche Einrichtun-
gen durch die Natur der Dinge innerlich miteinander
verknüpft sind und daher notwendig auseinander folgen. Unsere
Sozialisten schalten und walten auf dem geduldigen Papier mit den

Zukunstsstaatsphantasie

131

auf dieses Ergebnis entrüstet fragt: „wie ist es möglich, daß die
Mehrzahl trotz harter Arbeit dem Llend preisgegeben bleibt, wenn

schaft. Unter völliger Verkennung der Verhältnisse glaubte Hertzka für die
österreichische Landwirtschaft folgende Rechnung aufstellen zu können. Tr will
ermitteln, wieviel Arbeitskräfte unter österreichischen Verhältnissen zur
Beschaffung der wichtigsten Nahrungsmittel bei rationellster Technik er-
forderlich sind. Dabei geht er von der Voraussetzung aus, „daß der in
Österreich tatsächlich in Uultur genommene Soden zur Beschaffung der
sämtlichen Brotstoffe, des Fleischbedarfs sowie der Rohstoffe für die In-
dustrie genügt. Die hierzu erforderliche menschliche Arbeitskraft dagegen
wurde nicht nach den tatsächlichen Verhältnissen, sondern unter der An-
nahme eines mit allen Hilfsmitteln moderner Technik ausgestatteten Groß-
betriebs berechnet, wie er stellenweise auf den großen Farmen des ameri-
kanischen Westens im Schwung ist. Dort rechnet man, wenn vampfpflüge,
Erntemaschinen und Dampfdreschmaschinen in Verwendung sind, fünf Ar-
beitstage auf den Hektar, was für die 10,6 Millionen Hektar österreichi-
schen Ackerbodens und mutatis wntsnäis auf die drei Millionen österrei-
chischen Wiesengrundes 220 000 Jahresarbeiter ergibt". — Diese Rech.
Nung schwebt aber völlig in der Luft. Ts wird bei ihr gänzlich die entschei-
dende Tatsache übersehen, daß die amerikanische Landwirtschaft die viel
größere Arbeitsproduktivität, die sie allerdings auszeichnet, nur mit Hilfe
des extensiven, sich mit geringen Trnten von der Fläche begnügenden Cha-
rakters, der ihr eigentümlich ist, erreichen kann. Der extensive Charakter
der amerikanischen Landwirtschaft — die Weizenernten vom Hektar sind
in der Union regelmäßig nur halb so groß wie im Deutschen Reich —
ist aber wieder nur möglich durch das günstige Verhältnis, das dort noch
Zwischen Bodenfläche und Menschenzahl besteht, wollte man in der öfter,
reichischen Landwirtschaft eine ähnlich hohe Arbeitsproduktivität wie in
Amerika erzielen, so müßte man ihr mindestens die drei- bis vierfache Fläche
der jetzt von ihr bestellten zur Verfügung stellen können. Das Bodener-
tragsgesetz, die Tatsache, daß mit steigender Intensität der Bebauung die
Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft sinkt, zeigt eben hier seine ver-
hängnisvolle Wirkung, (vgl. meinen Aufsatz über das Gesetz des abneh-
menden Bodenertrags in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft", Iahrg.
1916, S. 283 ff.) — In ähnlichen phantastischen Berechnungen, wie sie bei
Hertzka zu finden sind, ergeht sich auch Ballod in seinem Luche „Der
^ukunftsstaat. Produktion und Ronsum im Sozialstaat". 2. Aufl. 1919.
Bach ihm läßt sich die ständige, fortlaufende Arbeit mit einer rund sechsjäh.

fügen zu können. So ist aus dem Familieneigentum allmählich ein
individuelles Eigentum geworden.

Mt der Erklärung der Entstehung des individuellen Privat-
eigentums ist aber für die Entstehung der individualistischen Wirt-
schaftsordnung noch nichts gewonnen. Privateigentum bleibt Privat-
eigentum, gleichviel, ob es ein Familien- oder ein individuelles Pri-
vateigentum ist. Und es hat auch nicht viel Zweck, die angeblich
kommunistischen formen der Landnutzung, die man bei einer Reihe
von Völkern auf einer bestimmten Entwicklungsstufe findet und die
man dazu benutzt hat, den Sozialismus als das die Rnfänge der
Wirtschaftsentwicklung der Menschheit beherrschende Prinzip hinzu-
stellen, in diese Erörterung hereinzuziehen. Bei diesem sogenannten
primitiven Lodenkommunismus bleibt gerade die entscheidende Frage
oft unklar, ob nämlich das gemeinsame Bodeneigentum nicht eben nur
die Folge davon ist, daß alle Nutzungsberechtigten sich noch als
die Mtglieder eines Familienverbandes betrachten und fühlen, von
individualistischer und sozialistischer Wirtschaftsordnung zu sprechen,
hat überhaupt nur Sinn, wenn die Entwicklung schon zur Ausbildung
einer eigentlichen Staatsgewalt und zur Trennung der alten Sippen-
verbände in wirtschaftlich vollkommen selbständige Sonderfamilien
geführt hat. Und einer der Grundgedanken des Sozialismus liegt
darin, daß der Familienegoismus durchbrochen und von Staats wegen
eine wirtschaftliche Solidarität der Volksgenossen herbeigeführt wer-
den soll, die über den natürlichen Familienzusammenhang hinaus-
geht. Sozialismus bedeutet stets eine Verneinung des wirtschaftlichen
Hamilienzusammenhalts zugunsten des wirtschaftlichen Verbunden-
seins größerer Nreise.

Daraus folgt aber: solange die Entwicklung der sozialen Gemein-
schaften noch nicht zur Bildung größerer verbände geführt hat, die
über die durch Blutsverwandtschaft sich verbunden fühlenden Sip-
pen- oder Stammesverbände weit hinausgehen, kurz, solange noch>
nicht eigentliche Staaten entstanden sind, können dieBegriffe Indi-
vidualismus und Sozialismus im Grunde überhaupt noch nicht zur

Vorwort zur zweiten Auflage.

Dieses Büchlein wollte von Anfang an mehr sein als nur eine Ge-
legenheitsschrift. Es bemühte sich, eine prinzipielle Auseinander-
setzung mit der radikalen Form des Sozialismus zu bieten, die auch
unabhängig von den besonderen Verhältnissen des Zeitpunktes ihrer
Entstehung ihre Bedeutung behält. Bei der Bearbeitung der zweiten
Auflage habe ich daher auch nur sehr wenig zu tilgen brauchen, was
an die speziellen Zeitumstände bei der Entstehung der Schrift er-
innerte. Im übrigen ist der Lharakter des Büchleins unverändert
geblieben. Insbesondere habe ich der Versuchung widerstanden,
manchen Darlegungen, die an sich wohl eine ausführlichere Be-
gründung verdienten, diese jetzt nachträglich zu geben. Worauf ich
hier verzichten mußte, wenn ich nicht den ganzen Lharakter der Schrift
zerstören wollte, dazu hoffe ich aber bald an anderer Stelle und in
größerem Zusammenhange Gelegenheit zu finden.

Je mehr in der Gegenwart von „Sozialismus" gesprochen wird,
um so unbestimmter und verschwommener ist der Sinn des Aus-
drucks geworden. Für die einen ist Sozialismus nur die zusammen-
fassende Bezeichnung für eine Summe von sozialen Reformen ge-
worden, die mit den Grundlagen der heutigen Wirtschaftsordnung
wohl vereinbar sind und durch allmähliche Umbildung des Bestehen-
den erreicht werden sollen, für die anderen bedeutet Sozialismus auch
heute noch eine ganz neue Wirtschaftsordnung, die nur nach völligem
Umsturz der bestehenden errichtet werden kann. Werden doch die
Ausdrücke „Sozialisierung" und „Sozialismus" geradezu schon als
Gegensätze verwendet. Bei dieser Unbestimmtheit der herrschenden
Terminologie sei ausdrücklich betont, daß es hier nur auf eine Aus-
einandersetzung mit der extremen Form des Sozialismus, dem
eigentlichen Rommunismus, abgesehen ist, von dem aber auch der
Marxismus oder wenigstens das, was von zahlreichen Sozialisten
für Marxismus gehalten wird, sehr viel in sich aufgenommen hat.

Der „Schrei nach Sozialisierung", der psychologisch bei der großen
Masse überhaupt wohl nur als ein verzweiflungsschrei über das
durch den Weltkrieg entstandene Elend zu werten war, ertönt ja jetzt

] 14	II, 2. Die Arbeitslosigkeit

einerseits sowie die vermehrte Nachfrage nach Arbeit, welche die
Verbilligung der Produktion durch die Maschine regelmäßig irgend-
wo hervorruft, andererseits auf örtlich und beruflich getrenn-
ten Arbeitsmärkten sich abspielen und ein Ausgleich zwischen diesen
Arbeitsmärkten, wenn überhaupt, erst nach längerer Zeit zu er-
zielen ist.

Zum Schluß noch einige Worte über die in manchem Betracht wich-
tigste Ursache der zeitweisen abnormen Steigerung der Arbeitslosen-
ziffer. Das ist das periodische Anschwellen der Arbeitslosenziffer,
das im Gefolge der allgemeinen Schwankungen der industriellen
Konjunktur auftritt und so ziemlich die ganze Industrie, wenn auch
in den einzelnen Geilen in sehr verschieden starkem Maße, in
Mitleidenschaft zieht. Diese Art der Arbeitslosigkeit, die Rrise kl-
ar beitslosigkeit, ist es ja, die der modernen kapitalistischen
Volkswirtschaft vom Sozialismus in ganz besonderem Maße zum
Vorwurf gemacht wird.

Unser Wirtschaftsleben zeigt in seinem Verlauf einen regelmäßi-
gen Wechsel zwischen Aufschwungs- und Depresflonsperioden, zwi-
schen Zeiten der raschen geschäftlichen Ausdehnung und Zeiten, in
denen das Wachstum des Wirtschaftslebens stockt oder doch wenigstens
viel langsamer wird. Und der Umschlag der Aufschwungsperiode in
die Depressionszeit ist gewöhnlich von dem Ausbruch einer mehr
oder weniger heftigen Wirtschaftskrisis begleitet, die sich im Zusam-
menbruch zahlreicher Unternehmungen, in Geldklemmen, Rreditver-
weigerungen und anderen auffallenden Erscheinungen äußert. Vieser
eigentümliche Rhythmus der industriellen Entwicklung der modernen
Volkswirtschaft wird gern mit ihrem kapitalistischen Lharakter in Zu-
sammenhang gebracht. Und hier in der Tat mit Recht, wenn auch
der Ausdruck „kapitalistisch" hierbei in ganz anderem Sinne zu ver-
stehen ist als in dem, der gewöhnlich mit dem Ausdruck kapita-
listische Produktionsweise verbunden wird. Der für das moderne
Wirtschaftsleben so charakteristische periodische Wechsel zwischen Auf-
schwungs- und Depressionszeiten kann nämlich nicht einfach als die

Landwirtschaft und Sozialismus

149

der heutigen Wirtschaftsordnung zu halten. Das Sparen, das unter
allen Umständen und in jeder möglichen Rechtsordnung des Wirt-
schaftslebens die Voraussetzung für die Produktion neuen Realkapi-
tals bildet, kann in einem sozialistischen Gemeinwesen denkbarer-
weise in zwei Formen vor sich gehen, entweder wie heute als freiwilliges
Sparen einzelner Privatpersonen, oder aber so, daß der Staat selbst
es besorgt, indem er die Preiszuschläge zu den Selbstkosten, die er bei
der Festsetzung der preise für die in seinen Betrieben hergestellten
Produkte erhebt, ansammelt und unmittelbar für die Vermehrung
des Realkapitals bestimmt. In beiden Fällen wird es außerordent-
lich schwer sein, zu erreichen, daß jährlich ein ebenso großer Teil
des Volkseinkommens gespart wird wie das heute geschieht. Im ersten
Falle steht dem vor allem die größere Gleichheit der Einkommens-
verhältnisse, welche die sozialistische Gesellschaft herstellen will, ent-
gegen. Ls kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine stark diffe-
renzierte Einkommensverteilung, mag man sonst über sie denken wie
man will, das Sparen stark erleichtert. Für einen Mann, der
150000 Mark Einkommen bezieht, ist es doch viel leichter, jährlich
50000 Mark zurückzulegen, als es für 50 Arbeiter, von denen jeder
3000 Mark Einkommen bezieht, ist, auch nur 25 000 Mark zusammen-
zusparen.

wird aber das Sparen von der Regierung selbst mit besorgt, so
läuft es ja seinem Wesen nach auf nichts anderes als auf eine Form
der indirekten Besteuerung hinaus, und es wird über diese Form der
Besteuerung im Sozialstaate ebenso heftige Rümpfe geben, wie sie
überhaupt über jede Besteuerung sich entspinnen. Dem Sparen wird
das keinesfalls günstig sein. Die Regierung wird es aus naheliegen-
den Gründen in möglichst engen Grenzen zu halten suchen.

Dazu kommt aber weiter noch die ernste Frage, ob im Sozialstaate,
selbst wenn seine Sparwilligkeit sehr hoch entwickelt sein sollte, auch
die Sparfähigkeit ebenso groß ist wie heute. Die Sparfähigkeit
einer Volkswirtschaft, die Summe der möglichen Ersparnisse, hängt
ja in erster Linie ab von dem Stande der Produktivität der Arbeit,

übrigens auch die in der sozialistischen Literatur zuerst auftretende
ist. Diese Richtung strebt danach, das oberste Rechtsprinzip, auf dem
die heutige Wirtschaftsordnung beruht, aufzuheben und durch das
entgegengesetzte Rechtsprinzip zu ersetzen. Vas oberste Rechtsprinzip
der heutigen Wirtschaftsordnung ist aber, wie früher gezeigt wurde,
nicht das Privateigentum an sich, das selbst erst wieder eine Ronse-
quenz dieses Rechtsprinzips ist, sondern es ist der Grundsatz der wirt-
schaftlichen Selbstverantwortlichkeit des einzelnen. Rn Stelle dieses
Rechtsprinzips soll nach sozialistischer Ruffassung gerade das entgegen-
gesetzte für das Verhalten des Staats zum Wirtschaftsleben bestim-
mend werden. Der Staat soll selbst die Fürsorge für die wirtschaft-
liche Existenz seiner Bürger übernehmen. Sn Übereinstimmung mit
dem in 'der Wissenschaft herrschenden Sprachgebrauch wollen wir
diese Richtung des Sozialismus, die den sozialistischen Standpunkt
zweifellos am reinsten und konsequentesten durchführt, als Rom-
munismus bezeichnen. Im Mittelpunkt des spezifisch kommunisti-
schen Gedankenkreises steht dem Gesagten gemäß die Forderung des
„Rechts auf Rrbeit", d. h. die Sicherung der wirtschaftlichen Exi-
stenz der einzelnen durch den Staat, und zwar nicht bloß im Sinne
eines Rnspruchs auf Rrbeitslosenunterstützung, den derjenige gel-
tend machen kann, dem es nicht gelingt, eine Stelle zu finden, sondern
im Sinne der Forderung, daß der Staat eine Grganisation der Wirt-
schaft schafft, die die Möglichkeit der Stellenlosigkeit von vornher-
ein ausschließt. Die wirtschaftliche Existenz der Mitglieder des Ge-
meinwesens soll, so will der Sozialismus, überhaupt von allen Zu-
fälligkeiten der Geburt und allen Schwankungen der Ronjunktur un-
abhängig gemacht, sie soll vom Staate auf eine gesicherte und für
alle möglichst gleiche Grundlage gestellt werden.

Garantie der wirtschaftlichen Existenz aller Staats-
bürger durch den Staat ist das eigentliche Ziel und der eigent-
liche Grundgedanke des Sozialismus. Die Rufhebung des Privat-
eigentums und die Einführung des Gemeinbesitzes an den Produk-
tionsmitteln, die die gewöhnliche oberflächliche Betrachtung der Dinge

98

11,1. Das arbeitslose Einkommen

während sie das Zinseneinkommen der Vermögensbildung zufüh-
ren und es somit der Aufgabe widmen, für die es recht eigentlich be-
stimmt ist, um so weniger wird sich unter sozialen Gesichtspunkten
gegen die Existenz des arbeitslosen Einkommens einwenden lassen.
Cassel selbst hat diesen Gedanken schon in einer älteren Schrift
einmal sehr treffend folgendermaßen formuliert: „Man könnte es
als eine ideale Pflicht der Gesellschaftsklassen, die in der Hauptsache
das Zinseinkommen beziehen, also der höheren Linkommensklassen,
bezeichnen, im ganzen eine entsprechende Summe zum Ankauf von
neuem Kapital zu verwenden. Tun sie das, dann erfüllen die Privat-
kapitalisten ihr Amt zu denselben Bedingungen, wie die sozialistische
Gesellschaft es tun würde, der Zinsfuß ist derselbe, wie er bei sozia-
listischer Drganisation der Volkswirtschaft sein würde. Dann würde
auch die strengste Kritik im beziehen eines Zinseinkomniens keine
Spur von Ausbeutung der ärmeren Klaffen entdecken können."

Selbstverständlich kann dieser Grundsatz aber nur für die Klasse
der Rentenbezieher im ganzen gelten, wie auch von Cassel ausdrück-
lich betont wird. Im einzelnen können zahllose Fälle vorkommen,
in denen selbst der strengste Moralist nichts dagegen wird einwenden
können, wenn das arbeitslose Einkommen für die persönliche Kon-
sumtion in Anspruch genommen wird, so, wenn etwa die Zinsen des
Vermögens oder unter Umständen auch dieses selbst dazu dienen, den
Kindern eine bessere Ausbildung zu schaffen. Schlimm stünde es
für die heutige Gesellschaft nur, wenn die Kapitalisten etwa all-
gemein dem Beispiel eines bekannten französischen Sozialistenführers
folgten, der, als ihm eine größere Erbschaft zugefallen war, im
Banne der sozialistischen Theorie befangen, mit dem ererbten ver-
mögen nichts Besseres tun zu können glaubte, als es in einigen
Jahren aufzuzehren und sich dann das Leben zu nehmen, um nicht
dauernd ein Mitschuldiger am System des Kapitalismus und dem
von diesem der Arbeit abgepreßten Tribut zu sein. Das ist gerade
das Gegenteil von dem, was auch soziale Rücksichten von uns eigent-
lich fordern. Vas Wohl der Gesellschaft macht den Kapitalbesitzern

Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

145

tut, in dem Eintritt einer allgemeinen Überproduktion in allen Ab-
teilungen des Warenmarktes zu sehen. Die Krisen nehmen nicht
mit einer allgemeinen Überproduktion in diesem Sinne ihren Anfang
— diese Erscheinung tritt, wenn überhaupt, erst im späteren Ver-
lauf der Krisis manchmal hervor, ist aber auch dann nur von sekun-
därer Bedeutung —, sondern sie beginnen regelmäßig mit einer
Produktionseinschränkung in ganz bestimmten Industrien. Die Pro-
duktionseinschränkung, zu der sich diese Industrien gezwungen sehen,
läßt sich aber unmöglich darauf zurückführen, es sei plötzlich offen-
bar geworden, daß zwischen ihrer Produktion und der Kaufkraft der
Bevölkerung ein Mißverhältnis bestehe. Die Absurdität dieser An-
nahme ergibt sich ohne weiteres daraus, daß es sich bei den Indu-
strien, die von den Krisen regelmäßig zuerst betroffen werden, gar
nicht um Industrien handelt, die für den Konsum der Bevölkerung
arbeiten. Es handelt sich vielmehr um die Produktionsmittelge-
werbe, um die Industrien, die das stehende Kapital der Volkswirt-
schaft Herstellen. Und der Umstand, der bei ihnen zeitweilig eine Pro-
duktionseinschränkung zur gebieterischen Notwendigkeit macht, ist
die Tatsache, daß die Industrie in der vorangegangenen guten Zeit,
verleitet durch den niedrigen Stand des Zinsfußes, bei der in Angriff
genommenen Ausdehnung ihrer Produktionsanlagen die durch die
Sparkraft der Volkswirtschaft gezogenen Grenzen nicht beachtet
hat. Das muß aber notwendig schließlich zu einer akuten Kapital-
knappheit führen. Vas ist das Mißverhältnis, um das es sich bei den
Krisen in Wahrheit handelt: die Ausdehnung der Produktionsanla-
gen ist über das durch die Sparkraft der Nation bezeichnete Maß
hinaus zu steigern versucht worden. Das ist aber selbstverständlich
ein unhaltbarer Zustand, und die Krisis bedeutet nichts anderes als
das Mittel, an dem unhaltbar gewordenen Zustande die notwendige
Korrektur vorzunehmen. Mit den Konsum- und Linkommensver-
hältnissen der lohnarbeitenden Klassen haben also die Krisen direkt
sehr wenig zu tun, höchstens kann durch die von Marx erwähnte Tat-
sache des Steigens des Arbeitslohnes in der Zeit vor der Krisis die

I. Die Grundlagen der gegenwärtigen Wirlschasts-
versassung und der Sozialismus.

Allgemeines.

Wenn man die Frage nach dem wesen der gegenwärtigen Wirt-
schaftsverfassung stellt, kann man sicher sein, daß daraus mit dem
Stichwort „Kapitalismus" oder „kapitalistische Produktionsweise" ge-
antwortet wird. Und regelmäßig verbindet sich damit zugleich die
Vorstellung, der sogenannte Kapitalismus sei ein relativ sehr junges
Gebilde, und mit ihm sei etwas ganz Neues und Unerhörtes, vorher
noch nicht Dagewesenes in die Welt gekommen, der moderne Kapi-
talismus und die Wirtschaftsformen, die ihm vorangingen, seien
gleichsam als zwei ganz verschiedene und durch einen tiefen klb-
grund getrennte wirtschaftliche Welten anzusehen.

Diese Nuffassung kann aber vor einer unbefangenen, von poli-
tischen Werturteilen freien und auf den Grund der Dinge drin-
genden vetrachtung nicht bestehen. Weder ist die Wirtschaftsver-
fassung, die gegenwärtig in allen Staaten europäischer Kultur
herrscht, ein so einfaches Gebilde, daß es überhaupt möglich wäre,
mit einem Worte schon alles zum klusdruck zu bringen, was zur
Kennzeichnung ihres Wesens zu sagen notwendig ist, noch auch ist
es berechtigt, den sogenannten Kapitalismus als etwas in den mei-
sten Ländern vor wenig mehr als 100 Jahren ganz neu Entstan-
denes und von den vorkapitalistischen Wirtschaftsformen grundsätz-
lich verschiedenes aufzufassen, kille derartigen kluffassungen des Ka-
pitalismus sind unhaltbar und enthalten gewaltige Übertreibungen.

5ehen wir zunächst zu, aus welchen Hauptbestandteilen die gegen-
wärtige Wirtschaftsverfassung sich zusammensetzt. Es find deren nicht

Entstehung des Kapitalismus

5

notwendig so zu fallen brauchte, zugunsten des Individualismus, der
erwerbswirtschaftlichen Produktionsweise und der Unternehmung zu
fällen!

5o eng die drei Grundlagen der heutigen Wirtschaftsverfassung
Zusammengehören, so bleibt, wenn wir das Wesen des „Uapitalis-
rous" klar erfassen wollen, nach dem Gesagten doch nichts anderes
übrig, als sie der Reihe nach einzeln zu betrachten. Dazu gehört
insbesondere auch, daß wir jede der drei sozialen Erscheinungen mit
ihrem Gegenstück vergleichen. Line soziale Einrichtung lernt man
überhaupt erst dadurch richtig kennen, daß man neben sie dasjenige
soziale System stellt, das außer ihr denkbarerweise auf dem frag-
lichen Gebiet herrschen könnte. So müssen wir hier der individua-
listischen Wirtschaftsordnung die verschiedenen Formen des Sozialis-
mus entgegenstellen, bei dem der Staat die wirtschaftliche Initiative
nicht mehr seinen Bürgern überläßt, sondern selbst die Leitung des
Wirtschaftslebens in mehr oder weniger großem Umfange in die
Hand nimmt, der erwerbswirtschaftlichen ist die konsumgenossen-
schaftliche Produktionsweise und der Unternehmung die Urbeiter-
produktivgenossenschaft entgegenzustellen.

Beginnen wir mit einer Betrachtung des individualistischen Uechts-
systems!

l.	Die individualistische Wirtschaftsordnung
und ihre Entstehung.

Me denkbaren Wirtschaftsordnungen lassen sich aus zwei Grund-
formen zurückführen: individualistische und sozialistische Wirtschafts-
ordnungen. Die Frage ist nur, worin liegt das eigentlich unterschei-
dende Merkmal zwischen Individualismus und Sozialismus? Und
kann man diese beiden Rechtssysteme, von denen jedes wieder einer
sehr verschiedenen Ausgestaltung im einzelnen fähig ist, auch mischen,
oder verhalten sie sich zueinander wie Feuer und Wasser?

Nehmen wir als Ausgangspunkt die Wirtschaftsordnung, wie sie
heute in allen Staaten europäischer Uultur, sowohl in Europa selbst.

48

l, 3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

werken, die bis dahin gemeinsam mit den anderen gearbeitet hatten,
die Fortsetzung der eigenhändigen Mitarbeit unmöglich oder un-
bequem, sie wollten aber dennoch auch weiterhin am Ertrage des
Bergwerks teilhaben. Solche Anlässe, durch welche manche aus den
Kreisen der mitarbeitenden Gewerken herausgezogen wurden, be-
standen in Veränderungen der wirtschaftlichen Lage, Auswande-
rung, Erbgang u. dgl. mehr, vor allem kam auch der Fall häu-
figer vor, daß Gewerken ihre Bergwerksanteile auf Töchter ver-
erbten. Während in diesem Falle die Kapitalisten aus dem Stande
der arbeitenden Gewerken hervorgingen, beruht der zweite Anlaß
zur Anwendung des Kostvertrags und damit zur Trennung von
Kapital und Arbeit auf dem durch die Einführung des Stollenbaus
in jener Zeit stark gesteigerten Kapitalbedarf des Bergbaus. Um
das zur Anlegung von Stollenbauten, Schächten, Pumpwerken usw.
erforderliche Kapital aufzubringen, reichte die eigene Kapitalkraft
der Gewerken nicht aus. Man mußte dazu Kapital auch aus nicht
bergmännischen Kreisen heranziehen. Und zwar geschah das eben
in der Weise, daß Kapitalisten Anteil am Ertrage des Bergbaus
gewährt wurde, wofür sie sich verpflichten mußten, regelmäßige
Zahlungen zur Herstellung der erforderlichen Bergwerksanlagen zu
leisten.

Durch die Ausbreitung des Kostvertrags in diesem Sinne ist all-
mählich der produktivgenossenschaftliche Eharakter der alten Ge-
werkschaft zerstört worden, und schließlich ist unter Benutzung ver-
schiedener Zwischenformen, wie vor allem der Lehnschaft und der
Teilmiete, an die Stelle der genossenschaftlichen Gewerkschaft überall
Unternehmertum und Lohnarbeit getreten. Im Bergbau des Harzes
findet sich Lohnarbeit schon seit dem l2. Jahrhundert in größerem
Umfange, in den übrigen deutschen und den österreichischen Berg-
baubezirken datiert ihr Überwiegen etwa seit dem 15. Jahrhunderts)

Das Vorkommen produktivgenossenschaftlicher Grganisationsfor-
men im Bergbau ist also eine Erscheinung primitiver, noch wenig

3) Alle diese Angaben nach Bernhard, a. a. ®., passim.

78

i,4. Der Sozialismus

Jungen gehabt. (Es ist ja bekannt, daß die russische Landwirtschaft
in vielen Beziehungen technisch noch weit hinter der west- und
mitteleuropäischen zurücksteht, und daß der russische Bauer dem Loden
infolgedessen nur sehr geringe Ernten abzugewinnen vermag. Vas
hängt nicht nur mit dem niedrigen Stand der Volksbildung in Ruß-
land, der Ungunst mancher klimatischer Faktoren usw. zusammen,
sondern eine ganz wesentliche Ursache hierfür sind auch die kollekti-
vistischen Besitzverhältnisse am Bauernland. Es liegt ja auch auf
der Hand, daß dieses System als ein Hemmschuh des wirtschaftlichen
Fortschritts wirken muß. Es hindert vor allem das vorwärtskom-
men der wirtschaftlich regsameren und tüchtigeren Elemente. Diese
haben bei dem IHir kein echtes Ziel für ihr Streben. Denn was
sie auf ihrem Land etwa Besseres schaffen, dessen können sie ja
bei der nächsten allgemeinen Umteilung wieder beraubt werden. Und
vor allem sind sie nicht imstande, durch Fleiß, Sparsamkeit und
Energie ihren Landanteil zu vergrößern. (Es bleibt bei diesem System
so gut wie kein Spielraum für „das natürliche Streben jedes Men-
schen, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern", wie Udam Smith es
genannt hat. Dafür war freilich der Gesamtheit der Dorfgenossen
ihre wirtschaftliche Existenz garantiert, aber eben nur eine Existenz,
die mit dem weiteren Unwachsen der Bevölkerung immer proletari-
scher werden mußte.

Ivegen der offenkundigen schweren wirtschaftlichen und sonstigen
Mängel dieses Systems war bereits vor dem Uriege unter dem Mi-
nisterium Stolypin eine großzügige Uktion zur Uufhebung dieser
kommunistischen Besitzverhältnisse eingeleitet worden. Ruf jeden Fall
gehört dieses Wirtschaftssystem, über dessen historischen Ursprung
die Meinungen noch stark auseinandergehen, entwicklungsgeschicht-
lich betrachtet, dem Wirtschaftsleben der Vergangenheit an. Im
Wirtschaftsleben der Gegenwart dagegen erscheint es als ein an-
organischer Bestandteil, der zu den modernen Formen der Organi-
sation der Rrbeit nicht recht passen will. Der bäuerliche Gemein-
besitz am Grund und Loden in Rußland läßt sich nämlich, kurz ge-

Der Ursprung des Uapitalzinses

SI

entstanden, man könne gar nicht mehr mit gutem Gewissen An-
hänger der bestehenden Wirtschaftsordnung sein. An diesem Zustand
ist die deutsche akademische Wissenschaft nicht ohne Mitschuld. So-
weit die deutschen Nationalökonomen in den hier vor allem in Frage
kommenden Lehren über den Ursprung des Uapitalzinses und der
Grundrente sich nicht ebenfalls direkt auf einen von dem sozialistischen
kaum noch zu unterscheidenden theoretischen Standpunkt stellten,
haben sie es in ihrer Abneigung gegen die theoretische Forschung meist
vorgezogen, die klare und präzise Stellungnahme zu diesen Fragen
Zu umgehen. In ihrer Vorliebe für die historisch-deskriptive Forschung
sahen sie in der Erörterung solcher theoretischer Probleme nichts Bes-
seres wie „scholastischeDenkübungen" (Schmokier). Jedenfalls ist die
akademische Nationalökonomie in Deutschland in den letzten Jahr-
Zehnten nicht imstande gewesen, eine nationalökonomische Theorie
aufzustellen, die in solchen grundlegenden Fragen wie denen nach
dem Ursprung des Zinses und der Grundrente irgendwie die tton-
kurrenz mit den sozialistischen Lehren hätte aufnehmen können. Die
deutschen Nationalökonomen der letzten anderthalb Menschenalter
abgesehen nur von den aber in Deutschland selbst nur wenig
Einflußreichen Österreichern — waren in theoretischer Hinsicht im
besten Fall Eklektiker,- eine Theorie, die sich aus lauter von ver-
schiedenen Lehrgebäuden entnommenen Bausteinen zusammensetzt, ist
über im Grunde keine Theorie. Jedenfalls war öiese Art Theorie au-
ßer stände, gegen ein so einheitliches und geschlossenes System wie das
des Marxismus und der auf ihm beruhenden Ausbeutungstheorie ein
Gegengewicht zu schaffen. So ist es kein Wunder, wenn viele Stu-
denten, überhaupt zahlreiche Gebildete in Deutschland, eine leichte
Leute der sozialistischen Theorien geworden sind. Andere sind vor
diesem Schicksal wohl nur durch die gesunden Instinkte, die in ihnen
sich regten, bewahrt geblieben. Ein Verdienst unserer akademischen
kvissenschaft und der Widerlegung, die sie den Irrtümern des theore-
tischen Sozialismus hat zuteil werden lassen, ist es aber nicht, war sie
doch diesen Irrtümern zum großen Teil selbst verfallen. —

Die Lrwerbswirtschaft als Pionier des Fortschritts

35

Gen seitigkeitsprinzip, obwohl dieses, wenn man die Dinge rein theore-
nsu- tisch betrachtet, die Durchführung jeder beliebigen neuen versiche-
ein rungsart im höchsten Grade zu erleichtern scheint. In Wahrheit
oohl ist die erste Erprobung neuer Versicherungszweige in neuerer Zeit
aber doch ganz überwiegend durch Aktiengesellschaften erfolgt. Das
in gilt in Deutschland namentlich für die Einbruchdiebstahl-, die Rredit-,
Ge- die Sturmschäden-, die Maschinen- und die Wasserleitungsschäden-
!sem Versicherung. Eine scheinbare Ausnahme hiervon macht nur die haft-
)ro- Pflichtversicherung. Die erste Versicherungsanstalt auf diesem Ge-
- zu	biete war eine Gegenseitigkeitsgesellschaft. Aber sehr bezeichnender-

des-	weise sind der ersten Gegenseitigkeitsgesellschaft auf diesem Gebiete

das später nur noch Aktienunternehmungen gefolgt, und man hat da-
aus her mit Recht gesagt, daß diese Erscheinung nur eine Scheinausnahme
lich. von der vorhin aufgestellten Regel bildet?)

Zahl Die Rolle als Pionier des wirtschaftlichen Fortschritts fällt also
sier, in unserem Wirtschaftsleben ganz offensichtlich der erwerbswirtschafb-
liche lichen Produktionsweise zu. Ronsumgenossenschaftliche Grganisatio-
des nen dagegen stellen sich regelmäßig erst ein, wenn die Bedarfsfrage
orm	bereits als gelöst gelten kann, wenn es feststeht, daß ein	weitver-

die	breitster und regelmäßig wiederkehrender Bedarf vorliegt.	Und die

[lein treibende Rraft bei der Gründung konsumgenossenschaftlicher Ein-
,aft- Achtungen ist dann oft das, sei es mit, sei es ohne Grund sich regende
das Mißtrauen, bei der erwerbswirtschaftlichen Gestaltung der Produk-
bten tion fließe einzelnen Personen ein ganz unverdient hoher Gewinn
rich- Zu. Das Streben, die Gewinne privater Produzenten herabzudrücken,
Gen und überhaupt die Hoffnung, durch die Ronsumgenossenfchaft eine
und billigere Bedürfnisbefriedigung zu erzielen, pflegt eine der Haupt-
rbs-	triebkräfte bei der Wahl dieser Produktionsweise zu sein. Prak-

üen- , Asch bedeutsam wird das besonders da, wo auf einzelnen	produk-

Aonsgebieten durch kartellmäßigen Zusammenschluß, also Preiskon-

rbs-

die

gen-

2) Treffend näher ausgeführt bei f). Bleicher in dem Gutachten für den
V- Internationalen Versicherungskongretz 1906 über „die Grenzen der ver-
Ücherungsmöglichkeit".

Arbeitslosigkeit und kionsumfreiheit

II!

im Winter aber 3,40 °/o der Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Am größ-
ien ist der Unterschied zwischen Sommer und Winter, abgesehen von
der absolut ziemlich unbedeutenden Berufsgruppe, welche die Fabrik-
arbeiter, Gesellen usw. ohne nähere Bezeichnung umfaßt, im Bau-
gewerbe. In dieser Berufsgruppe waren im Sommer 2,87, im Win-
ter jedoch 15,61 o/a der Gesamtzahl arbeitslos. Die arbeitslosen Bau-
arbeiter stellen demgemäß auch bei allen großstädtischen Arbeitslosen-
Zählungen im Winter das lfauptkontingent der Arbeitslosen.

Die regelmäßig in jedem Winter auftretende Arbeitslosigkeit der
Laisongewerbe ist nun aber nicht die einzige Ursache für die zeitweise
abnorme Steigerung der Arbeitslosigkeit im modernen Wirtschafts-
leben. Die Zahl der Arbeitslosen kann auch noch aus anderen Grün-
den über das vorhin angegebene, auch in Zeiten des besten indu-
striellen Geschäftsgangs nicht zu vermeidende Blaß hinaus anwach-
sen. Diese Erscheinung steht dann regelmäßig im Zusammenhang
mit wirtschaftlichen Störungen, mit krisenartigen Vorgängen, wir
werden hierbei zweckmäßig wieder zwei Fälle unterscheiden, näm-
lich einerseits die Arbeitslosigkeit im Gefolge von einmaligen
wirtschaftlichen Störungen, die einzelne Produktionszweige betreffen,
und andererseits die Arbeitslosigkeit im Gefolge der periodischen
Konjunkturschwankungen, von denen die ganze Industrie
im modernen Wirtschaftsleben heimgesucht wird.

Bei den einmaligen wirtschaftlichen Störungen ist — von elemen-
taren, politischen und sozialen Ereignissen (Urieg, Streik) abgesehen
— vor allem an Bedarfs Verschiebungen sowie an die Lin-
führung von arbeitsparenden technischen Erfindungen
ZU denken. Die Art und weise, wie die Arbeitslosigkeit zustande
kommt, ist dabei in beiden Fällen im Grunde die gleiche. Es genügt
daher, das Typische des Vorgangs, der sich hierbei abspielt, am Bei-
spiel der Bedarfsverschiebungen etwas näher zu erläutern.

Die Freiheit des Uonsums ist ja, wie gezeigt, ein Grundgesetz un-
serer Wirtschaftsordnung. Die Freiheit des Uonsums bewirkt aber,
daß die Gunst der Mode sich bald diesem, bald jenem Artikel zu-

8'

Die wirtschaftlichen Folgen der llapitalknappheit

14!

tionszweige verstaatlicht, unberechtigterweise auch aus den Fall, daß es
sich um die Verstaatlichung oder Sozialisierung der gesamten Pro-
duktion handelt, wenn der Staat sich zur Übernahme eines einzelnes
Industriezweiges in die staatliche Verwaltung entschließt, dann ist
es allerdings für ihn eine Uleinigkeit, die ganze Produktion aus
diesem Gebiete, die bisher vielleicht sehr zersplittert war, in einigen
Großbetrieben zu konzentrieren und diese mit den neuesten Maschinen
auszustatten. So würde der Staat beispielsweise voraussichtlich bei
der Einführung eines Tabakmonopols in Deutschland verfahren. Kn
die Stelle der jetzigen ungemein dezentralisierten Produktionsweise
in zahlreichen heimarbeiterbetrieben würde er nach französischem
oder österreichischem Muster einige wenige Riesensabriken setzen.
Was der Staat mit Leichtigkeit kann, wenn es sich nur um die Ver-
staatlichung einzelner Industrien handelt, das kann er aber nicht,
wenn die gesamte Produktion mit einem Male von ihm übernom-
men werden soll, wollte der Staat auch in diesem Falle das Pro-
gramm: sofortige Ausrüstung des gesamten Wirtschaftslebens mit
den vollkommensten Produktionseinrichtungen durchführen, so würde
dazu auch in einer sozialistischen Gesellschaft Uapital, Uapital und
noch einmal Uapital gehören. Mehr Uapitalgüter, wie Maschinen,
Fabrikgebäude, Elektrizitätswerke, Eisenbahnen usw. Herstellen, das
bedeutet aber immer diejenige Produktion ausdehnen, die auf die
Zukunft gerichtet ist, und dafür diejenige einschränken, die der Be-
friedigung des laufenden Uonsums gewidmet ist. wenn aber ein viel
größerer Teil der Arbeiterschaft als bisher mit der Gewinnung von
Uohlen und Eisen, der Herstellung von Maschinen und Fabrikgebäu-
den usw. beschäftigt werden soll, so ist das nur möglich, wenn die
Gesamtarbeiterschaft ihren Uonsum beschränkt, wenn etwa alle Ar-
beiter auf halbe Löhne oder Nahrungsmittelrationen gesetzt werden.
Beginnt indessen ein sozialistischer Staat seine Tätigkeit in dieser weise
mit einer Herabsetzung der Bezüge der Arbeiter, nur um den techni-
schen Fortschritt recht rasch durchführen zu können, dann wird es
wohl mit seiner Beliebtheit sehr schnell vorbei sein. Venn nicht zur

Pohle, Kapitalismus und Sozialismus, 2. stufl.	10

—

Russische (Erfahrungen mit dem Staatsbetrieb

165

die grundsätzlich für allgemeinen Staats- und Gemeindebetrieb eintreten,
setzen es nicht immer gern, wenn durch partielle verstaatlichungs- oder
Rommunalisierungsaktianen einzelne Gruppen der Arbeiterschaft unter
ganz andere und in der Regel günstigere (Existenzbedingungen gestellt
werden."

Seitdem das geschrieben wurde, ist ja auch bereits ein Experiment
in großem Maßstabe angestellt worden, zu welchen Ergebnissen der
Staatsbetrieb in einem Volksstaate führt. Die bolschewistische Re-
gierung Großrußlands hat die probe auf das Exempel gemacht.
Sie hat durch ein Dekret vom 28. Juni 1918 die Sozialisierung der
meisten größeren Betriebe angeordnet?») Schon vorher waren be-
reits 486 Unternehmungen sozialisiert worden. Vas Dekret vom
Juni v.I. erfaßte dann fast sämtliche Nktienunternehmungen. Unter
diese Verordnung fielen, wie die Gesellschaft der Moskauer Indu-
striellen bekanntgab, etwa 1100 Nktienunternehmungen mit einem
Grundkapital von zusammen rund drei Milliarden Rubel. Den
alten Besitzern wurde, obwohl sie ihr Eigentum ohne Lntschädi»
gungen an den Staat abtreten sollten, durch das Dekret auch die
Pflicht auferlegt, ihre Betriebe in der bisherigen Weise weiter zu
verwalten und zu finanzieren. Leichtbegreiflicherweise gaben sich die
früheren Besitzer dazu in den.meisten Fällen nicht her, sondern
ließen oftmals ihre Werke, deren endgültige Fortnähme ihnen drohte,
im Stich und flüchteten. Nach einer am 17. September 1918 ver-
öffentlichten amtlichen bolschewistischen Statistik waren bis dahin
in Großrußland 513 Industrieunternehmungen tatsächlich beschlag-
nahmt und sozialisiert worden. Etwa die Hälfte der sozialisier-
ten Betriebe, nämlich 218, entfällt auf die Bergwerks-, hütten-
und metallurgische Industrie, 40—60 Betriebe gehören zur chemi-
schen, Papier- und Nahrungsmittelindustrie. In den übrigen In-
dustriezweigen sind etwa 20 Unternehmungen sozialisiert worden.

Die praktischen Ergebnisse der Sozialisierung sind nach den Un-
gaben der vorerwähnten amtlichen Statistik wahrhaft erschütternd.

39)	wir folgen hier der Schilderung im „wirtschaftlichen Nachrichtendienst",
4. Iahrg., Nr. 620, und zwar teilweise wörtlich.

32

I, 2. Lrrverbswirtschast und Konsumgenossenschaft

müssen sich dann entweder im voraus verpflichten, ihren Bedarf bei
der von der Genossenschaft errichteten Fabrik zu decken, und in der
Tat finden wir solche Abmachungen nicht selten bei der Gründung
von genossenschaftlichen Produktionsanlagen, oder es mutz sich um
Gebiete handeln, bei denen stillschweigend ein ziemlich regelmäßiger
Bedarf vorausgesetzt werden kann. So liegen die Verhältnisse meist
in den Fällen, in denen die modernen Ronsumvereine zur Eigen-
produktion übergegangen sind. Ls handelt sich hierbei regelmäßig
um Gebiete, die keinem oder doch nur einem geringfügigen Mode-
wechsel unterworfen sind, wie Herstellung von Backwaren, Kess,
Schuhwerk, Seifenfabrikation usw. Dagegen haben sich die Ronsum-
vereinc bisher aus guten und klugen Gründen ängstlich gehütet, mit
ihrer Eigenproduktion auch solche Gebiete zu betreten, die einem
regelmäßigen Modewechsel unterworfen sind. Sie wissen sehr wohl,
daß sie bei der Aufnahme der Produktion auch solcher Gegenstände
nicht sicher sein können, ob ihre Mitglieder sie auch wirklich kaufen,
und sie können anderseits auch nicht daran denken, ihre Mitglieder
zur Abnahme zu verpflichten. So verzichten sie lieber freiwillig
auf die Aufnahme der Produktionszweige, mit denen in bezug auf
den Absatz der Produkte ein größeres Risiko verknüpft ist.

Die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise hat also den Vor-
zug, daß sie den Bedarf der Ronsumenten befriedigt, ohne ihnen
den geringsten Zwang und das mindeste Risiko aufzuerlegen. Die
konsumgenossenschaftliche Produktionsweise dagegen stellt den Ron-
sumenten vor die Wahl, entweder sich in der Richtung seines Ronsums
schon im voraus zu binden oder aber ein gewaltiges Risiko aus
sich zu nehmen. Da ist es leicht zu verstehen, wenn der Ronsument
aus diesem Dilemma sich dadurch befreit, daß er seine Gunst den
von selbständigen Produzenten für eigene Rechnung hergestellten
waren zuwendet und damit für die erwerbswirtschaftliche Produk-
tionsweise den Ausschlag gibt. Denn das wollen wir doch nicht über-
sehen: der Ronsument ist es, der durch sein Verhalten darüber ent-
scheidet, welche Ausbreitung die erwerbswirtschaftliche und die kon-

62

1,4. Der Sozialismus

führendes Verwaltungskollegium", wie das Bebel tut, ändert au
dem Wesen der Sache nichts.

Ebenso wie aus die Freiheit der Arbeit, legt der Kommunismus
auch auf die Aufrechterhaltung der Freiheit des Konsums keinen
Wert mehr. Der Staat bestimmt, was jeder Bürger bekommt und was
er verzehren darf. So wird auch in dem Entwurf einer Denkschrisi
zur Sozialisierung Sachsens, der Anfang 1919 von Dr. Gtto Neu-
rath, w. Schumann und h. Rranold veröffentlicht wurde, je-
dem Sachsen die Zuordnung einer Mindestmenge von Wohnung,
Nahrung, Kleidung, Bildungs- und Vergnügungsmöglichkeiten ti*
Aussicht gestellt. Der kommunistische Staat braucht unter diesen Um-
ständen auch die Einrichtung des Geldes nicht mehr. Denn die Bedeu-
tung und die Notwendigkeit des Geldes wurzelt ja wesentlich darin,
datz das Geld die Freiheit des Konsums verbürgt.

Was der Kommunismus für die Aufgabe der wirtschaftlichen Frei-
heit verspricht, das ist also Sicherung der ökonomischen Existenz aller
und Herstellung einer nahezu vollständigen ökonomischen Gleichheit
unter den Menschen.

Der Kommunismus in diesem Sinne ist die älteste und urwüch-
sigste Form des Sozialismus. Seitdem der Engländer Thomas Mo-
rus an der Schwelle der Neuzeit im Zähre 1516 in seiner Schilderung
der Zustände auf der Insel Utopien zum ersten Male das 6$
eines kommunistischen Gemeinwesens entworfen hat, sind zahlreich^
ähnliche Schilderungen des kommunistischen Zukunftsstaates entstan-
den. vor allem seit dem 18. Jahrhundert werden sie immer häu-
figer. 1766 macht der Franzose Morellp in seinem Code de la
Nature sogar zum ersten Male den versuch, die Einrichtungen ein^
kommunistischen Gemeinwesens als Paragraphen eines Gesetzbuchs
zu formulieren. Unter dem Einflüsse Morellps hat auch GracchU^
Babeuf 1796/96 feinen bekannten versuch unternommen, der grotz^
Französischen Revolution eine ihr an sich fremde Richtung zum So-
zialismus hin zu geben. Allein die Verschwörung des Babeuf wur^

Die wirtschaftlichen Verhältnisse im Sozialstaat	129

mit Versprechungen, um wieviel die wirtschaftliche Lage der Men-
schen bei einer Neuorganisation der Gesellschaft auf sozialistischer
Grundlage sich bessern werde.

Um diese Versprechungen auf eine einigermaßen haltbare Grund-
lage zu stellen, muß der Sozialismus nachzuweisen imstande sein,
daß die heutige Wirtschaftsordnung durch irgendwelche Fehler in
ihrer Konstruktion verhindert wird, dasjenige Maß von wirtschaft-
licher Leistung zu erreichen, das ihr nach der Größe der Produktiv-
kräfte, über die sie verfügt, und dem Stand der Technik eigentlich
zu erreichen möglich sein müßte. Denn wenn der Sozialismus das Ein-
kommen der Arbeiter nur um den Betrag zu erhöhen imstande ist,
der jetzt anderen Gesellschaftsklassen als den Arbeitern in Form
von arbeitslosem Einkommen zufließt, so ist es ganz offenbar, daß
damit für die Arbeiter nicht viel gewonnen wäre. Denn es ist doch
sehr leicht nachzurechnen, daß bei einer Verteilung des arbeitslosen
Einkommens auf die Gesamtbevölkerung auf den Kopf des einzelnen
blutwenig kommt, wenn man z.B. die Gesamtsumme des Rein-
gewinns der Aktienunternehmungen im Kohlenbergbau mit an die
Arbeiter verteilen wollte, so würde sich der Iahresdurchschnittslohn
des Arbeiters nur um einige wenige Prozent erhöhen. Und nicht
anders steht es in anderen Industriezweigen. Überall würde die
Verteilung der gesamten Summen, die jetzt als Gewinne an die
Aktionäre ausgeschüttet werden, das Einkommen der Arbeiter nur
unbeträchtlich erhöhen. Line einzige erfolgreiche Lohnbewegung
pflegt den organisierten Arbeitern eine ganz andere Steigerung ihres
Einkommens einzubringen, als sie ihnen für gewöhnlich die Zu-
wendung auch des ganzen Unternehmergewinn; zu verschaffen im-
stande sein wird. Und dabei kann ja nach dem früher Ausgeführten
kein sozialistischer Staat auch uur entfernt daran denken, den Arbei-
tern den vollen Überschuß der Verkaufspreise über die Produktions-
kosten als Einkommen auszuzahlen. Ein Teil des Überschusses muß
unbedingt für die Erweiterung und Vervollkommnung der Produk-
tionseinrichtungen zurückbehalten werden.

116

II, 2. Die Arbeitslosigkeit

hieraus erhellt zugleich, daß der periodische Wechsel der Konjunk-
turen seinen Zitz in einem ganz bestimmten Teile der Volkswirt-
schaft hat. Der eigentliche Krisenherd des Wirtschaftslebens sind die
Produktionszweige, in denen das stehende Kapital der Volkswirt-
schaft hergestellt wird, also die Eisen- und die übrige Metallindu-
strie, der Schiffsbau, der Eisenbahnbau, das Baugewerbe usw. Wenn
wir von allgemeinen Konjunkturschwankungen und allgemeinen In-
dustriekrisen sprechen, so ist das im Grunde somit auch nicht ganz
richtig. Nur insofern ist es richtig, als die vorhin bezeichneten Pro-
duktionsmittelgewerbe einen so großen Teil der Gesamtindustrie dar-
stellen, daß, wenn es ihnen gut oder schlecht geht, notwendig die
ganze Industrie das mitfühlen muß und dadurch in ihrer Lage be-
einflußt wird. Immerhin bleibt aber bestehen, daß die periodischen
Konjunkturschwankungen in erster Linie eine Angelegenheit der Pro-
duktionsmittelgewerbe sind, hier zuerst und am schärfsten auftre-
ten, und sich erst von hier aus über die übrige Volkswirtschaft aus-
breiten.

Nus dem periodischen Konjunkturwechsel und seinen Rückwirkun-
gen entspringt nun auch das zeitweise verstärkte Auftreten von Ar-
beitslosigkeit in der modernen Volkswirtschaft. Um von den Schwan-
kungen der Arbeitslosigkeit, die aus dieser Esuelle fließen, eine Vor-
stellung zu geben, lassen wir hier die Vurchschnittsziffer der Arbeits-
losen bei der Gesamtheit der britischen Gewerkvereine für die Periode
1871 bis 1910 folgen. Zum vergleich haben wir noch die Arbeits-
losenziffern bei der Metallindustrie, dem Schiffs- und Maschinenbau
daneben gestellt. Die viel stärkeren Schwankungen, welche die zweite
Reihe erkennen läßt, bilden zugleich eine Bestätigung des vorhin Aus-
geführten, daß der Konjunkturwechsel seinen eigentlichen Sitz in den
Produktionsmittelgewerben tjat.25)

25) Die Jahre, in denen die Arbeitslosenzifser am Ende einer Kufschwungs-
zeit ihren niedrigsten Stand erreicht, sind fett gedruckt, die Jahre des Maximums
dagegen sind kursiv gesetzt.

172

Schlußergebnisse

zur Verwirklichung des sozialistischen Ideals selbst dagegen können
die Menschheit nur in die tiefste Verwirrung stürzen und um Jahr-
zehnte, wenn nicht Jahrhunderte in ihrer Entwicklung zurückwer-
fen. Der Sozialismus jagt einem Phantom sozialer Gerechtigkeit
nach, dessen Durchführung nur möglich ist, wenn man nach dem
Grundsätze handeln will: fiat justitia, pereat mundus.43) Ein großer
Teil der Mehrheiissozialisten hat dies auch selbst schon längst er-
kannt. Fritz Gerl ich gibt die innere Stimmung auch in weiten
Kreisen des Mehrheitssozialismus sicher richtig wieder, wenn er
in den Süddeutschen Monatsheften schreibt: „Die Mehrheitssozia-
listen fühlen heute bereits deutlich, daß der marxistische Lhiliasmus
in seiner Konsequenz die menschliche Kultur und damit auch all das
vernichtet, was sie für die deutsche Arbeiterschaft in fünfzigjährigem
Ringen geschaffen haben. Sie erkennen in den konsequenten Marxi-
sten die Todfeinde des Arbeiterglücks... Deshalb kann es nur heißen:
Marxismus oder Kultur. Siegt der Marxismus, so geht die mensch- L
liche Kultur zugrunde und wir mit ihr."	-

Mas große Teile des deutschen Volkes immer noch verhindert, zu 1
dieser Einsicht zu kommen, das ist der Einfluß fanatischer Doktrinäre.
Wahrlich, es gibt nichts, das so verhängnisvoll für die menschliche
Gesellschaft ist, wie ein guter Wille, der in seinen Zielen irrt I Wie
recht hat doch der Abbe Galiani mit den Worten, mit denen er
schon vor mehr als einem Jahrhundert die Gefahren gekennzeichnet
hach die von dieser Seite dem Fortschritt der Gesellschaft drohen!

Sie passen ebensogut noch auf die Doktrinäre der russischen und der

43)	Tin gutes Beispiel für diese doktrinäre Denkweise gibt KarlUötzel
in der Schrift „Tinsührung in den Sozialismus ohne Dogma" (München
1919). Da wird u. a. auch folgender Grundsatz verkündet: „Ls soll zugegeben
werden, daß zwar die Verwirklichungsmöglichkeit des Kollektivismus nicht
zu beweisen ist, daß aber auch seine Undurchsührbarkeit bloß dogmatisch be-
hauptet werden kann. Zweifellos aber besteht völlig unabhängig davon,
ob der Kollektivismus sein wird oder nicht, die Frage, ob er sein soll. Und
das muß bejaht werden von jedem, der auf dem Boden europäischer Sitt-
lichkeit steht". (S. 73.)

Aktiengesellschaft und öffentliche Unternehmung

159

tation für ihn hat fehlen taffen, nicht entfernt auch auf alle die-
jenigen Gebiete sich auszubreiten gesucht hat, auf denen die Aktien-
gesellschaft schon seit langem mit gutem wirtschaftlichem Erfolge
angewendet wird. Man braucht dabei nur etwa an solche Gebiete
wie das Hüttenwesen und die Metallverarbeitung, die Maschinen-
fabrikation, die Spinnerei, die Bierbrauerei, die Zuckersabrikation
oder auch an das große Gebiet der chemischen Industrie usw. zu den-
ken. Auf allen diesen und noch auf manchen anderen Gebieten ha-
ben wir in allen modernen Industriestaaten gegenwärtig schon
Dutzende oder gar Hunderte von gut rentierenden Aktiengesellschaf-
ten, aber es ist nichts davon bekannt geworden, daß Staat oder Ge-
meinde irgendwo daran dächten, diese Gebiete nun auch für die
öffentliche Unternehmung mit Beschlag zu belegen. Sollte das wirk-
lich nur an der Kurzsichtigkeit der Regierungen und Stadtverwal-
tungen liegen, nur daran, daß sie bisher übersehen haben, daß
hier noch ein großes Gebiet vorliegt, das für die öffentliche Unter-
nehmung ebenso geeignet ist wie die von ihr schon besetzten Ge-
biete? Mit Recht wird man in diesem Tun oder richtiger Unter-
lassen der öffentlichen Gewalten vielmehr eine Anerkennung der
Tatsache erblicken müssen, daß für die Ausdehnung der 'öffentlichen
Unternehmung auf ein neues Gebiet ganz andere Umstände ent-
scheidend sind, als nur der, ob die Aktiengesellschaft mit ihrer Be-
amtenverwaltung auf diesem Gebiet sich schon bewährt hat. Die
Anschauung, die jedes Gebiet, auf dem die Aktienunternehmung
stärker vertreten ist, sofort auch als reif für die öffentliche Unter-
nehmung ansieht, zeugt von einer sehr unzulänglichen Kenntnis der
Bedingungen, unter denen sich einerseits die Leamtenverwaltung
bei Aktiengesellschaften und andererseits die Beamtenverwaltung
bei Staatsbetrieben vollzieht, wer diese beiden Dinge ohne weiteres
gleichsetzen will, der argumentiert mehr aus dem Klang der Worte
als aus wirklicher Kenntnis der Verhältnisse heraus.

Einzelne Nationalökonomen gehen aber sogar so weit, die öffent-
liche Unternehmung der privaten in Form der Aktiengesellschaft nicht

II*

54

1,3, Unternehmung und Produktivgenossenschaft

zu bestehen vermag. Der Leiter des Betriebs verfügt hier nicht über
das Recht, das in der Unternehmung als ultima ratio dient, die
Disziplin aufrechtzuerhalten, das Recht der Entlassung der Elemente,
die sich als untüchtig erweisen und sich der Ordnung des Betriebs
nicht fügen wollen. Der Leiter einer Produktivgenossenschaft kann
überhaupt seine Mitarbeiter sich nicht nach seinem Belieben aus-
suchen und durch beständige Auslese die tüchtigsten herauszufinden
hoffen, sondern er ist an seine Arbeiter von vornherein fest ge-
bunden. Sie stehen ihm nicht als betriebsfremde Arbeiter, sondern
als gleichberechtigte Genossen gegenüber. Kus diesem Grunde wird
die Produktivgenossenschaft im vergleich mit der Unternehmung
immer unter einem gewissen Mangel an Disziplin zu leiden haben.
Und das ist, wie gesagt, auch der Punkt gewesen, an dem die meisten
Produktivgenossenschaften in der Praxis Schiffbruch gelitten haben.
Das kommt in folgenden Worten eines Renners der Verhältnisse
deutlich zum Ausdrucks:

„Vas Studium der wenigen Fälle, in denen die Gründung von Produktiv-
genossenschaften versucht worden ist, läßt als Ursache säst aller der hierbei
eingetretenen Mißerfolge erkennen, daß solche Vereinigungen dem Leiter ihres
Betriebs und ihrer Geschäfte niemals diejenige autoritative und dauernd ge-
sicherte Stellung einzuräumen sich entschlossen, welche erforderlich ist, um die
Interessen eines gewerblichen Unternehmens nach außen wie auch nach innen
tatkräftig vertreten zu können, während der selbständige Einzelunternehmer
seine ganze Tätigkeit der Ordnung und Vervollkommnung des Produktions-
prozesses sowie der Pflege der Beziehungen zu den Abnehmern seiner Er-
zeugnisse zu widmen vermag, waren die Geschäftsführer der bisher ins Leben
getretenen Produktivgenossenschaften regelmäßig gezwungen, ein gut Teil ihrer
Rrast bei Überwindung derjenigen Schwierigkeiten zu verbrauchen, welche
der Verkehr mit den eigenen Angehörigen der Genossenschaft verursachte.
Zwar ist auch die Leitung eines Betriebs, der sich als Arbeitskräfte ange-
nommener Lohnarbeiter bedienen muß, an Mühseligkeiten durchaus reich
genug, aber diese reichen doch nicht entfernt an jene sich bis zur Unüber-
windlichkeit steigernden Hindernisse heran, welche sich einem Betriebsleiter
bieten müssen, der mit Arbeitskräften produzieren soll, denen gegenüber er
irgendwelche visziplinarmittel nicht anzuwenden vermag, und die ohne Rück-

y) Assessor kjertig in der „Sozialen praxi;", 16. Iahrg., Nr. 42.

Das Risiko der Produktion

19

bindung mit der Erwerbswirtfchaft durchaus den Vorzug und wahrt
ihr die Treue.

lvas heißt das zunächst, wenn wir innerhalb der individualistischen
Wirtschaftsordnung von erwerbswirtschaftlicher und konsumgenos-
senschaftlicher Produktionsweise sprechen? Um den Gegensatz, um
den es sich hier handelt, zu verstehen, müssen wir von folgenden Er-
wägungen ausgehen. Mit jeder Produktion ist notwendig stets
eine gewisse Verlustgefahr verknüpft. Die Produktion kann einmal
technisch mißlingen. Rus den Rohstoffen und den Arbeitsleistungen,
die man bei der Produktion eingesetzt hat, entsteht nicht das fertige
Erzeugnis, das man eigentlich begehrte, sondern die aufgewandten
Werte gehen während des Produktionsprozesses verloren. So rechnet«
man im 18. Jahrhundert in der Bierbrauerei, daß von zehn Suden
es dem Brauer nur siebenmal gelingen möchte, ein brauchbares Bier
zu erzielen. Oder zum wenigsten entspricht die erzeugte Menge oft
nicht den Erwartungen, die man berechtigterweise hegen konnte. Vas
letztere ist ja ein Schicksal, das dem Landwirt sehr oft zustößt. Über
Uuch wenn die Produktion technisch tadellos gelingt, kann sie, so-
bald es eine Produktion für fremden Bedarf ist, wirtschaftlich
fehlschlagen. Die Produkte finden, wenn sie die Werkstätte verlassen,
nicht mehr den erwarteten Rbsatz, oder der Konsument ist wenigstens
nicht bereit, für sie einen Preis zu zahlen, der den aufgewendeten
llosten entspricht.

Vas Risiko, das mit jeder Produktion untrennbar verknüpft ist,
wird nun in der individualistischen Wirtschaftsordnung nicht von
der Gesamtheit, sondern von einzelnen privaten getragen. Daß nicht
bie Gesamtheit es trägt, sondern der einzelne, das entspricht eben
bem in ihr herrschenden Grundsatz der wirtschaftlichen Selbstver-
antwortlichkeit der Bürger. Zur Tragung des Risikos der Produk-
tion kann die individualistische Wirtschaftsordnung aber wieder in
doppelter Weise organisiert sein. Die privaten, die das Risiko der
Produktion tragen, können entweder sein einzelne Produzenten, die
auf eigene Rechnung und Gefahr für fremden Bedarf waren oder

84

II, 1. Das arbeitslose Einkommen

erhebliche Teile der Bevölkerung verhängt ist. Uber dem Lohnarbeiter
schwebt beständig die Gefahr der Arbeitslosigkeit und damit der
Verarmung. Diese Gefahr aber ist von der heutigen Wirtschaftsord-
nung untrennbar. Die Arbeitslosigkeit, das Vorhandensein einer
„industriellen Reservearmee", gehört zu den immanenten Erschei-
nungen des Rapitalismus- solange die kapitalistische Produktions-
weise herrscht, wird die Arbeitslosigkeit nicht aufhören.

Endlich glaubt der moderne wissenschaftliche Sozialismus der be-
stehenden Wirtschaftsordnung aber auch noch drittens den Vor-
wurf machen zu können, daß sie wirtschaftlich nicht das leiste,
was sie eigentlich leisten könnte. Der Rapitalismus legt angeb-
lich der Entfaltung der Produktivkräfte Fesseln an. Der Pro-
duktionsertrag ist nicht so groß wie er bei der vorhandenen Fähig-
keit zu produzieren, an sich sein könnte. Der Rapitalismus leidet
also auch an wirtschaftlicher Rückständigkeit.

weder in moralischer, nach in sozialer, noch auch in wirtschaft-
licher Hinsicht kann also die heutige Wirtschaftsordnung vor der
sozialistischen Rritik bestehen, und der Sozialismus kommt daher
folgerichtig zu dem Schluß: ecrasez l’infäme !

Cs liegt dabei in der Natur der Dinge, daß die sozialistische Be-
wegung um so höhere Wellen werfen wird, je stärker die Erschei-
nungen im Wirtschaftsleben hervortreten, die überhaupt den Wider-
spruch des Sozialismus gegen die bestehende Wirtschaftsordnung her-
vorgerufen haben. Eine Zeit, in der große vermögen mühelos er-
worben werden und in der zugleich der Umfang der Arbeitslosigkeit
stark anschwillt, wird für den Sozialismus ganz besonders empfäng-
lich sein. Das ist ja aber die Signatur unserer Zeit. Während des
Rriegs sind von Rriegslieferanten und den glücklichen Besitzern der
Warenvorräte, die durch das Abschneiden der Zufuhr aus dem Aus-
lande und die Geldvermehrung im Inlands eine gewaltige Wert-
steigerung erfuhren, ungeheure Gewinne gemacht worden, und das
Rriegsende hat uns durch die überstürzte weise, wie wir infolge un-
serer Niederlage die Demobilisierung durchführen mußten, ein noch

Hand eis-Wörterbuch. Von Dr. V. Sittel und Justizrat Dr. M. Strauß. (Teub-
ners kleine Fachwörterbücher.) Geb. ca. M. 4.—

Wörterbuch der Warenkunde. Von Prof. Dr. M. Pietsch. (leubners kleine

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sämtlicher Gewerbe und Industrien nach Ursprung, geographischer Herkunft, Eigenschaften,
Verarbeitung und Verwendung.

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Geheftet M. 8.—, gebunden M. 9.60

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die finanziellen Berechnungen, die beim Geldverkehr in der Haus- und Volkswirtschaft von
Bedeutung sind, z. B. Zins und Diskont, Kontokorrent, Kauf von Wechseln und Wertpapieren,
Arbitrage, Amortisationshypotheken, Erbbaurecht, Abschreibungen, tilgbare Anleihen usw.

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Das insbesondere im Hinblick auf die durch den Krieg bedingten wirtschaftlichen Ver-
hältnisse bedeutsame Buch sucht die Grundlagen festzulegen, auf denen eine praktisch ver-
wertbare Produktionsstatistik aufgebaut werden kann.

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Effektenbörsen. Kart. M. 2.40 Band III. Warenbörsen. Kart. M. 2.80.

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zusammenstellung über das Kohlen- und Kalisyndikat.

Der II. Band bringt zunächst die Materialien über die deutsche Börsengesetzgebung, ferner
einen Abdruck der Börsenordnung, der Maklerordnung, der Geschäftsordnung des Börsen-
vorstandes, der Zulassungsstelle usw. der Berliner Börse mit Hinweisen auf abweichende
Verhältnisse an anderen Börsen, endlich eine Reihe von Materialien über Börsengeschäfts-
bedingungen und der Abwicklung der Börsengeschäfte dienenden Einrichtungen.

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orientiert der III. Band über die Geschäftsbedingungen der deutschen Warenbörsen im allge-
meinen und die Verhältnisse an den wichtigsten deutschen Produktenbörsen.

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der Betätigung in ihm neue, allgemeine, von parteipolitischer Engherzigkeit freie Gesichtspunkte
und damit ein Gut zu geben, an dem keineswegs Überschuß herrscht.“ (StraßburgerPos 1.)

Politik lind Musscnmorsil. Zum Verständnis psychologisch-historischer Grund-
fragen der modernen Politik. Von Dr. A. Chris lensen. Geh. M. 3.—, geb. M. 3.60

„Die Arbeit eines scharfen Geistes, der den Dingen auf den Grund geht und der eine
große Summe positiven Wissens in Vorrat hat."	(Kirche und Welt.)

Auf sämtliche Preise Teuerungszuscbläge des Verlages und der Buchhandlungen

Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin

134

II, 3, A, Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

der Ziegelfabrikation, der Bierbrauerei und anderen mit großen
stehenden Anlagen arbeitenden Industrien hervor.

Es ist indessen ein arger Trugschluß, in dieser Tatsache ohne wei-
teres den Beweis zu sehen, daß in der heutigen Wirtschaftsord-
nung nicht soviel produziert und infolgedessen auch konsumiert wird,
wie nach dem Maße unserer Produktivkräfte eigentlich produziert
und konsumiert werden könnte. Daß die Leistungsfähigkeit der
Produktionsanlagen auf vielen Gebieten größer ist als die wirk-
liche Produktion, ist noch nicht gleichbedeutend damit, daß auch die
tatsächliche Produktion auf allen in Betracht kommenden Gebieten
gleichzeitig entsprechend gesteigert werden kann. Soll die tatsächliche
Produktion auf allen beteiligten Gebieten der Leistungsfähigkeit
der Produktionsanlagen entsprechend vergrößert werden, so gehört
dazu eine verhältnismäßige Vermehrung der Arbeitskräfte sowie der
Rohstoffe,- und zur Vermehrung der letzteren werden wieder neue Ar-
beitskräfte erforderlich sein. Vas unentbehrliche Erfordernis jeder
Produktionsvergrößerung ist also ein Mehr an Arbeitskräften. Vas
erforderliche Mehr an Arbeitskräften läßt sich aber nicht nach Be-
lieben aus dem Boden stampfen. Und die jetzt im Durchschnitt brach-
liegenden Arbeitskräfte reichen nicht entfernt aus, um eine gleich-
zeitige Steigerung der Produktion auf allen Gebieten bis auf das
äußerste Maß der Leistungsfähigkeit der vorhandenen Produktions-
anlagen durchzuführen. Zahlenangaben über das durchschnittlich in
Ländern mit moderner Wirtschaftsverfassung anzutreffende Maß
von Arbeitslosigkeit wurden ja bereits im letzten Abschnitt ange-
führt. Im Durchschnitt ist die Arbeitslosenziffer etwa auf 3 bis 40/0
anzunehmen. Auf diese Zahl läßt sich aber nicht die Hoffnung auf
eine große Steigerungsmöglichkeit des Produktionsertrags gründen,
angenommen einmal, es könne überhaupt durch irgendeine Grga-
nisation des Wirtschaftslebens dahin gebracht werden, daß alle Ar-
beitsfähigen niemals auch nur einen Tag ohne Beschäftigung sind.
Die Einstellung der jetzt vorhandenen Arbeitslosen kann also nichtent-
fernt bewirken, daß in allen Betrieben gleichzeitig die Produktion

Lohnsätze und Arbeitslosigkeit	117

Z-Hr	allgemeine arbeitslosen- Ziff-r der britilchen Gewerlvereine	Arbeitslosen* Ziffer in der Metallindustrie, im Schiffs- und Maschinenbau	3-chr	allgemeine Krbeiislosen- zilfer der britischen Lewerkvereine	Krbeitslosen- ziffer in der Metallindustrie, im Schiffs- und Maschinenbau
1871	1,6	1.3	1891	3,5	4.1
1872	0.9	0,9	1892	6,3	7,7
1873	1,2	1.4	1893	7,5	11,4
1874	1.7	2,3	1894	6,9	11.2
1875	2.4	3,5	1895	5,8	8,2
1876	3.7	5,2	1896	3,3	4,2
1877	4,7	6,3	1897	3,3	4.8
1878	6,8	9,0	1898	2,8	4,0
1879	11,4	15,3	1899	2,0	2,4
1880	5,5	6,7	1900	2,5	2,6
1881	3,5	3,8	1901	3,3	3.8
1882	2,3	2,3	1902	4.0	5,5
1883	2,6	2,7	1903	4,7	6,2
1884	8,1	10,8	1904	6,0	8.4
1885	9,3	12,9	1905	5,0	6,6
1886	10,2	13,5	1906	3,6	4,1
1887	7,6	10,4	1907	3,7	4,9
1888	4.9	6,0	1908	7,8	12,5
1889	2,1	2.3	1909	7,7	13,0
1890	2,1	2,2	1910	4,7	6,8

Bei der Entstehung der periodischen Rrisenarbeitslosigkeit sowie in
gewissem Umfang auch bei der der anderen Arten der Arbeitslosigkeit
spielt aber auch noch ein anderes Moment eine Rolle, von dem bis-
her noch gar nicht die Rede war, ohne dessen Erwähnung jede Er-
klärung der Arbeitslosigkeit im gegenwärtigen Wirtschaftsleben aber
unvollständig bleibt. Vas ist die Lohnhöhe. In den Zähren der
aufsteigenden Ronjunktur können der Bergbau und die Produktions-
mittelgewerbe ihren stark steigenden Arbeiterbedarf regelmäßig nur
durch fortgesetzte Lohnerhöhungen befriedigen. Die Bewegung der
Durchschnittsschichtlöhne der Bergarbeiter läßt das deutlich erkennen.
Wenn dann aber der Umschlag der Ronjunktur einsetzt, zeigt sich,

150	II, 3, B. Die Leistungssähigkeit des Sozialismus

nur als ebenbürtig, sondern als überlegen hinzustellen. Man wird
gespannt sein, die Gründe kennenzulernen, auf die sich dieses Urteil
stützt. Der einzige Grund, der dafür angeführt wird, besteht darin,
daß die Aktiengesellschaft regelmäßig noch viel weniger als eine
öffentliche Körperschaft imstande sei, ihre leitenden Beamten zu
kontrollieren. Uun ist das Vorhandensein eines reichlichen Kon-
trollapparates bei den öffentlichen Unternehmungen gewiß richtig.
Billig bezweifeln darf man aber, ob der wirtschaftliche Erfolg eines
Unternehmens von der reichlichen Ausbildung der bei ihm bestehen-
den Kontrolleinrichtungen abhängt. Im Gegenteil. Das Vorhanden-
sein von Kontrolleinrichtungen und verschiedenen Instanzen, die bei
der Leitung des Unternehmens mitzusprechen haben, bedeutet immer
auch eine Einengung der Bewegungsfreiheit des Betriebsleiters. Und
diese Beschränkung seiner vispositionsfreiheit kann so stark werden,
daß sie ihn an der raschen Ausnutzung günstiger Konjunkturen hin-
dert, ihm auch die Freude und das Interesse an seiner Tätigkeit
beeinträchtigt, weil er eben nicht seinen eigenen Eingebungen folgen
darf, sondern immer abwarten muß, was andere dazu sagen. Ge-
rade in der hieraus entspringenden Gebundenheit des Leiters eines
Staatsbetriebes wird der Kenner der Praxis einen der Hauptgründe
sehen, aus denen der Staatsbetrieb so leicht wirtschaftlich hinter dem
Privatbetrieb, und zwar besonders auch hinter der Aktiengesellschaft
zurücksteht. Diese Erscheinung ist aber von dem Wesen der öffent-
lichen Unternehmung untrennbar. Denn die einzelne öffentliche Un-
ternehmung ist regelmäßig nur ein kleines Rädchen in einem großen
Mechanismus, und sie hat daher regelmäßig zahlreiche Instanzen
über sich, zumal in den heutigen parlamentarisch oder konstitutionell
regierten Ländern, in denen auch die gewählten Körperschaften
Einfluß auf die Verwaltung der öffentlichen Betriebe ausüben
wollen. Jede Aktiengesellschaft dagegen ist ein Unternehmen für sich,
das unabhängig von anderen Unternehmungen und Instanzen dasteht.

wie die öffentliche Unternehmung infolgedessen an Beweglichkeit
und Anpassungsfähigkeit an wechselnde Konjunkturen hinter der

12

1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

individualistischen Rechtsprinzip grundsätzlich wirtschaftliche Freiheit
verbunden ist. Venn das bedeutet nur: die Freiheit gilt überall da,
wo sie nicht durch Vorschriften des Gesetzgebers ausdrücklich auf-
gehoben oder eingeschränkt ist. Und insbesondere hat in dem indi-
vidualistischen Rechtssystem das Individuum regelmäßig auf zwei
wichtigen Gebieten große Bewegungsfreiheit. Zur richtigen Beurtei-
lung der Rechtsordnungen des Wirtschaftslebens ist es notwendig,
diese beiden Richtungen der wirtschaftlichen Freiheit, denen eine ganz
grundlegende Bedeutung zukommt, immer mit im Rüge zu behalten.
Denn ebenso wie andere freiheitliche Einrichtungen nehmen wir sie
leicht als etwas Selbstverständliches hin und werden uns ihrer gar
nicht klar bewußt. Die Freiheit, die wir im gesellschaftlich-staatlichen
Leben genießen, sind wir für gewöhnlich ebensowenig geneigt zu
beachten wie die Luft, die wir einatmen,' wir setzen ihr Vorhanden-
sein als etwas Selbstverständliches voraus. Die Freiheit ist ja ihrer
Natur nach etwas Negatives, die Rbwesenheit von Zwang, wir
fangen daher regelmäßig erst an, sie schätzen zu lernen und sie
überhaupt oft erst gleichsam zu entdecken, wenn sie uns verloren
geht, wenn wir auf sie verzichten sollen.

Die beiden wirtschaftlichen Freiheitsrechte, die für die individua-
listische Wirtschaftsordnung von grundlegender Bedeutung sind und
in ihr regelmäßig in einem Umfange bestehen, von dem erst noch
zu prüfen ist, ob er in einem anderen Rechtssystem auch nur an-
nähernd in gleicher weise durchführbar ist, sind erstens die Freiheit
des Ronsums. Die Freiheit des Ronsums besagt, jeder kann selbst
bestimmen, wie er sein Einkommen verwenden und was er verbrau-
chen will. Rlit souveräner Freiheit kann der Ronsument heute dar-
über entscheiden, auf welche waren er seine Nachfrage richten und
wieviel er für jede Ware anlegen will. Der Staat enthält sich aller
Eingriffe in die Bedarfsbildung und die Einkommensverwendung.
Die Freiheit des Ronsums, wie sie heute besteht, ist ins-
besondere auch gleichbedeutend mit dem verzicht, die
Nachfrage durch andere Rkittel zu regeln als durch

Wirtschaftskrisen und Produktionsfähigkeit

143

gemachte Herrschaft des Rentabilitätsprinzips bedeutet also durchaus
keinen verstoß gegen die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, sondern
gerade umgekehrt ihre Erfüllung.

Die vierte Erscheinung endlich, auf die sich der Sozialismus bei
der Behauptung von der wirtschaftlichen Überlegenheit seines Ge-
sellschaftssystems beruft, ist das periodische Ruftreten von
allgemeinen Wirtschaftskrisen. Die Wirtschaftskrisen lie-
fern dem Sozialismus nicht nur insofern einen Rngriffspunkt gegen
die bestehende Wirtschaftsordnung, als im Zusammenhang mit ihnen
regelmäßig eine Zunahme der Rrbeitslosenziffer, ein Anschwellen
der industriellen Reservearmee eintritt, sondern er sieht in der
periodischen Wiederkehr von Wirtschaftskrisen zugleich den Beweis
für das Vorhandensein eines Mißverhältnisses zwischen Produktions-
fähigkeit und Raufkraft in der modernen Volkswirtschaft. Die Kri-
sen kommen nach der von den Sozialisten zumeist vertretenen Ruffas-
sung dadurch zustande, daß die große Masse der Bevölkerung infolge
der niedrigen Löhne, die sie erhält, außerstande sei, das ganze Pro-
dukt der nationalen Rrbeit mit ihren Löhnen zurückzukaufen. Rus
dieser Situation müßten sich von Zeit zu Zeit unvermeidlich Rbsatz-
stockungen ergeben, und die allgemeinen Krisen seien eben nichts an-
deres als aus dem Mißverhältnis zwischen der Produktionskraft
der Gesellschaft und ihrer Kaufkraft entsprungene akute Störungen
des normalen wirtschaftsverlaufs.

Diese Krisenauffassung, zu der sich der Sozialismus zumeist be-
kennt, — die sog. Unterkonsumtionstheorie — hat auch in nicht-
sozialistischen Kreisen vielfach Anhänger gefunden. Vas hat ohne
Zweifel das ausgesprochen politisch-moralische Element bewirkt, das
dieser Theorie beigemischt ist. Sie läßt das Ruftreten von Krisen
gewissermaßen als eine Strafe dafür erscheinen, daß die heutig«
Wirtschaftsordnung dem Arbeiter nicht das an Lohn gibt, was ihm
von Rechts wegen gebührt und was er beanspruchen kann. Zwischen
den Einrichtungen unserer Wirtschaftsordnung und dem Ruftreten
von Wirtschaftskrisen besteht gleichsam das Verhältnis von Schuld

10’

Die Ledarfsbildung im Wirtschaftsleben

29

in9 stehenden Gewohnheiten in dieser Hinsicht. Und auf immer mehr
tun Gebieten behält er sich dabei bis zum letzten Augenblick die Freiheit
etv der Entscheidung vor, welche Waren er schließlich wählt. Für einen
und denselben Gebrauchszweck kommen ja oft sehr verschiedene kva-
l^° ren in Betracht. Und es können da unter Umständen sehr kleine
Unterschiede in der Form, in der Farbe, in dem verwendeten Rofy=
‘9C= Material usw. den Ausschlag zugunsten des einen oder des anderen
•im° Artikels geben.1)

>en' Durch diese Verhältnisse ist der Bedarf, dem sich die Produktion
gegenwärtig anzupassen hat, immer wechselnder, immer mannig-
faltiger, immer mehr der Mode unterworfen, geworden. Nur auf
^uts relativ wenig Gebieten kann der Bedarf heute noch als ein ziem-
: 3U lich feststehender und darum im voraus berechenbarer angesehen wer-
den. Auf zahlreichen und großen Gebieten handelt es sich dagegen zu-
'Eisr nächst nur um einen ganz abstrakten Allgemeinbedarf, der sich erst
>ua- spezialisiert, wenn ihm eine reiche Auswahl von Mustern vorgelegt
'3ta= | wird. Darum ist auch die Vorstellung so verkehrt, man könne den Ge-
un^ samtbedarf eines Landes für die nächste Wirtschaftsperiode im vor-
aus aus durch statistische Erhebungen feststellen und dadurch eine Bicht-
schnür für die Produktion schaffen. Manche geben sich wohl gar
tion dem Glauben hin, mit Hilfe einer Universalstatistik könne das pro-
re i dlsm der sozialistischen Leitung der Produktion gelöst werden. Dieses
lheit naive Zutrauen, das manche zur Statistik haben, ist für diese sehr
afts- ehrenvoll, aber durch statistische Erhebungen kann das Problem der
rage	einheitlichen Leitung der Produktion auch nicht gelöst werden. Der

Pro“ Konsument vermag zwar vielleicht bei solchen Artikeln wie Salz, Brot,
der Zucker, Petroleum u. dgl. anzugeben, wieviel er davon ungefähr im
^egt, nächsten Jahre brauchen wird — übrigens auch bei diesen Artikeln
reibt eigentlich nur dann, wenn man ihm die Einhaltung bestimmter ver-
>erte kaufspreisr gewährleistet' denn mit der Höhe der Preise ändert
rung sich {,ei f,,en E^en Wqren auch die Größe ihres Bedarfs —, allein,
Auf------------------

.	1) Vre folgenden Ausführungen unter Benutzung meines Vortrags über

*C' ben ,,Unternehmerstand", Leipzig 1910, S. 32ff.

Pohle, Kapitalismus und Sozialismus, 2. fUijt.	3

72

1,4. Der Sozialismus

mutz, kein 3ufdl.17) Alles, was die Vertreter des wissenschaftlichen
Sozialismus des letzten Jahrhunderts über die Möglichkeiten eines so-
• zialistischen Zukunftsstaats mit weitgehenden wirtschaftlichen Frei-
heitsrechten gesagt haben und was ihnen von manchen wenig kri-
tischen bürgerlichen Nationalökonomen geglaubt worden ist, das
ganze lockende Bild von der Möglichkeit einer Versöhnung, einer
Vereinigung zwischen Individualismus und Sozialismus, beruht auf
einer großen Selbsttäuschung. Ls gibt nur eine einzige Form des
Sozialismus, die wirklich möglich ist — unter welchen Umständen
freilich sie einzig und allein möglich ist, davon wird nachher noch
die Rede sein —, das ist der Rommunismus. Die wissenschaftlichen
Sozialisten, die den Kommunismus als Utopie verspottet und an
einen sozialistischen Zukunftsstaat geglaubt haben, der von dem
harten Zwang des Kommunismus sich freihalten könne, sind in
ihrem Glauben an eine unmögliche Gesellschaftsordnung im Grunde
viel größere Utopisten als die ehrlich und folgerichtig zu allgemei-
nem Arbeitszwang, allgemeiner Zwangsregelung des Konsums usw.
sich bekennenden Anhänger des Kommunismus.

In der Tatsache, daß der Sozialismus, sobald man ihn zu Ende
denkt, notwendig zum Kommunismus führt, steckt auch der Schlüssel
dafür, weshalb der wissenschaftliche Sozialismus sich so hartnäckig
gesträubt hat, ein Bild seines Zukunftsstaats zu entwerfen. Die
Vertreter dieser Richtung hatten instinktiv das richtige Gefühl: So-
bald wir versuchen, die Einrichtungen unseres Zukunftsstaats zu
schildern, kommen wir an Einrichtungen kommunistischer Natur nicht
vorbei. Die breite Angriffsfläche, die der Kommunismus der Kritik

17)	Oie einzelnen Richtungen, die sich innerhalb der ehemaligen Sozial-
demokratie entwickelt haben und die sich ja wesentlich mit durch ihre ver-
schiedene Stellung zum Kommunismus voneinander unterscheiden, näher zu
charakterisieren, gehört nicht zu den Aufgaben dieser Darstellung, deren Ziel
eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Kommunismus selbst ist. Über
die verschiedenen politischen Richtungen, die sich innerhalb des Sozialismus
in der letzten Zeit gebildet haben, vgl. Sombart, Sozialismus und soziale
Bewegung, 7. Aufl., S. 304ff.

«

Von demselben Verfasser erschien ferner:

Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens
im letzten Jahrhundert

Fünf Vorträge. 4. Aufl. (ANuG Bd. 57.) Kart. M. 2.—, geb. M. 2.65
Gibt eine objektive, ruhig abwägende Darstellung der gewaltigen Umwälzung, die das
deutsche Wirtschaftsleben im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren hat.

Das Problem der Valuta-Entwertung

Geh. M. 1.20.

Behandelt den Zusammenhang zwischen Valutaentwertung und dem Sinken der Kauf-
kraft des Geldes im Inland, die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen der Valutaent-
Wertung, sowie die Neformvorschläge zur Wiederherstellung der Währung nach dem Kriege.

Der wirtschaftliche Hintergrund des Weltkrieges

Von Staatsminister a. D. vr. K. Helfferich. Geh. M. 1.20

Zeigt die wirtschaftlichen Ursachen des Weltkrieges, die Veränderung des wirtschaft-
lichen Weltbildes während des Krieges mit dem Ergebnis der Vormachtstellung Amerikas
und die wirtschaftlichen Iukunftsmöglichkeiten Deutschlands.

Allgemeine Volkswirtschaftslehre

Von Geh.Oberreg.-RatProf. vr.W. L e x i s.sKult. d.Gegenwart. tzrsg.v.Prof.
P.tzinneberg.TeilII,Abt.X,1.) 2.Aufl. M.7.-, geb.11.-,i.Halbfr.geb.17.-

Inhalt: Einleitung. Die Entwicklung der Volkswirtschaft. Die Methode der Volks-
wirtschaftslehre. — Der Kreislauf der Volkswirtschaft. Der Wert. Die Nachfrage.
Die Produktion. Kapitalvermögen und Unternehmung. Das Angebot. Die Preisbildung.
Handel und Preise. Das Geld. Kredit und Bankwesen. Der Wert der Geldeinheit. Das
Einkommen. Näheres über Arbeitseinkommen und Kapitalgewinn. Die Grundrente. Pro-
duktion u. Einkommen. Krisen. Die Konsumtion. Produktion u. Verteilung. Zukunftsaussichten.

Grundzüge der Volkswirtschaftslehre

Von Prof. W.Gelesnoff. Nach einer v. Verf. f. d. dtsche. Ausg. vorgenomm.
Neubearb. desruss.Orig, übers, v. Or. E. Alts chul. M. 10.—, geb. M. 15.—

DasWerk,mehr ein Lese- als Lehrbuch darstellend,will mit den wichtig st enProblemen
der Nationalökonomie und ihren Lösungen vertraut machen, zu einer selbständigenStel-
lungnahme ihnen gegenüber anleiten und zum nationalökonomischen Denken erziehen.

Russisches Wirtschaftsleben seit der
Herrschaft der Bolschewik!. mach miss.
Zeit«. Mit ein. Etnleitg. hsg. v. Dr. Wklid.
W. Kaplun-Kogan. (Heftl der Quellenu.
Studien des Osteuropa-Lnstit.) I.Abt. 2.Aufl.
Geh. M. 5.—, geb. M. 6.—

Eine ausgiebige Materialsammlung zur
Erkenntnis des wirtschaftlichen Bolschewis-
mus in Nußland, die ein eindrucksvolles Bild
des erschreckenden Niederganges der russi-
schen Wirtschaft bietet, zeigt den Weg, der
nicht betreten werden darf, wenn wir uns
vor wirtschaft!. Zusammenbruch retten wollen.

Auf sämtliche Preise Teuerungszuschläge

Die Gesetzgebung der Bolschewik!.

Eine authent. Darstellung auf Grund der
offiziellen russischen Gesetzessammlung. Her-
ausgegeben von Iustizrat H. Klibanski.
(Quellen und Studien des Osteuropa-In-
stituts, Breslau, 1. Abteilung, 2. Heft). Geh.
M. 6.-. geb. M. 7.—

Eine zusammenfassende systematische Dar-
stellung der gesetzgeberischen Tätigkeit der
gegenwärtigen russischen Regierungsgewalt
auf allen Gebieten des staatlichen und sozia-
len Lebens nebst Wiedergabe der wichtig-
sten Gesetze in Wortlaut.

des Verlages und der Buchhandlungen

Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin

verdientes und unverdientes Einkommen	89

davon sein, daß der eine tüchtiger ist wie der andere, daß er mehr
Giftet wie dieser, und daß er daher vom Publikum mehr aufgesucht
wird. Es läßt sich doch aber nicht verkennen, daß der eine hierbei
auch durch äußere Umstände, auf die er selbst keinen Einfluß hat,
wehr begünstigt sein kann wie der andere. Der eine ist durch einen
Zufall rasch in weiten Kreisen bekannt geworden, der andere hatte
»icht dieses Glück. Dder der eine kam in eine rasch wachsende Gegend,
der andere erfuhr die Enttäuschung, daß entgegen den Erwartungen,
die er vielleicht berechtigterweise hegen konnte, die Stadt, in der
Er sich niederließ, nur langsam oder gar nicht sich entwickelte. Ist es
nicht bei dem Einkommen vieler industrieller Unternehmer genau
Ebenso? Die großen Gewinne werden allerdings regelmäßig den
begabten und tüchtigen Elementen zufallen, welche die wirtschaft-
liche Konjunktur richtig zu beurteilen verstehen, allein im einzelnen
unterscheiden zu wollen, was Verdienst und was Glück war, das
geht über unsere Kraft. Und selbst auf das Einkommen der Lohn-
urbeiter läßt sich diese Betrachtungsweise bis zu einem gewissen
Erade anwenden.

Das alles trifft indessen noch nicht den Kern der Sache. Der Kern
bleibt doch die Frage, inwieweit wir uns in unserem Gewissen mit der
Tatsache des Bezugs eines arbeitslosen Einkommens durch Personen
ubfinden können, die an der volkswirtschaftlichen Produktion nicht oder
wenigstens nicht entsprechend ihrem Einkommen beteiligt sind.

Zunächst wird da wohl niemand widersprechen, wenn wir an jeder-
mann, der arbeiten kann, die sittliche Forderung stellen, daß er
irgendeine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit ausübt, und zwar nicht
nur „um eine Beschäftigung zu haben", sondern als Beruf, d. h. mit
Angabe aller Kräfte des Körpers und des Geistes. Niemand hat
bas Recht, ein Drohnendasein zu führen. Es ist aber auch ganz
falsch, wenn man in den unteren Schichten glaubt, das Leben der
wichen Klassen sei nur ein fortgesetzter Müßiggang. Ich habe lange
3eit in einer der reichsten Städte Deutschlands gelebt und habe dort
viel Gelegenheit zu Einblicken in die Lebensweise der oberen Zehn-

44

I, 3. Unternehmung und produktivgsnosienschast

schon über 100 °/o der Belegschaft —, und aus der Neigung der Ar-
beiterschaft, die Einführung immer kürzerer Kündigungsfristen für
bas Arbeitsverhältnis zu verlangen.

Ganz anders dagegen ist die Lage des Unternehmers. Wenn er
sein Kapital in ein Unternehmen gesteckt hat, und dieses schlägt fehl
oder bleibt in seinem Reinertrag auch nur hinter dem landesüblichen
Zinsfuß dauernd zurück, so kann er eben nicht wie der Arbeiter ohne
Verlust wieder heraus, sondern er muß mit der ganzen oder teil-
weisen Einbuße seines Vermögens rechnen. Und er kann auch nicht
so leicht wie der Arbeiter darauf rechnen, eine Stellung zu finden,
in der seine Arbeit die gleiche Vergütung erhält wie bisher. Ein
Unternehmer, ber als solcher Schiffbruch erlitten hat, empfiehlt sich
damit nicht gerade für die Übernahme leitender Stellungen in an-
deren Unternehmungen. Er wird nach diesem Rkißgeschick auf der
sozialen Stufenleiter regelmäßig herabsteigen und sich mit irgend-
einer bescheidenen Anstellung begnügen müssen.

Die verschiedene Lage, in der sich Unternehmer, Zinskapitalisten
und Lohnarbeiter im Falle des Konkurses eines Unternehmens be-
finden, ist aber für das Risiko der Produktion, das der Unternehmer
zu tragen hat, überhaupt nicht das Entscheidende. Entscheidend ist
die Lage der Dinge bei normalem Verlauf der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, d. h. wenn es nicht zum Zusammenbruch des Unterneh-
mens kommt. Und da besteht eben die Funktion des Unternehmers
darin, für die anderen an der Unternehmung beteiligten Personen
gewissermaßen als Wellenbrecher einzutreten. Solange sein ver-
mögen zureicht, ist Zinskapitalisten und Lohnarbeitern diejenige Be-
zahlung für ihr Kapital und ihre Arbeit gesichert, die der jeweiligen
Lage des Kapital- und des Arbeitsmarktes entspricht, auch wenn die
hergestellten Produkte sich nicht zu Preisen verkaufen lassen, die im
rechten Verhältnis zu den Produktionskosten stehen. Das ist das
Risiko der Produktion, das der Unternehmer den Lohnarbeitern und
Zinskapitalisten abnimmt. Die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Lei-
stung des Unternehmers wird dadurch noch nicht aus der Welt ge-

100

II, 1. Das arbeitslose Einkommen

strebt, da er doch längst genug hat, so sind das ebensoviel Zeug-
nisse dafür, daß der Unternehmerstand sein Lebensziel nicht in ver-
schwenderischem Luxus, sondern in der Arbeit am Ausbau seiner
Unternehmungen und in der fortgesetzten Vermögensbildung erblickt.
Damit entfällt aber auch der Anlatz zu Besorgnissen nach der Rich-
tung, datz durch den privaten Bezug des Rapitalzinses die Gesamt-
heit des Volkes geschädigt werde. Läßt sich doch zeigen, datz bei
der Stärke der jährlichen Bevölkerungszunahme, wie wir sie in
Deutschland vor dem Rriege gehabt haben, auch in einem sozialisti-
schen Gemeinwesen der Zins nicht wesentlich niedriger sein könnte,
als er tatsächlich damals war, wenn durch ihn die Mittel für die
dem Bevölkerungswachstum entsprechende Erweiterung des Wirt-
schastslebens aufgebracht werden sollen.22)

Wenn die Gesellschaft im ganzen durch das arbeitslose Einkommen
nicht geschädigt wird, liegt dann aber um der einzelnen Fälle wil-
len, in denen das arbeitslose Einkommen zu einem müßigen und ver-
schwenderischen Leben gemißbraucht wird, ein genügender Grund
vor, die Forderung zu erheben, daß durch eine Neuorganisation
der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage überhaupt jede Mög-
lichkeit des Bezugs von arbeitslosem Einkommen beseitigt werden
müsse? Zwischen der Forderung und ihrem Anlaß würde in diesem
Falle ein so krasses Mißverhältnis bestehen, daß nur ausgesproche-
ner Doktrinarismus noch an ihr festhalten könnte. Zur Rritik dieses
doktrinären Standpunktes hat A. Voigt einmal treffend bemerkt:

.Es wäre geradezu ein Unglück für die Gesellschaft, wenn es
nicht auch eine Anzahl von Menschen gäbe, welche nicht durch die
Rot zur Arbeit gezwungen sind, sondern frei ihre Arbeit wählen
und in den Dienst der Allgemeinheit stellen können. Nicht alle frei-
lich sind so nützlich, wie sie sein könnten, und manche der heute unter
das Joch der Arbeit Gebeugten würden vielleicht einen besseren Ge-
brauch von ihrer Arbeitsfreiheit machen. — Aber sollen wir darum

22) vgl. Cassel, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 7900, 2.127ff-

46

1,3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft



tive, Organisationstalent, starke Willensenergie usw. schon voll aus-
gebildet besaßen. Sie mußten nur in ihnen in entwicklungsfähiger
Weise vorhanden sein. Fast alle Unternehmer der Jugendzeit der
modernen Volkswirtschaft haben sehr klein, sozusagen handwerks-
mäßig angefangen, wie z. B. die Anfänge der Maschinenindustrie
sehr deutlich erkennen lassen. Die Unternehmer hatten also die
Möglichkeit, in die größeren und schwierigeren Aufgaben, die ihrer
harrten, langsam hineinzuwachsen. So ist das moderne Unternehmer-
tum mit und an der Unternehmung erwachsen,' nicht etwa aber
ist, wie man nach manchem Forscher glauben könnte, erst der ka-
pitalistische Geist geschaffen worden, und dieser hat sich dann die
Unternehmung als seinen Körper erbaut.

Wie bereits angedeutet, hängt die Entstehung der Unternehmung
mit dem Aufkommen des Großbetriebs zusammen und begleitet dessen
Ausbreitung. Als im Mittelalter die ersten großbetrieblichen Ge-
bilde entstanden, und zwar auf dem Gebiete des Bergbaus — Berg-
bau ist ja nie eines Mannes Sache gewesen —, da hat sich aller-
dings zunächst ein ganz ähnlicher Vorgang abgespielt, wie er nach
der Schilderung im letzten Abschnitt auch die Entstehung der Lr-
werbswirtschaft begleitet hat. Vas Wirtschaftsleben scheint zunächst
beim Aufkommen des Großbetriebs eine Zeitlang zu schwanken, ob
es den Weg der Unternehmung betreten oder ob ies für die neu
entstehenden Großbetriebe nicht lieber die Form der Arbeiter-
produktivgenossenschaft wählen soll, bei der die Arbeiter
eines Betriebes zugleich auch die Unternehmer desselben sind, also
selbst das nötige Kapital aufbringen und selbst das Risiko der Pro-
duktion tragen. Sn diesem Falle hat das Schwanken des Wirt-
schaftslebens, bis es sich definitiv entschied, welchen der beiden an
sich möglichen Wege es einschlagen solle, sogar etwas länger ge-
dauert als bei der Entscheidung zwischen erwerbswirtschaftlicher
und konsumgenossenschaftlicher Produktionsweise. Die Periode, in
der im Mittelalter der Bergbau in Deutschland und anderen Län-
dern zunächst in der Form der sogenannten „Gewerkschaft" be-

Weltwirtschaft und Sozialismus

8!

95o/o politisch apathische und in primitiven Verhältnissen lebende
russische Volk die Erzeugnisse seines weit ausgedehnten Landes aus-
reichend sind. hier konnte die verhältnismäßig wenig zahlreiche Klaffe
der Fabrikarbeiter sich an die Stelle des Zarentums setzen und ihren
Angehörigen hohe Arbeitslöhne mit niedriger Arbeitszeit gewähren,
da sie in dem russischen Riesenreiche ein von jeglicher Konkurrenz
freies Absatzgebiet besitzt!"19)

Ghne diese Voraussetzung wäre auch in Rußland das Experiment
des Bolschewismus ebenso schnell gescheitert wie das in Deutschland
sicher der Fall sein würde, wenn man hier den versuch machen wollte,
die bolschewistischen Experimente nachzuahmen. „In Deutschland lie-
gen die Verhältnisse grundverschieden: denn ein für seine Bevölke-
rung ausreichendes Agrargebiet und ein konkurrenzfreier monopoli-
sierter Markt stehen ihm nicht zur Verfügung. Auf seinem Boden
kann sich kaum die Hälfte der deutschen Bevölkerung ernähren, wäh-
rend die andere Hälfte direkt oder indirekt auf den Verdienst im
Auslande angewiesen ist. Dieses ist die unabänderliche Grundtat-
sache der Lage Deutschlands, mit der jede verantwortliche deutsche
Politik in erster Linie rechnen muß, und an der selbst die verhärtetsten
Doktrinen des dogmatischen Sozialismus früher oder später in Splitter
Zerspringen werden. Eine wesentliche Steigerung der Arbeitslöhne
könnte nicht stattfinden ohne die deutsche Industrie im Auslande
konkurrenzunfähig zu machen, und die Folgen davon würden in-
folge der eintretenden Arbeitslosigkeit auf die Arbeiter in erster Linie
Zurückfallen. Die deutsche Arbeiterschaft steht somit unter einem
ehernen Lohngesetz, das durch die Preise auf dem Weltmarkt dik-
kiert wird!"20)

19)	Das europäische Verhängnis, 1919, S. 321.

20)	Philipp hiltebrandt, a. a. (D., S. 321.

Die Höhe des arbeitslosen Einkommens

87

kil des arbeitslosen Einkommens oft noch höher, denn man rechnet
bort mit Vorliebe auch noch das ganze Unternehmereinkommen
Zum arbeitslosen Einkommen. Vas ist indessen unhaltbar. Das Ein-
kommen des Unternehmers ist nach seinem volkswirtschaftlichen Ur-
sprung als eine Mischung von Arbeits- und Uenteneinkommen zu
bezeichnen, und es geht nicht an, den Arbeitsanteil im Einkommen
des Unternehmers einfach zu ignorieren. Die Arbeit des Unter-
nehmers ist nicht bloße Scheinarbeit, wie manche Sozialisten uns
glauben machen möchten, sondern sie ist eine Arbeit, die in jeder
kDirtschaftsverfasfung geleistet werden muß. Auch eine sozialistische
Gesellschaft braucht eine größere Zahl von Produktionsdirigenten
and Betriebsleitern und wird sie entsprechend bezahlen müssen, wenn
sie sich nicht selbst empfindlich schädigen will.

Aber auch, wenn wir in diesem Punkte die sozialistische Auffas-
sung des arbeitslosen Einkommens richtigstellen, so bleibt der Satz
bestehen, daß in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung in großem
Umfange arbeitsloses Einkommen bezogen wird. Muß aber nicht
aber eine Wirtschaftsordnung, die vielleicht 1/6 des Gesamteinkom-
mens Personen zufließen läßt, die nicht entsprechend gearbeitet haben,
vor dem Kichterstuhl der Moral unbedingt der Stab gebrochen wer-
ben? Venn, wenn Personen Einkommen beziehen können, ohne ge-
arbeitet zu haben, ist das nicht gleichbedeutend damit, daß denen,
bie gearbeitet haben, ihr Einkommen entsprechend gemindert wird?
Uas ist ja der versteckte Hintergedanke, der allen sozialistischen An-
griffen auf da; arbeitslose Einkommen zugrunde liegt. Dadurch,
baß arbeitsloses Einkommen bezogen werden kann, wird das Ein-
kommen derjenigen, die arbeiten, unbillig verkürzt. Sind unter diesen
Umständen diejenigen nicht Heuchler, die im sonntäglichen Nirchen-
gebete an Gott die Bitte richten: „Alle redliche Arbeit im Schweiße
bes Angesichts laß ihren Lohn finden unverkürzt", es gleichzeitig
aber zulassen, daß Hunderte von Millionen als Nenteneinkommen
ben besitzenden Massen zufließen? Muß nach der Aufklärung, die
ber Sozialismus über die Natur des Nenteneinkommens uns gegeben

38

I, 3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

3.	Unternehmung und Urbeiterproduktiv-
genossenschaft.

Im letzten Abschnitt wurde der Rapitalismus als das Rind aus
der Ehe der individualistischen Wirtschaftsordnung mit der erwerbs-
wirtschaftlichen Produktionsweise bezeichnet. Wenn wir genau zu-
sehen, so stellt sich das Verwandtschaftsverhältnis indessen doch et-
was anders dar: Der eigentliche Rapitalismus ist nicht das Rind,
sondern erst der Enkel der Verbindung zwischen individualistischem
Rechtsprinzip und Erwerbswirtschaft. Vas, was an unserer Wirt-
schaftsverfassung meist als das spezifisch Kapitalistische empfunden
und oft als eine Abirrung vom rechten Wege der wirtschaftlichen Ent-
wicklung hingestellt wird, das sind ja Folgeerscheinungen nicht der Er-
werbswirtschaft schlechthin, sondern erst einer bestimmten Fortbil-
dung derselben, nämlich derjenigen, die wir als Unternehmung
bezeichnen.

Was ist die Unternehmung? Die Unternehmung setzt den Groß-
betrieb voraus. Sie hat daher erst mit dem Aufkommen des Groß-
betriebs ihren Einzug in das Wirtschaftsleben gehalten. In der
Unternehmung sind die Arbeitskräfte einer größeren Personenzahl
und ebenso gewöhnlich auch Rapitalien, die verschiedenen Personen
gehören, im Dienste eines Produktionszwecks vereinigt. Was die
Unternehmung aber erst zur Unternehmung macht, das ist die be-
sondere Art und Weise, wie diese Vereinigung erfolgt. Sie erfolgt
nämlich nicht so, daß alle Personen, die mit Arbeit oder Rapital
beteiligt sind, auch in gleicher weise an dem Risiko der Produktion
teilhaben. Für die Unternehmung ist vielmehr charakteristisch, daß
die zu ihr gehörigen Personen in zwei Gruppen von sehr verschie-
dener wirtschaftlicher und dementsprechend auch sozialer Stellung
zerfallen, in „Unternehmer" auf der einen und in „Zinskapitalisten"
und „Lohnarbeiter" auf der anderen Seite. Zinskapitalisten und
Lohnarbeiter sind dabei, so verschiedenen Gesellschaftsklassen sie auch

170

Schlußergebnisse

als ein schwaches Surrogat für das Selbstinteresse des Unterneh-
mers und des Arbeiters am Erfolg ihrer Tätigkeit bezeichnet. Ulan
darf von den sittlichen Kräften nicht mehr verlangen, als sie ihrer
Natur nach leisten können. Ls kann daher gar nicht anders sein,
als daß der Sozialismus in rein wirtschaftlicher Hinsicht einen Rück-
schritt bedeutet. Line sozialistische Wirtschaftsordnung wird nicht nur
mit einem Gpfer an wirtschaftlicher Freiheit, sondern auch mit einer
sehr realen Einbuße in bezug auf die Größe der Gütermenge, die
wir im Durchschnitt konsumieren können, erkauft werden müssen.")

Zchlußbetrachtungen.

Ist es nötig, aus unseren Betrachtungen das Fazit noch ausdrück-
lich zu ziehen? Ls kann jedenfalls sehr kurz sein.

Solange die individualistische Wirtschaftsordnung besteht, wird es
auch immer eine sozialistische Bewegung geben. Vas sozialistische
Ideal gehört aber wohl nicht zu den Idealen, die je dazu bestimmt
sind, verwirklicht zu werden,- es sei denn, daß die Entwicklung der
Menschheit unter ganz anderen Bedingungen sich vollzieht als heute,
und auch die Menschen selbst andere werden. Die Rufgabe des So-
zialismus beschränkt sich vielmehr darauf, beständig gleichsam als
Drohung über der individualistisch geordneten Gesellschaft zu schwe-

42)	war hier zur Kritik des Sozialismus sowie zur Widerlegung der
sozialistischen Kritik an der geltenden Wirtschaftsordnung gesagt wurde, kann
natürlich nicht entfernt erschöpfend sein, Aus der Literatur, die der Kritik
und Antikritik des Sozialismus gewidmet ist, seien daher hier noch folgende
Werke genannt: Julius Wolf, Sozialismus und kapitalistische Gesellschafts-
ordnung, 1841. — Georg Adler, Grundlagen der klkarxschen Kritik der
bestehenden Volkswirtschaft, 1887. — (E. von Böhm-Lawerk, Zum Ab-
fchlusse des Marxfchen Systems, 1846. (In den Festgaben für Karl Kaias.)
Von sozialistischer Seite selbst ist ein großer Teil der am Sozialismus, spe-
ziell an der Entwicklungstheorie des marxistischen Sozialismus geübten Kri-
tik als berechtigt anerkannt worden in der Schrift von Ld. Bernstein, Die
Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben derSozialdemokratie, 1894-

110

11,2. Die Arbeitslosigkeit

CEs wäre an sich nicht unbedingt notwendig, daß durch das Vorhan-
densein von Saison- und Kampagneindustrien in der Volkswirt-
schaft regelmäßig soundso viel Tausende von Arbeitern längere Zeit
arbeitslos werden. Lägen die Dinge z.B. so, daß die Gewerbe,
deren Saison in das Sommerhalbjahr fällt, ungefähr ebensoviel
Arbeiter beschäftigten, wie die Gewerbe, deren Saison in den Win-
ter fällt, so brauchte durch das Vorhandensein der Saisongewerbe noch
keine Arbeitslosigkeit zu entstehen. Das würde allerdings nur unter
der weiteren Voraussetzung zutreffen, daß die Arbeiter der Sommer-
saisongewerbe zugleich auch in den Wintersaisongewerben verwend-
bar sind, daß also die Ansprüche, welche in beiden Arten von Sai-
songewerben an die Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeiter ge-
stellt werden, im großen und ganzen übereinstimmen. In der Tat
findet nun auch in gar nicht geringem Umfange eine solche Aus-
gleichung und Ergänzung zwischen den verschiedenen Saisongewer-
ben statt. So rekrutiert sich ein großer Teil der Arbeiter der Rüben-
zuckerindustrie der Provinz Sachsen, deren Kampagne in den Win-
ter fällt, aus den zu dieser Zeit beschäftigungslosen Arbeitern der
Baugewerbe der benachbarten Großstädte. Line vollkommene Aus-
gleichung kann hierdurch aber schon aus dem Grunde nicht erreicht
werden, weil bei dem weitaus größeren Teil aller hierhergehörigen
Gewerbe die Saison in die gleiche Jahreszeit, nämlich in den Som-
mer fällt, von den 155 979 periodischen Gewerbebetrieben, die am
14. Juni 1895 ermittelt wurden, waren 120 642 die sechs Sommer-
monate hindurch voll im Betrieb, die sechs Wintermonate hindurch
dagegen nur 54 509?*) Diese Tatsache erst gibt die eigentliche Er-
klärung für das regelmäßige Anschwellen der Krbeitslosenziffer in
jedem Winter. Und zwar ist der Unterschied zwischen Sommer und
Winter sehr beträchtlich. Im Jahre 1895 belief sich die Zahl der
Arbeitslosen nach Abzug der Arbeitsunfähigen im Sommer- auf
179004, im Winter dagegen auf 553640. Das find im Sommer 1,11-

24) Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 119, 5.188. 3u dem Folgenden vgt-
ebenda, Bd. 111, 5. 245ff.

144

II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

und Sühne. Die heutige Wirtschaftsordnung gibt dem Arbeiter nicht
das, was ihm eigentlich zukommt, nun gut, dafür erhält sie ihre
Strafe in dem periodischen Auftreten von Wirtschaftskrisen, Der
Vertreter der Unterkonsumtionstheorie ist also in der Lage, das
vorkommen von Rrisen mit einer gewissen moralischen Genug-
tuung festzustellen. Ein angeblich immanenter Fehler in der Ein-
richtung der heutigen Wirtschaftsordnung rächt sich auf diese Weise
auch an denen mit, denen die Schuld an diesem Fehler unmittelbar
zur Last zu legen ist oder die wenigstens die Nutznießer des jetzigen
Zustandes find, an den Unternehmern.

Die ganze Erklärung der periodischen allgemeinen Rrisen aus
einer angeblichen Unterkonsumtion der Massen vermag indessen einer
ernsthaften Prüfung nicht standzuhalten. Sie stimmt mit den Tat-
sachen, die für den verlauf der Rrisen charakteristisch sind, gar zu
wenig überein. Die allgemeinen Umstände, aus denen die periodi-
schen industriellen Ronjunkturschwankungen im modernen Wirt-
schaftsleben entspringen, wurden bereits im letzten Abschnitt darge-
legt. hier seien nur noch die Momente kurz hervorgehoben, welche
die sozialistische Rrisenauffassung als unhaltbar erscheinen lassen.

Zunächst hat kein Geringerer als Rarl Marx selbst darauf hinge-
wiesen, daß „die Rrisen jedesmal vorbereitet werden durch eine
Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiter-
klasse realiter größeren Anteil an dem für die Ronsumtion bestimm-
ten Teile des jährlichen Produkts erhält". Das ist sicherlich eine rich-
tige Beobachtung. Wenn vor dem Auftreten von Rrisen der Anteil
der lohnarbeitenden Rlassen am Nationaleinkommen ein Anwachsen
zeigt, so spricht das aber nicht gerade dafür, daß der Ausbruch der
Rrisen im Zusammenhang mit der zu geringen Raufkraft der Ar-
beiterklasse steht. Der offizielle Marxismus bekennt sich daher auch
nur sehr bedingt zur Unterkonsumtionstheorie, was freilich nicht
ausschließt, daß in der praktischen Agitation sehr oft von ihr Ge-
brauch gemacht wird, weiter aber ist es überhaupt unrichtig, das
,Wesen der Rrisen, wie dies die gewöhnliche sozialistische Auffassung

162

11, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

kurz in bezug auf die Wirtschaftlichkeit des Betriebs wird nicht der
Grad erreicht werden, den wir herkömmlich in Privatunternehmun-
gen finden, deren Besitzer mit ihrer ganzen wirtschaftlichen Exi-
stenz und mit der Zukunft ihrer Familie von dem Erfolg des Be-
triebs abhängen.

Ein schwacher Punkt des öffentlichen Betriebs ist dabei vor allem
die durchschnittliche Leistung der beschäftigten Arbei-
ter. Diese auf die gleiche höhe wie in Privatbetrieben zu bringen, hat
der öffentliche Betrieb gewöhnlich besondere, mit seinem Wesen eng
zusammenhängende Schwierigkeiten. Einmal treibt der öffentliche Be-
trieb regelmäßig eine für die Entwicklung der Arbeitsleistung nicht
günstige Besoldungspolitik, und zum anderen stößt in ihm die Auf-
rechterhaltung der Disziplin auf größere Schwierigkeiten als im
Privatbetrieb. Die Prioatunternehmung läßt die Besoldung ihrer
Angestellten grundsätzlich von den Leistungen abhängen und hat
zu diesem Zweck immer feinere Löhnungsmethoden ausgebildet, die
öffentlichen Betriebe dagegen erweisen sich von der Tendenz be-
herrscht, an Stelle der Leistung des Arbeiters anderen Momenten,
wie dem Vienstalter, der Zahl der Rinder usw. einen immer stär-
keren Einfluß auf die Entlohnung einzuräumen. Man mag diese
Besoldungspolitik aus anderen Erwägungen für empfehlenswert hal-
ten, in rein wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet sie für die öffentlichen
Betriebe zweifellos ein Moment der Schwäche. Es entsteht hierdurch
die Gefahr, daß die Arbeiter der öffentlichen Betriebe mit ihren
Leistungen hinter den Arbeitern der Privatindustrie zurückbleiben.
Für die Bergwerke des Preußischen Staates hat die Rommission
des Abgeordnetenhauses, die im Fahre 1910/11 zur Untersuchung
der wirtschaftlichen Lage des staatlichen Bergbaues eingesetzt wurde,
auch bereits ein Zurückbleiben der Durchschnittsleistung der Arbeiter
hinter der Leistung im Privatbergbau festgestellt. Und sie hat da-
für einerseits die Lohnpolitik auf den fiskalischen Bergwerken, an-
dererseits aber mangelnde Disziplin bei den Arbeitern de; Staats-
bergbaues verantwortlich gemacht. Nach ihren Untersuchungen zeigen

jeder Persönlichkeitsentwicklung, (vhne wirtschaftliche Freiheit bleibt
uns das höchste Glück der Lrdenkinder ewig unerreichbar. Der So-
zialismus bedeutet daher in letzter Linie, in so idealem Gewände er
auch auftritt, für den Menschen die Versuchung, seine Persönlichkeits-
rechte preiszugeben, um des Linsengerichts der Sicherung seiner
animalischen Existenz willen. Im Sozialismus triumphiert das
„Säugetier Mensch" über den Menschen als höheres geistiges Wesen.

In Wahrheit kennen diejenigen die menschliche Natur auch schlecht,
die glauben, sie könne in diesem Meinungsstreit sich je auf die
Dauer dem Sozialismus in die Arme werfen. Der Mensch vermag
es auf die Länge nicht ohne wirtschaftliche Freiheit auszuhalten,
und wenn feine animalischen Bedürfnisse befriedigt sind, dann wird
ihn das verlangen nach Freiheit erst recht packen. Wie sehr irren
doch diejenigen, die uns versichern, das Proletariat kenne selbst
seine Interessen am besten, und wenn es nach dem Kommunismus
rufe, so wisse es, daß da seine Freiheit am besten gewahrt sei!
Die „Zivilisationsliteraten" und sozialistischen Theoretiker, die sich be-
rufen fühlen, im Namen des Proletariats solche Erklärungen abzu-
geben, haben wohl nie etwas von den Maschinenzerstörungen gehört,
zu denen die Arbeiterschaft in den Anfängen der industriellen Ent-
wicklungen sich so oft hat hinreißen lassen, Hat das Proletariat
bei diesen sinnlosen Tumulten sich etwa auch von richtiger Ein-
sicht in seine Interessen leiten lassen, oder ist es nicht vielmehr
bloßen Stimmungen gefolgt? Ähnlich kurzsichtig würde es han-
deln, wenn es sich jetzt durch doktrinäre Literaten zu sozialistischen
Experimenten drängen ließe. Gerade diejenigen, die erst am lau-
testen nach dem Sozialismus.gerufen haben, würden es auf die. Dauer
am wenigsten unter einem Regime sozialistischer Freiheitsbeschrän-
kung aushalten. So vermögen zwar sozialistische Episoden, wie wir
jetzt in Rußland beobachten können, schweres Leid über die be-
troffenen Völker zu verhängen, wir brauchen aber nicht zu fürchten,
daß die wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit je allgemein und
auf die Dauer im Toten Meere des Sozialismus enden wird.

136

II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

erkennen wir, wenn wir uns die Ursachen vergegenwärtigen, aus
denen heute in der wirtschaftlichen Praxis die besten von der Technik
geschaffenen Methoden nicht überall da, wo ihre Anwendung an sich
möglich erscheint, zur Anwendung gelangen, sondern in gewissem Um-
fange überall der Uleinbetrieb mit seinen technisch unvollkommenen
Einrichtungen sich behauptet. Cs ist das nicht etwa bloß die Folge von
Schlendrian, Mangel an Einsicht usw., sondern die teilweise Erhaltung
der technisch weniger vollkommenen Betriebsformen hat meistihre sehr
triftigen und realen Gründe. Und solange der Sozialismus an diesen
Verhältnissen nichts zu ändern vermag, wird er auch den Ulein-
betrieb in gewissem Umfange neben dem Großbetrieb dulden müs-
sen^ sobald sich aber diese Verhältnisse ändern, steht auch in der
heutigen Wirtschaftsordnung dem Übergang zum Großbetrieb nichts
mehr im Wege.

Die Verhältnisse, die hierbei die entscheidende Rolle spielen, sind
die Siedelungsweise der Bevölkerung, ihre Verteilung über das Land
hin. Daraus ergeben sich unter Umständen aus bestimmten Gebieten
Märkte von einer solchen Uleinheit, daß dadurch dem Vordringen
der vollkommeneren Produktionsmethoden und der großgewerbli-
chen Betriebsformen eine Schranke gezogen wird. Nehmen wir als
Beispiel die Getreidemüllerei. Allerdings bedeutet die moderne große
Dampfmühle gegenüber den alten Wind- und Wassermühlen, von
anderen Vorteilen abgesehen, eine beträchtliche Uostenersparnis.
Trotzdem aber blieb auch nach ihrer Erfindung die Benutzung der
kleinen Wind- und Wassermühlen in vielen Gegenden Deutschlands
das wirtschaftlich Angebrachte und ist e; in gewissem Umfang noch I
heute. Wir müssen hier besonders die Verhältnisse in manchen dünn
besiedelten ländlichen Bezirken ins Auge fassen. Vas in diesen Ge-
genden produzierte Getreide wird zu einem großen Teil gleich an
Grt und Stelle verzehrt. Sollen nun etwa die Landwirte das für
ihren eigenen Uonsum bestimmte Getreide nach der vielleicht mehr
als 100 Uilometer entfernten nächsten vampfmühle schicken, nur
damit es nach der neuesten und billigsten Mahltechnik ausgemahlt



Landwirtschaft und Sozialismus

153

Zahlten Lohnarbeit als Schablonenarbeit, als Massenleistung gegen?

I übersteht. Sie erfordert andauernde Anpassung der Arbeitsleistung
an das Arbeitsziel, daher auch eine gewisse Freiheit des Entschlusses
und Selbständigkeit des Handelns."

Eben weil aber in der Landwirtschaft die Dinge so liegen, deshalb
können in ihr mit betriebsfremder Arbeit, auch wenn man in mög-
lichstem Umfange Akkordlöhnung anzuwenden sucht, nur unbefrie-
digende Ergebnisse erzielt werden, will man hier ein gutes Ar-
beitsresultat erzielen, so ist die unumgängliche Voraussetzung die,
dem Arbeiter muß selbst das Produkt seiner Arbeit gehören, er
muß die Landwirtschaft auf eigene Rechnung und Gefahr treiben,

! mit anderen Worten, die Wirtschaftsordnung muß eine individua-
I listische mit vorherrschendem Uleinbetrieb sein.

Sn der Landwirtschaft sind aber auch noch andere Uräfte vorhan-
den, die jeder sozialistischen Zentralleitung sich entgegenstemmen.
Die landwirtschaftliche Produktion läßt sich unmöglich nach gene-
rellen Anweisungen führen, die von einer Zentralstelle aus erlassen
! werden. Jedes Stück Erde erfordert vielmehr eine besondere Art
der Nutzung, wenn es den größtmöglichen Ertrag liefern soll. Jeder
einzelne Landwirtschaftsbetrieb ist etwas für sich, das in seiner
besonderen Natur sorgfältig studiert sein will, wenn man ihm den
höchsten Ertrag abgewinnen will. Je nach der Bodenbeschaffenheit,
den klimatischen Verhältnissen, der Lage zum Absatzort, den zur
Verfügung stehenden Arbeitskräften usw. muß ein Landwirtschafts-
betrieb ganz verschieden eingerichtet werden, wenn er ein Maximum
an Ertrag liefern soll. Bald wird zur Erreichung des überhaupt
1 möglichen Höchstertrags dieses Mischungsverhältnis zwischen Acker-
land und Wiesenland angezeigt sein, bald jenes, bald wird sich eine
stärkere, bald eine schwächere Viehhaltung empfehlen, bald wird
diese Mischung der landwirtschaftlichen Produktionszweige, bald jene
vorzuziehen sein, um genügend Futter für das Vieh, oder anderer-
seits genug Dünger für die Felder zu erhalten, und um die rechte
Ausnutzung der Gespanne sowie der menschlichen Arbeitskräfte zu

Das wirtschaftliche Wesen beider Produktionsweisen	21

wirtschaftlichen Produktionsweise, unter Umständen aber auch eine
gewisse moralische Schwäche. Denn es entsteht dadurch auch die Ver-
suchung, den Gewinn durch Anwendung moralisch bedenklicher Mittel
zu vergrößern. Lei der konsumgenossenschaftlichen Produktionsweise
dagegen ist die Möglichkeit ausgeschlossen, daß jemand an der Be-
friedigung des Bedarfs anderer Personen einen Gewinn macht. Die
konsumgenossenschaftlichr Produktionsweise ist sozusagen immer eine
Bedarfsdeckung zum Selbstkostenpreis. Gelingt es, die Produk-
tion zu verbilligen, so muß der Nutzen hiervon stets den genossen-
schaftlich organisierten Abnehmern zufallen. Bei einer Uonsumge-
nossenschaft können eigentlich überhaupt nie Gewinne gemacht, son-
dern nur Ersparnisse erzielt werden.

Unter primitiven Wirtfchaftsverhällnissen tritt der Unterschied
Zwischen erwerbswirtschastlicher und konsumgenossenschaftlicher Pro-
duktionsweise noch nicht hervor. Solange das Wirtschaftsleben auf
der sogenannten Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft verharrt und
jede wirtschaft alle Güter, deren sie bedarf, im allgemeinen auch
selbst erzeugt, fehlt die Möglichkeit, von einem Gegensatz zwischen
Erwerbswirtschaft und Uonsumgenossenschaft zu sprechen. Sobald
aber die tvrganisationsstufe der Eigenproduktion, insbesondere durch
die Loslösung der gewerblichen Arbeit von der Hauswirtschaft, über-
wunden wird und Produktion und Konsumtion der Güter sich mehr
und mehr auf verschiedene Wirtschaften verteilen, da fängt auch
sogleich der Gegensatz zwischen erwerbswirtschaftlicher und konsum-
genossenschaftlicher Produktionsweise an hervorzutreten. Und das
Wirtschaftsleben scheint, wie schon angedeutet, zunächst einen Augen-
blick zu schwanken, welchen der beiden an sich gleich möglichen Wege
es einschlagen soll. So war z. B. im Mittelalter die Lage der Dinge,
als einzelne gewerbliche Arbeiten sich von der Hauswirtschaft los-
lösten und ihre Verrichtung an Spezialbetriebe überging, die nicht
einer einzelnen Hauswirtschaft, sondern einer größeren Zahl von sol-
chen ihre Dienste widmeten. Die ersten gewerblichen Berufsarbeiter,
denen wir im Mittelalter in den Dörfern begegnen, wie vor allem

A. Deichert’sche Verlagsbuchhdlg. Werner Scholl

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Zeitschrift für
Sozialwissenschaft

Begründet von Julius Wolf

In Gemeinschaft mit Prof. Dr. Andreas Voigt-Frankfurt a. M.
herausgegeben von Prof. Dr. Ludwig Pohle in Leipzig
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Jährlich 6 Doppelhefte

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Von Professor Dr. Th. Litt

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Von den Erfahrungen und Bedürfnissen des praktischen Lebens ausgehend,
sucht der Verfasser das überreiche soziologische Erfahrungsmaterial der Gegenwart,
insbesondere der jüngsten gesamteuropäischen Krisis, mit Hilfe der Erkenntnismittel,
die die jortschreitende Entwicklung des sozial- und kulturphilosophischen Denkens
geschaffen hat, zu ordnen und zu deuten und für die soziale Selbsterfassung und
Selbstleitung nutzbar zu machen.

Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin

106

II, 2. Die Arbeitslosigkeit

wenigstens nicht wesentlich über 3 o/o hinausgeht, insofern unbe-
denklich, als sie kein Hindernis für eine aufsteigende Le-
wegungder Löhne bildet, wie auf dem kvohnungsmarkt ein Vor-
rat von 3o/o leerstehender Wohnungen noch keinen fühlbaren Druck
auf die Mietpreise auszuüben vermag, sondern erst, wenn der Woh-
nungsvorrat wesentlich über dieses Maß hinaus anschwillt, die Preis-
bildung der Wohnungen nach unten beeinflußt wird, so steht es ähnlich
auf dem Urbeitsmarkte. Eine Urbeitslosenziffer von 3 o/o und weniger
vermag die Uufwärtsbewegung der Löhne nicht auszuhalten, erst,
wenn die Ziffer von 3 o/o stärker überschritten wird, tritt eine Umkehr
in der Bewegung der Lohnsätze ein. Das lassen die nachstehenden
Ungaben für Großbritannien deutlich erkennen, in denen die Jahres-
durchfchnittsziffer der Arbeitslosen bei den britischen Gewerkvereinen
mit der Zunahme oder Ubnahme der wöchentlichen Lohnsätze im
vereinigten Königreich verglichen wird. Ls betrug

Jahr	Allgemeine Arbeitslosen- ziffer der Ge- werkvereine	Zunahme bzw. Ab- nahme der wöchent- lichen Lohnsätze in 1000	Jahr	Allgemeine Arbeitslosen- ziffer der Ge- werkvereine	Zunahme bzw. Ab- nahme der wöchent- lichen Lohnsätze in 1000 £
1896	3,5	-st 26,5	1905	5,0	- 2,2
1897	3,3	-st 31,5	1906	3,6	-st 57,9
1898	2,8	-st 80,7	1907	3.7	-st 200,9
1899	2,0	4- SO,3	1908	7,8	- 59,2
1900	2.3	-st 208,6	1909	7,7	- 68,9
1901	3,3	- 76,6	1910	4,7	-st 14,5
1902	4,0	— 72.6	1911	3,0	-st 34,6
1903	4,7	— 38,3	1912	3,2	+ 139,5
1904	6,0	- 39,2	1913	2,1	-st 164,2

Uuch vom Standpunkt des einzelnen Urbeiters kann eine Urbeits-
kosigkeit, die nicht über 3 °/o hinausgeht, im allgemeinen als un-
bedenklich angesehen werden. Denn wenn der Umfang der Arbeits-
losigkeit diese Grenze nicht überschreitet, kann zugleich angenommen
werden, daß die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt nur kurzfristig ist.
Diese beiden Dinge gehen überhaupt gewöhnlich Hand in Hand.

Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenunterstützung

119

angebot zu beschäftigen, so entsteht unvermeidlich Arbeitslosigkeit,
und sie wird nicht eher wieder aufhören, als bis die Löhne auf das
dem Stande de; Arbeitsmarktes entsprechende Niveau zurückgekehrt
sind. Diese wichtige Tatsache muß insbesondere von jeder Arbeits-
losenversicherung bei der Bemessung ihrer Unterstützungssätze im-
mer im Auge behalten werden, vergreift sich eine Arbeitslosenver-
sicherung in der höhe ihrer Unterstützungssätze, bewilligt sie den
Arbeitslosen höhere Sätze als der Lage der Volkswirtschaft ent-
sprechen, so schafft sie selbst mit die Arbeitslosen, die sie dann unter-
stützen muß. Auf die Dauer ist jedes solches System natürlich unhalt-
bar, es muß früher oder später zum Zusammenbruch füh-
ren?«)

26) töte schon bei den Nationalwerkstätten in Paris im Zahre 1848
der Fehler gemacht wurde, diese Notstandsarbeiten so hoch zu bezahlen,
daß dadurch die Lust zu normaler Arbeit in der Industrie untergraben
wurde, so sind offenbar bei der Bemessung der Arbeitslosenunterstützung
jetzt am Kriegsende wieder ähnliche Fehler begangen worden. Aus Ungarn
berichtet z. B. die Frankfurter Zeitung im l. Ulorgenblatt vom 2. Ulärz
1919: „Nebenbei wird noch eine Armee von hunderttausenden Arbeits-
losen erhalten, von denen der überwiegende Teil nicht arbeiten will,
weil der Staat jetzt männlichen Arbeitslosen täglich 15, jedem weiblichen
Arbeitslosen 10 Kronen Unterstützung bezahlt, welcher Arbeitsunfreudige
wird unter solchen Umständen noch Arbeit suchen." Und diese Erschei-
nungen sind gewiß nicht nur auf Ungarn beschränkt. In einem Bericht
der gleichen Zeitung über die Lage des Arbeitsmarktcs in Deutschland
heißt es über die deutschen Zustände: „Im Bergbau ist die Zahl der offe-
nen Arbeitsstellen noch immer bedeutend,' allein im rheinisch-westfälischen
Kohlenrevier werden über 13 000 Arbeitskräfte gesucht. Alle versuche,
die Arbeitslosen von den Großstädten nach den Bedarfsstellen zu ziehen,
sind infolge der hohen Arbeitslpsenunterstützungen bisher vergeblich ge-
wesen. So gehen in den Großstädten Hunderttausend:: müßig auf Kosten
der Allgemeinheit, während in den für unser Wirtschaftsleben so überaus
wichtigen Kohlengruben die Förderung infolge des Mangels an Arbeits-
kräften weit hinter dem Bedarf- zurückbleibt. Der Umstand ferner, daß
«in erheblicher Teil der tätigen Arbeiter weniger verdient als die Er-
werbslosen an Unterstützungen erhalten, ist eine dauernde (Quelle der Un-

Die Angriffspunkte des Sozialismus

83

Punkten steckt die Summe der spezifisch sozialistischen Kritik an der
Modernen Volkswirtschaft. was sonst noch vom Sozialismus an de«
Einrichtungen und Erscheinungen des gegenwärtigen wirtschaft-ö-
lebens getadelt wird, das sind Eigenschaften und Mängel, die auch
von nichtsozialistischer Seite oft hervorgehoben werden, und vor
allem, es handelt sich um Erscheinungen, wie z. B. eine etwaige
übermäßige, die Gesundheit der Arbeiterschaft schädigende Ausdeh-
nung der Arbeitszeit, überhaupt hygienisch unbefriedigende Arbeits-
bedingungen, die auch auf dem Loden der bestehenden Wirtschafts-
ordnung selbst sich mit Erfolg bekämpfen lassen. Die drei Punkte
dagegen, auf die der Sozialismus seine Kritik hauptsächlich konzen-
triert, sind, darin hat der Sozialismus unzweifelhaft recht, not-
wendige Folgeerscheinungen der allgemeinen Rechtsgrundlagen, auf
denen das Wirtschaftsleben der Gegenwart ruht. Sie lassen sich
daher nur dann ganz zum verschwinden bringen, wenn man auch
die Rechtsgrundlagen, die heute gelten, aufhebt.

Die erste Einrichtung, um derentwillen der Sozialismus die heu-
tige Wirtschaftsordnung verurteilt, ist die mit ihr untrennbar ver-
knüpfte Existenz eines umfangreichen arbeitslosen Einkom-
mens. Vas arbeitslose Einkommen in seinen beiden Haupterschei-
nungsformen des Rapitalzinfes und der Grundrente widerspricht
dem ethischen Ideal des Sozialismus. Der Sozialismus will, daß
im Wirtschaftsleben Ernst gemacht werde mit dem Satze der Bibel:
,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Der Sozialismus führt
für seinen Standpunkt aber nicht nur moralische Grundsätze ins
treffen, er glaubt sich bei dieser Tatsache auch auf objektive wirt-
schaftliche Gründe stützen zu können. Vas arbeitslose Einkommen
hat nach ihm keinerlei wirtschaftliche Rechtfertigungsgründe. Es ist
nach ihm lediglich dazu da, die einen da ernten zu lassen, wo an-
dere gesät haben.

Die zweite wirtschaftliche Erscheinung, die das verdammungsurteil
des Sozialismus über die heutige Wirtschaftsordnung begründen soll,
'st die Unsicherheit der wirtschaftlichen Existenz,die über

174

Schlußergebnisse

ihrem wirtschaftlichen Untergang zu büßen haben. Die Ereignisse in
Ungarn und Rußland sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche
Zprache. Der Sozialismus erscheint unter diesem Gesichtswinkel be-
trachtet geradezu als eine Form des Völkerselbstmords. Wenn ein
Volk, an seinem Schicksal verzweifelnd, sich selbst aus der Reihe der
lebendigen Rationen streichen will, so greift es nicht zur Pistole oder
zum Strick, sondern es wirft sich dem Sozialismus in die Arme. Dem
Sozialismus scheint im Völkerleben die Rolle des Scharfrichters vor-
behalten zu sein, der das Urteil der Geschichte an den zum Unter-
gänge bestimmten Völkern zu vollstrecken hat.

Es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß aus den jetzigen
chaotischen Verhältnissen heraus jemals ein sozialistischer Neuaufbau
der Volkswirtschaft gelingen könnte. Vas einzige, was durch so-
zialistische Experimente erreicht werden kann, ist die vollständige
Zertrümmerung der letzten Reste, die der Rrieg von dem einst so
stolzen Bau unserer Volkswirtschaft noch übrig gelassen. Was dann
kommen wird, das ist aber nicht eine sozialistische Organisation des
Wirtschaftslebens, sondern eine kapitalistische Neuschöpfung, ein pri-
mitiver Rapitalismus. Der Rapitalismus wird dann seine Lauf-
bahn gleichsam noch einmal von vorn beginnen. Was ist damit aber
für die Arbeiterklasse gewonnen? hat die deutsche Arbeiterschaft.im
Laufe der Rriegsjahre wirklich vollständig vergessen, wie gut es
ihr wirtschaftlich vor dem Rriege ging und wie sehr sich ihre Lage
unter dem jetzt so heftig geschmähten individualistischen Gesell-
schaftssristem gehoben hatte? Wer wagt es ernsthaft zu bestreiten,
wenn die „Frankfurter Zeitung" (Abendblatt vom 2. April 1919)
feststellt, „daß unser Volk während der letzten Friedensjahrzehnte
im großen Durchschnitt besser ernährt, behaust, bekleidet und be-
lohnt war als je vorher, und dies trotz der riesigen Zunahme unserer
volkszahl in diesen Jahrzehnten" ? Und das Gesellschaftssystem, mit
dem diese Wirkungen erzielt wurden, will man jetzt leichtsinnig preis-
geben, um dafür tollkühne Experimente mit Gesellschaftsgrundlagen
anzustellen, die noch nirgends den Beweis ihrer dauernden Lebens-

102

II, 2. Die strbeitslojtgfeit

Luxus entsagen und ihre Hauptaufgabe in der Vermögensbildung
erblicken. Sie müssen die möglichste- Vermehrung ihres werbenden
Besitzes nicht nur als eine Pflicht gegen ihre nächsten Angehörigen,
sondern auch gegen die Gesellschaft im ganzen betrachten. Ein reicher
Mann, der von diesem Grundsatz sich leiten läßt, handelt sozialer als
ein anderer, der von seinem Reichtum gelegentlich einige Stiftungen
für wohltätige Zwecke macht, im übrigen aber sich einer so luxuriösen
Lebensführung überläßt, daß für die Vermögensvermehrung nichts
übrigbleibt. Einige Zehntausende, die für gemeinnützige Zwecke ge-
geben werden, sind aber nicht schon ein ausreichendes Feigenblatt,
um die Blöße des Luxus zu verdecken.

Rur eine privatkapitalistische Gesellschaft, die in der Frage des
Luxus ein reines Gewissen hat, wird die moralische Rraft besitzen,
die Angriffe des Sozialismus auf die heutige Wirtschaftsordnung
immer wieder siegreich abzuwehren. Vas Schicksal der heutigen Wirt-
schaftsordnung hängt insofern von dem Verhalten der besitzenden
Massen selbst ab.

2.	Die Arbeitslosigkeit.

Diejenige Erscheinung in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung,
die neben dem arbeitslosen Einkommen am meisten die sozialistische
Kritik herausgefordert hat, ist die in ihr beständig in gewissem Um-
fang anzutreffende Arbeitslosigkeit. Und mit den Vorwürfen und An-
klagen, die der Sozialismus aus diesem Grunde gegen die bestehende
wirtfchaftsverfassung erhebt, hat er zweifellos auch auf weite nicht-
sozialistische Kreise einen tiefen Eindruck gemacht. Jedem Menschen
schwebt das Ziel vor, daß er eine gesicherte ökonomische Existenz
erlangen möchte. Das ist ja einer der Hauptgründe, weshalb der
Andrang zu den staatlichen und kommunalen Beamtenstellen so groß
ist. Ihre Inhaber erfreuen sich einer gesicherten Stellung,- sie kön-
nen aus ihrer Stellung nur beim vorliegen ganz bestimmter Vor-
aussetzungen wieder entfernt werden. Sonst ist sie ihnen aber für

Aristokratie und Demokratie im Wirtschaftsleben

57

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lkach dieser Entwicklung ist der Traum von der Arbeiterproduktiv-
genossenschaft heute auch in sozialistischen Kreisen selbst meist aus-
geträumt?^) Sozialisten wie Ed. Bernstein haben ihr und den
aus ihr entsprungenen Einrichtungen, wie der Gewinnbeteiligung
öer Arbeiter, eine entschiedene Absage erteilt. Die Unternehmung
hat sich im wirtschaftlichen Wettkampf auch allzu deutlich als die
überlegene 5orm der Erwerbswirtschaft erwiesen. Die aristokratische
form der Lrwerbswirtschaft hat über die demokratische den Sieg
davongetragen —eine Tatsache, die zweifellos auch für die politische
Entwicklung des letzten Jahrhunderts von großer Tragweite ge-
worden ist. Gerade der Umstand, daß in der Verfassung des Wirt-
schaftslebens die aristokratische Grganisationsform ausgesprochen die
Führung erlangt hat, hat zur Verstärkung des demokratischen Ge-
dankens auf rein politischem Gebiete beigetragen. Die wachsende
stärke, die die demokratische Bewegung in allen Ländern im Laufe
der lg. Jahrhunderts erlangt hat, ist wesentlich unter dem Ge-
sichtspunkt zu betrachten, daß dadurch ein Gegengewicht geschaffen
werden sollte gegen die aristokratischen Organisationsformen, die
im Wirtschaftsleben die Vorherrschaft erlangt hatten. Die Ausbrei-
iung der Unternehmung und das fortschreiten der politischen Demo-
kratie hängen untereinander eng zusammen. Die zunehmende Demo-
kratisierung des politischen Lebens sucht die Gefahren, die aus der
Umgestaltung der wirtschaftlichen Organisation entspringen können,
ZU korrigieren. Selbstverständlich wurzelt die politische Demokratie
^icht bloß in diesem einen Moment, aber die Entwicklung des Wirt-

12)	Einzelnen Projektenmachern scheint bei ihren Sozialisierungsplänen
allerdings manchmal so etwas wie die Arbeiterproduktivgenossenschaft vorzu-
schweben, wie überhaupt alle Sozialisierungsvorschläge, sobald sie etwas
Messbarere Gestalt annehmen, gewöhnlich nur alte längst bekannte und schon
hundertmal widerlegte nationalökonomische Ideen wiederholen. Es gibt sogar
^-eute, die glauben, sie könnten den Unternehmer zwar als Träger des Risikos

Produktion bestehen lassen, aber die Betriebsleitung vollständig in dieHände

Arbeiterräten legen, die damit natürlich auch über die Verteilung des Ge-
winnes zu bestimmen beanspruchen würden — falls ein solcher je eintreten sollte.

14	1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

den, in welchem Berufe, an welchem tvrte, in welchem Betriebe er
eine Arbeitsstelle annehmen und wie lange er in ihr bleiben will,
wie überhaupt niemand rechtlich zur Arbeit gezwungen ist, so steht
es jedem auch frei, auf welchem Gebiete er sich mit seiner Arbeits-
kraft sowie auch seinem etwaigen Besitz an Sachgütern an der Pro-
duktion beteiligen will. Es herrscht eine weitgehende Arbeits- und
Rnternehmungsfreiheit. wie empfindlich die Bevölkerung gegen Be-
schränkungen ihrer Bewegungsfreiheit gerade auf diesem Gebiete
reagiert, das ließ die Unbeliebtheit deutlich erkennen, der die Be-
stimmungen des Hilfsdienstpflichtgesetzes mit ihren Beschränkungen
der Freiheit des Stellenwechsels in der deutschen Arbeiterschaft
sehr bald begegneten. Ls gehörte darum mit zu den ersten Hand-
lungen der neuen Regierung nach der Revolution, daß sie, den
Wünschen der Arbeitermassen entsprechend, das Hilfsdienstgesetz wie-
der aufhob.

Unternehmungs- und Arbeitsfrsiheit sowie Freiheit des Ronfums
bedingen sich in der heutigen Wirtschaftsordnung gegenseitig, wenn
der Ronsum nicht durch staatliche Vorschriften, sondern nur durch
das indirekte Wittel der Preisbildung geregelt wird, im übrigen
aber völlig frei nach jeder Richtung sich entwickeln kann, so ist
unbedingtes Erfordernis, daß zugleich auch Produktions- und Ar-
beitsfreiheit herrschen. Sonst besitzt die Produktion nicht die Mög-
lichkeit, der Entwicklung des Ronfums sich rasch anpassen zu können.

wann ist nun die Wirtschaftsordnung mit wirtschaftlicher Selbst-
verantwortlichkeit der einzelnen, Privateigentum, Ronsum- und Pro-
duktionsfreiheit eigentlich historisch entstanden? Diese Wirtschafts-
ordnung wird mit einer gewissen Vorliebe auch als das Wirtschafts-
system der freien Ronkurrenz bezeichnet, weil aber eine von den
Schranken des Zunftwesens völlig befreite Ronkurrenz in den mei-
sten Ländern erst im Gefolge der großen Französischen Revolution
zur Herrschaft gelangt ist, wird durch diese Bezeichnung leicht die
falsche Vorstellung erweckt, wie wenn überhaupt die individualistische
Wirtschaftsordnung eine verhältnismäßig noch junge Schöpfung sei.

76	1,4. Der Sozialismus

In dem Matze, wie an die Stelle selbständiger Kleinproduzenten die
Arbeitermassen des Großbetriebs traten, mutzte die Stimmung für
den Sozialismus schärfer sich ausprägen. Venn der eigene Betrieb
und der eigene Besitz, wenn er auch nur in einem Stück Land oder
einem kleinen Häuschen besteht, ist noch immer das Mittel, das am
besten gegen die verführerische Kraft sozialistischer Ideen immun
macht. Dezentralisation des Bodenbesitzes oder, anders ausgedrückt,
innere Kolonisation, ist auch unter diesem Gesichtspunkt eine der
wichtigsten Aufgaben der Gegenwart.

wenn man erwägt, wie stark nach dem Gesagten die Versuchung
sein mutz, mit dem Sozialismus an Stelle des herrschenden Systems
eine Probe zu machen, dann mutz man sich eigentlich wundern, daß
uns die Wirtschaftsgeschichte in ihrem uns näher bekannten Verlauf
nicht mehr von ernsthaften' sozialistischen Experimenten zu erzählen
hat. In Nordamerika sind allerdings im Laufe des letzten Jahr-
hunderts nach und nach eine ganze Reihe von kleinen Gemeinwesen
auf mehr oder weniger kommunistischer Grundlage begründet wor-
den. Diese kommunistischen Gemeinden, deren Mitglieder meist durch
das starke Band einer gemeinsamen religiösen Überzeugung verbun-
den sind, können aber hier im Grunde gar nicht als Beispiele heran-
gezogen werden. Venn es fehlt ihnen das, was den Sozialismus
erst zu einem Rechtssystem macht: der auf alle Mitglieder des Ge-
meinwesens ausgeübte staatliche Zwang, sich der kommunistischen
Ordnung fügen zu müssen. Sie sind freiwillige Bildungen, aus denen
jedermann jederzeit wieder austreten kann, um im großen Gebiet
der Union von neuem nach den Grundsätzen des Individualismus
zu leben.

So bleibt hier eigentlich nur ein einzigesBeispiel für eine auf sozialisti-
schen Prinzipien beruhende Wirtschaftsordnung großen Stils aus einem
europäischen Großstaate der Gegenwart anzuführen: das ist die
sozialistische Regelung des Bodenbesitzes in den russischen Dorfge-
meinden. In dem größten Teile des ehemaligen russischen Reiches
wurde seither das Bauernland nach dem Recht des „Mir" besessen.

70

I, 4. Der Sozialismus

so wird ihm gar nichts anderes übrigbleiben, als in die Freiheit
des Konsums oder in die Freiheit der Arbeit, wahrscheinlich aber
in beide, tiefe Eingriffe zu machen. Die Aufrechterhaltung der vom
Kollektivismus zur gerechten Entlohnung aller Arbeitsarten auf-
gestellten Skala ist auf jeden Fall mit der Freiheit des Konsums
und der Freiheit der Arbeit auf die Dauer unvereinbar?!-) Vieser
Satz ist ebenso sicher und zwingend wie der mathematische Satz,
daß die Summe der Winkel in einem Dreieck nicht größer als 180°
sein kann, und daß daher, wenn die Größe zweier Winkel ge-
geben ist, damit auch schon über die Größe des dritten bestimmt ist.
So gern die Leiter des kollektivistischen Staats vielleicht auch an
der freien Bedarfsbildung festhalten möchten, so wird ihnen unter
diesen Umständen bald keine Wahl mehr bleiben. Die Unmöglich-
keit, die Linkommensordnung der kollektivistischen Gesellschaft sonst
durchzuführen, und ebenso die Gefahr des Eintritts von Massen-
arbeitslosigkeit, die mit jedem System freier Bedarfsdeckung untrenn-
bar verknüpft bleibt, wird gebieterisch zu Eingriffen in die Frei-
heit des Konsums und notgedrungen weiter auch in die Freiheit
der Arbeit drängen.

weiter aber wird dem kollektivistischen Staat kaum das Schicksal
erspart bleiben, daß auch seine Linkommensordnung selbst Anfech-
tungen erfährt und sich auf die Dauer nicht behaupten kann, weil
sie den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit sehr bald als nicht
mehr entsprechend empfunden werden wird. Diese Linkommens-
ordnung kann, wie richtig bemerkt worden ist, ihre Abstammung
aus der liberalen Gedankenwelt nicht verleugnen; der mit sozialem
Stilgefühl Ausgestattete wird sie sofort empsinden. Aus der Ge-
dankenwelt des eigentlichen Sozialismus werden sich daher sehr bald
folgende Zweifel und Fragen gegen sie erheben, die hasbach vor-
trefflich formuliert hat"): „wer wertvollere Arbeit verrichtet, soll

15)	Den genaueren Nachweis hierfür siehe bei Tasfel, Das Recht auf
den vollen Arbeitsertrag, 190V, §. 60/61.

16)	w. Dasbach, Die moderne Demokratie, 1912, S. 379.

Kapitalismus
und Sozialismus

Betrachtungen über die Grundlagen der gegenwärtigen
Wirtschaftsordnung sowie die Voraussetzungen
und Folgen des Sozialismus

von

Dr. Qpohle

ord. proselsor der Nationalökonomie
an der Univerjität Leipzig

Zweite Uuflage

Verlag und Druck von B. G. Teubner - Leipzig - Berlin 1920

i

108

II, 2. Die Arbeitslosigkeit

Bei beiden Zählungen entfiel also auf die Arbeitslosigkeit, die
nicht über die Dauer eines Monats hinausging, ein sehr beträcht-
licher Teil aller Fälle, im lvinter sogar mehr als die Hälfte der
Gesamtzahl. Nun kommt es freilich nicht auf die Dauer der Arbeits-
losigkeit am Zählungstage an, sondern aus ihre gesamte Dauer bis
zur Erlangung einer neuen Stelle. Im Anschluß an die Erhebungen
des Reiches von 1895 haben einzelne Städte versucht, auch über diesen
Punkt Rlarheit zu schassen. Sie suchten durch ergänzende Nacher-
hebungen zu ermitteln, wann die Arbeitslosen wieder Beschäftigung
bekommen haben. Eine solche Erhebung wurde z. B. in Berlin ver-
anstaltet. Dabei stellte sich Heraus, daß die Arbeitslosigkeit durch-
schnittlich 38 Tage dauerte. In Stuttgart, wo eine analoge Nacher-
hebung im Anschluß an die winterzählung stattfand, hatten bereits
zehn Tage nach dem 2. Dezember 19,1 o/o der Arbeitslosen wieder
Beschäftigung gefunden. In einem sehr beträchtlichen Teil aller Fälle
handelt es sich also nur um eine kurzfristige und daher weniger be-
denkliche Arbeitslosigkeit. Daneben sind freilich auch die Fälle von ,
schwerer, langdauernder Arbeitslosigkeit in nicht geringer Zahl ver-
treten. Dabei ist aber noch etwas anderes zu beachten.

Unter den Arbeitslosen befinden sich immer auch Existenzen, die im
Begriffe stehen, aus dem Erwerbsleben wegen mangelnder physischer,
geistiger oder moralischer Leistungsfähigkeit überhaupt ganz ausge-
schieden zu werden. Namentlich bei den Fällen von schwerer, lang-
dauernder Arbeitslosigkeit handelt es sich oft um in irgeudeiner hin- !
sicht minderwertige Elemente, die den normalerweise im Erwerbsleben
zu stellenden Anforderungen nicht zu genügen vermögen. Zu den eigent-
lichen Arbeitslosen kann man diese Elemente im Grunde gar nickst
mehr zählen. Denn sie haben infolge ihrer körperlichen und geistigen
Mängel oft überhaupt keine Aussicht mehr, eine dauernde Beschäfti-
gung zu finden. Sie sind als erwerbsunfähig oder doch höchstens
als halb erwerbsfähig zu betrachten, hinter der Arbeitslosenfrage
verbirgt sich heute also zugleich auch das Problem, wie für die ver-
mindert Erwerbsfähigen zu sorgen ist. Das ist zweifellos ein Pro-

Freizügigkeit und Wohnungsnot

121

deren Erwerbsleben die Industrie die erste Rolle spielt, nehmen die
Schwankungen auf diesem Gebiete sehr große Dimensionen an. In
Seiten des industriellen Rufschwungs setzt in solchen cvrten ein un-
gestümer Mehrzuzug zur Stadt ein, und zwar ein Zuzug, der nicht
vorher angemeldet zu werden braucht-und dessen Größe von den
Lauunternehmern in ihre Berechnungen und Überlegungen da-
her nur schwer richtig einzustellen ist. Sobald dann aber die Hoch-
konjunktur in der Industrie nachläßt, hört auch die stürmische Zu-
wanderung auf, und in Zeiten wirtschaftlicher Depression wird aus
dem Mehrzuzug oft sogar ein Mehrabzug. In der Wirtschaftskrisis
der Jahre 1901/02 war ein solcher in einer ganzen Reihe von deut-
schen Städten zu beobachten. Chemnitz in Sachsen z. B. hatte von
1897 bis 1900 jährlich eine durchschnittliche Mehrzuwanderung von
Mehr als 2000 Personen, 1901 dagegen war aus dem Mehrzuzug
ein Mehrabzug von rund 1600 Menschen geworden. Der Sitz der
Betriebe von Krupp, die Stadt Essen, hatte von 1897 bis 1901 einen
Mehrzuzug, der zwischen 2600 und 5500 Personen jährlich schwankte,
1902 dagegen hatte Essen eine Mehrabwanderung von über 7000
Und auch 1903 immer noch eine solche von 2500 Personen. Ähnlich
lagen die Verhältnisse auch in Duisburg, Halle a. S., Mannheim und
anderen Städten. Mannheim hatte 1900 einen Mehrzuzug von 8200
Personen, 1901 war er schon gesunken auf 4300 Personen, und
1902 war der Mehrzuzug in einen Mehrabzug von 2655 umge-
schlagen. Dementsprechend schnellte der Wohnungsvorrat in Mann-
heim, der in der Zeit des guten Geschäftsgangs in der Industrie, vor
1900, allmählich bis auf l,4«/o zusammengeschrumpft war, 1901 so-
fort wieder in die höhe und stellte sich in diesem Jahre bereits auf
5,12 und im folgenden sogar auf 6Vt°/o! Dabei ist noch zu berück-
sichtigen, daß in vepressionszeiten auch die Zahl der Eheschließungen
gewöhnlich stark zurückgeht, wodurch der jährliche wohnungsbedarf
in diesen Zeiten noch weiter vermindert wird.

Sobald man sich diese Verhältnisse etwa; näher vergegenwärtigt,
wird man nicht mehr so schnell mit dem Vorwurfe gegen die private

Gegenwärtige Ausbreitung der Konsumgenossenschaft

27

bei 2,1 und auch nach der von 1907 erst 3,7 vom Tausend aus die
ein '"Genossenschaftsbetrieben Beschäftigten. Selbst wenn man nun an-
:in- nimmt, daß diese Zahlen nicht ganz vollständig sind, und wenn man
ge. sie deshalb verdoppelt, so kommt man doch zu dem Ergebnis, daß auch
ren in einem Lande wie Deutschland, wo der Aufschwung des Konsum-
ier "ereinswesens mit am stärksten war, in den Konsumvereinsbetrie-
ben noch nicht einmal 1 °/o der gewerblich tätigen Bevölkerung Be-
)ro- schäftigung findet. Und auch in Großbritannien, das an der Spitze
and ^er Konsumvereinsbewegung marschiert, liegen die Dinge nicht we-
ihn- ^"ilich anders. In den Produktionsbetrieben der britischen Konsum-
0||t vereine waren 1910 einige 40000 Arbeiter beschäftigt und in ihren
Warenhandelsabteilungen etwas über 60 000. lvas wollen aber diese
er- ^"hlen besagen gegenüber dem Rlillionenheer der britischen Indu-
roie striearbeiterschaft?

ijti= 2st die Eigenproduktion der Konsumvereine aber nicht nach ver-
eis- ^iedencn Richtungen hin noch sehr entwicklungsfähig? Das kann
lege 1,10,1 ohne weiteres zugeben. Allein hierauf die Erwartung zu grün-
silfe daß durch die immer weitere Ausdehnung der Eigenproduktion
der Konsumvereine je der ganze Eharakter unseres Wirtschaftslebens
ein- ! UTn9eftaItet und die jetzige Vorherrschaft der Erwerbswirtschaft ge-
rige ^'ochen werden könnte, das kann doch nur der tun, der in seiner
)irk- Vorliebe für die angeblich sittlich höherstehende konsumgenossenschaft-
stab Produktionsweise das rechte Augenmaß für die Tatsachen ver-
arg- ^en hat und die Umstände nicht zu erkennen vermag, auf denen
vill, k'e Vorherrschaft der Erwerbswirtschaft ruht. Die überwältigende
eine Stellung, welche die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise im Laufe
mch- Jahrhunderte in allen Ländern erlangt hat, ist nichts Zufälliges,
ndes ^ot vielmehr ihre guten Gründe. In einigen Ländern, darunter
chen.	Deutschland, hat zwar der Gesetzgeber die Torheit begangen,

;aft- ^er Ausbreitung der Konsumvereinsbewegung eine Zeitlang künst-
>ent- Hindernisse in den weg zu legen, im allgemeinen kann man
igen Qker nicht sagen, daß die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise
>895 yen hervorragenden Platz, den sie im heutigen Wirtschaftsleben ein-

40

1,3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

des Unternehmers wesentlich vermindert. Ls wird dadurch verrin-
gert, daß für -das eigene Uapital des Unternehmers und ebenso
auch für seine Arbeitsleistungen überhaupt erst dann eine Vergütung
abfällt, wenn die Lohnarbeiter die ausbedungene Vergütung für
ihre Arbeitsleistungen und die Zinskapitalisten die vertragsmäßig
vereinbarte Verzinsung für die dargeliehenen Summen erhalten
haben. Damit wird dem fremden Uapital und der fremden Arbeit
eine bedeutsame Vorzugsstellung vor dem eigenen Uapital und der
eigenen Arbeit des Unternehmers eingeräumt, was diese Vorzugs-
stellung bedeutet, das tritt vor allem in den Jahren hervor, in
denen die Unternehmung mit einem Verlust abschließt, und solche
Jahre kommen ja fast in jedem Geschäftszweig und für einen großen
Teil aller Unternehmungen periodisch vor. wir lassen als Beispiel
hier die geschäftlichen Ergebnisse der englischen Baumwollspinnereien
in Aktienform während der Periode 1884 bis 1910 folgen;

Iahr	Zahl  der  Gesell-  schaslcn	Gesamt- gewinn (+) bzw. Gesamt- verlust (-)	Durch-  schnitts.  Iahres-  öiöiöeuöe	Jahr	Zahl  Gesell-  schaften	Gesamt- gewinn (+) bzw. Gesamt- verlust (-)		Durch-  schnitt!.  Iahres-  dividende
1884	60	£  + 125 000	5 °	1898	90	+	£  271 804	47-
1885	87	—	2 730	2	1899	86	+	381 176	6 Vs
1886	90	— 61718	3	1900	80	4-	344 548	77.
1887	88	4 86 810	4%	1901	80	+	279 541	7 Vs
1888	85	+ 250 932	5	1902	85	—	1 436	47-
1889	86	+ 220 587	5	1905	90	—	45 322	3
1890	91	+ 384 050	7	1904	90	4-	31 729	2V.
1891	101	+ 38 758	B1/*	1905	90	+	693 070	7
1892	99	— 94 770	iv*	1906	90	4-	590 002	9%
1893	99	— 60 790	1	1907	100	4-	1 321 157	iS 7»
1894	94	+	4 491	iv.	1908	ICO	-f	586 511	n3A
1895	94	+ 63 167	17s	1909	100	—	272 072	77s
1896	94	+ 49 631	17.	1910	100	—	368 006	5%
1897	94	4- 157 570	3

Die Wirtschaftliche Funktion des Zinses

95

Eigentümer des Kapitals auf Grund seines Eigentumsrechts zu
wachen imstande ist. Der Zins verdankt also lediglich der Institution
des Privateigentums seine Entstehung. Irgendein anderer wirtschaft-
kicher Zweck ist mit der Einrichtung des Zinses aber nicht verbunden-
er dient nur der Ausbeutung der einen durch die anderen, wir sind
'M Gegensatz hierzu zu dem Ergebnis gekommen: der Zins ist in
jeder Gesellschaft unentbehrlich, die ihren Mitgliedern Freiheit des
Konsums gewährt, gleichviel, ob Privateigentum oder Gemeineigen-
tum an den Produktionsmitteln herrscht. Nur der kommunistische
Staat, in dem die Zentralbehörde allen Bürgern die Rationen zu-
mißt, die sie von jedem Gute verzehren dürfen, kann denkbarer-
Meise auf den Zins verzichten und die Mittel für den wirtschaftlichen
Fortschritt auf andere weise als durch Erhebung eines Kapital-
Zinses aufbringen, für alle Gesellschaftsordnungen dagegen, in denen
die Freiheit des Konsums noch anerkannt wird, ist das unmöglich.

Zugleich erhellt hieraus, welches die eigentliche wirtschaftliche
Funktion des Zinses ist. DerZinshatdieAufgabe, die Mit-
tel für den wirtschaftlichen Fortschritt zu liefern, ins-
besondere für diejenige Ausdehnung und Erweiterung
der Produktion, die durch das Wachstum der Bevölke-
rung nötig wird. In einer Gesellschaft, in der die Bevölkerung
regelmäßig fortfährt, sich zu vermehren, werden unbedingt auch im-
mer beträchtliche Mittel für die Erweiterung der Produktion gebraucht.
In der jährlichen Erweiterung der Volkswirtschaft, die durch das
Wachstum der Bevölkerung gefordert wird, liegt, wie nebenbei be-
merkt fei, überhaupt die größte Schwierigkeit für jede sozialistische
Organisation der Gesellschaft, wenn es sich beim Sozialismus nur
darum handelte, bestehende Unternehmungen in den Staatsbetrieb
Zu übernehmen und weiterzuführen -— und viele Sozialisten be-
trachten in sehr naiver weise da; Problem so —, dann wäre das
Problem noch relativ einfach zu lösen. Die eigentliche Schwierigkeit
jeder sozialistischen Produktionsleitung liegt darin, daß ununter-
brochen auch die Produktion ausgedehnt werden muß.



7*

168

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

4

die in der kapitalistischen Produktionsweise hierfür üblich sind und
die vom Sozialismus so heftig verurteilt werden wie: straffe Diszi-
plin, Akkordlöhnung, Taylorsystem usw.")

Man möge sich auch nicht einbilden, solche Ergebnisse wie in
Rußland könne bei uns eine Sozialisierung nicht erzielen. Durch j
das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben, sollte doch
nun allen zur Genüge klar geworden sein, daß wir gar keinen
Anlaß haben, uns in irgendeiner Beziehung etwas Besseres zu dün-
ken als andere Völker! Die Psyche des Deutschen ist im Grunde keine
andere wie die des Russen oder die der Angehörigen anderer Völker.

Andere glauben, den Gefahren, die der Wirtschaftlichkeit von der
Verstaatlichung drohen, dadurch zu entgehen, daß sie sagen, die So-
zialisierung bedeute gar keine Verstaatlichung im alten Sinne des
Wortes. Sozialisierung sei etwas ganz anderes als Verstaatlichung,
wer wird sich aber durch solche Wortmaskeraden täuschen lassen? Die
entscheidende Tatsache wird dadurch doch nicht aus der Welt geschafft,
daß in den „Selbstverwaltungskörpern", die man errichten will, nicht
mehr die private Initiative des Unternehmers, der für eigene Rech-
nung prodttziert, maßgebend ist, sondern öffentliche Funktionäre das
entscheidende Wort führen.

Max Weber hat kürzlich den Gegensatz, um den es sich bei der
Stellung der Betriebsleiter von privaten und öffentlichen Unter-
nehmungen handelt, treffend folgendermaßen gekennzeichnet: „Der
autonome Unternehmer ist ein Prämienlohnarbeiter für kvrgani-
sationszwecke, der Beamte aber ein Zeitlohnarbeiter, und zwar im
Gegensatz zum Arbeiter ein solcher ohne stetige Auslese nach der Lei-
stung. Der erste wirtschaftet eigenverantwortlich, der andere auf Ri-
siko des Staatssäckels. Demgemäß ist die Arbeiterschaft, mag sie für
sich selbst zum Prämienlohnsystem stehen, wie sie will, daran nicht

41)	Noch der Schrift, „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", die
Lenin kürzlich veröffentlicht hat, scheint man in der Tat in Rußland jetzt
den zweiten weg einzuschlagen und alle Einrichtungen, die man erst be-
kämpft hat, wieder einzuführen.

Ältere versuche mit Konsumgenossenschaften

23

verdienen suchen. Für England erzählt beispielsweise der Wirtschafts-
Historiker Ashley, daß im Laufe des t3. und 14. Jahrhunderts die
ursprünglichen Pauschalleistungen in Getreide oder auch in Land,
bie dem Dorfschmied und dem oimmermann bis dahin von der Ge-
meinde gewährt worden waren, in Geldzahlungen umgewandelt wur-
den und die Handwerker nun ihre Arbeit stückweise bezahlt beka-
men. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich für die genossenschaftlichen
Mühlenanlagen im mittelalterlichen Deutschland feststellen. Diemark-
genössischen oder Gemeindemühlen treten im Mittelalter, wie Lam-
precht berichtet, immer mehr zurück. „Dagegen nehmen die von
einzelnen errichteten und von Einzelpersonen besessenen Mühlen einen
immer weiteren Raum ein,' schon in der höhe des Mittelalters sind
sie fast allein in der Überlieferung nachzuweisen."

5o hat das Wirtschaftsleben, als es im Mittelalter vor die
Wahl zwischen konsumgenossenschaftlicher und erwerbswirtschaftlicher
Produktionsweise gestellt war, seine Entscheidung nach kurzem
schwanken zugunsten der Erwerbswirtschaft gefällt. Die Ansätze zu
konsumgenossenschaftlichen Bildungen dagegen sind meist nach kurzer
seit wieder verkümmert, sie haben es jedenfalls nirgends zu grö-
ßerer Bedeutung zu bringen vermocht. Und nicht anders ist es in
späterer Zeit zugegangen. Erst im letzten Jahrhundert macht die Ron-
sumgenossenschaft noch einmal einen kräftigen Vorstoß, um den schein-
bar bereits verlorenen Prozeß gegen die Erwerbswirtschaft doch noch
Zu gewinnen. Mir meinen damit die Bewegung zugunsten der kon-
sumgenossenschaftlichen Produktionsweise, die sich an das Auftreten
bec modernen Ronsumvereine anschließt. Diese Entwicklung hat
ihren Ausgang nicht von dem Gebiet der eigentlichen Produktion, son-
bern von dem des Warenhandels genommen. Und zwar waren es
arme Flanellweber in der englischen Stabt Rochdale, die im Iahte
1844 zum erstenmal in die Verwaltung der Ronsumvereine den
Grundsatz einführten, dessen Anwendung die Ronsumvereine haupt-
sächlich ihre spätere relativ große Ausbreitung zu danken haben, näm-
lich Verteilung des Reingewinns nicht nach dem Maße, in dem die

Der Mißerfolg der Produktivgenossenschaft

53

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der aufgelöst, 25 allerdings nur, um eine andere juristische Form an-
zunehmen, die ganz überwiegende lllehrheit aber doch, weil sie wirt-
schaftlich nicht vorwärtskamen.

Für das Fehlschlagen der Produktivgenossenschaft werden haupt-
sächlich drei Momente verantwortlich gemacht: Mangel an Rbsatz,
ilkangel an Kapital und Mangel an Disziplin. Der erste Punkt ist in-
dessen keine wirkliche Erklärung, sondern nur eine Umschreibung
der Tatsache des Mißlingens der Produktivgenossenschaft- er er-
innert an die Lräsigsche Erklärung, daß die Rrmut von der Pooerteh
herrührt. Eher läßt sich schon der Mangel an Kapital oder Kredit
als Ursache der Mißerfolge hören. Es ist zuzugeben, daß eine Reihe
von Produktivgenossenschaften — namentlich solche, die von Ar-
beitern gegründet worden waren., die nach einem Streik ihre Stel-
lung verlöten hatten —, dadurch von vornherein mit großen Schwie-
rigkeiten zu kämpfen hatten, daß sie nicht mit zureichendem Kapital
ausgestattet waren und auch nicht aus dem Kreditwege sich das
Fehlende beschaffen konnten. Daß die Produktivgenossenschaft unter
Mangel an Kredit zu leiden hat, das beruht nun aber nicht etwa
auf einer besonderen Bosheit der Bank- und sonstigen Geldgeberkreise,
sondern es geht in letzter Linie darauf zurück, daß sie wegen der
wohlbekannten Schwächen ihrer Verfassung bei diesen Kreisen nicht
bas nötige vertrauen zu finden vermag. Damit kommen wir zu dem
entscheidenden Punkt, aus den alle Mißerfolge dieser Genossenschasts-
form schließlich zurückgehen. Ls ist die vorhin als Mangel an
Disziplin bezeichnete Erscheinung, die an dem Scheitern der meisten
Produktivgenossenschaften die Schuld trägt.

Der Mangel an Disziplin, der in der Produktivgenossenschaft
herrscht, ist aber nichts Zufälliges, sondern er ist die notwen-
dige Folge des Gedankens, der ihrer Organisation zugrunde
liegt. Wenn die Arbeiter eines Betriebs zugleich seine Unter-
vehmer sind und die diesem zustehenden Rechte beanspruchen können,
so ist es, wie die Erfahrung gelehrt hat, unmöglich, die Disziplin
und Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne die ein Großbetrieb nicht

10

1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

kungen, welche die Wirtschaftspolitik der Jakobinerregierung in
Frankreich nach der klassischen Schilderung von Eaine gehabt hat! —,
so droht regelmäßig eine für alle Klassen der Bevölkerung gleich
verhängnisvolle Lähmung den ganzen Wirtschaftskörper zu befallen.
Der Erkenntnis von der gewaltigen sozialen Bedeutung des Privat-
eigentums in diesem Sinne haben sich auch einsichtige Sozialisten
nicht verschließen können. So schreibt einmal Eduard Bernstein:

„Wenn die Revolutionen von 1648, 1789, 1848 Eile nahmen, die Sicher-
heit des Eigentums zu proklamieren, so war das nicht lediglich Folge bürger-
licher Beschränktheit oder eines hochgradigen Cigentumskultus. Sie alle waren
ja mit mehr oder weniger weitreichenden Eingriffen in das überlieferte
Eigentum verbunden. Es sprach aus diesen Proklamationen, Rlenschenrechts-
«rklärungen, verfaffungsbestimmungen zugleich die Erkenntnis, daß auf dem
gegebenen Stand der Wirtschaftsentwicklung Sicherheit des anerkannten Eigen-
tums unerläßliche Bedingung eines gedeihlichen Fortgangs der Wirtschaft war
Wie sehr entwicklungsseindlich Unsicherheit des Eigentums wirkt, zeigt die
Geschichte der orientalischen Völkerschaften. Ruch waren in den europäischen
Revolutionen die Epochen, wo nicht bloß bestimmtes Eigentum, sondern das
Eigentum schlechtweg generell gefährdet war oder erschien, Epochen geschäft-
licher Stagnation und damit verbundener Notstände, die das Eintreten der
Reaktion beschleunigten."

Länger anhaltende Rechtsunsicherheit droht vor allem denjenigen
Streik über die Volkswirtschaft heraufzubeschwören, den Bismarck
einmal als den gefährlichsten aller Streiks bezeichnet hat, den Streik
der Unternehmer. Darunter ist nicht zu verstehen, daß die Unter-
nehmer ihre Betriebe stillegen, sondern es bedeutet nur: die Neigung
der Unternehmer, neue Betriebe zu gründen und bestehende zu er-
weitern, hört auf. Vas muß aber in kürzester Frist für das ganze
Wirtschaftsleben verhängnisvoll werden. Ulan darf ja nie vergessen:
die Volkswirtschaft ist etwas, was fortwährend wachsen muß. Ge-
nau so wie die Bevölkerung beständig zunimmt, muß beständig auch
am Gebäude der Volkswirtschaft ein Flügel nach dem anderen an-
gebaut, und müssen neue Stockwerke auf die schon vorhandenen auf-
gesetzt werden. Tritt einmal in diesem Prozeß der beständigen Rus-
dehnung der Produktion eine Stockung ein, so stellen sich sofort

Vordringen des öffentlichen Betriebs

155

fchaftliche Leistungsfähigkeit des privaten Betriebs ver-
gleichen mit der des öffentlichen, an dessen Spitze staatliche Beamte
stehen, deren leitendes Motiv nicht in dem unmittelbaren persön-
lichen Interesse, sondern in den Motiven der Pflichttreue und Ge-
wissenhaftigkeit, des Ehrgeizes usw. liegen. Da kann kein Zweifel
bestehen, daß der öffentliche Betrieb auch heute noch, genau so wie
zur Zeit von Adam Smith, es an Billigkeit der Produktion nicht
mit dem privaten aufnehmen kann. In einem Teile der modernen
deutschen nationalökonomischen Literatur wird das allerdings be-
stritten. Da werden die Dinge so hingestellt, wie wenn dieser Satz
durch die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts mit dem öffent-
lichen Betrieb widerlegt sei. Die öffentliche Unternehmung soll
heute, so wird uns nicht selten versichert, der privaten auf vielen
Gebieten wirtschaftlich ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ge-
worden sein. Vas soll durch das Vordringen des öffentlichen Be-
triebs auf dem Gebiete des Verkehrswesens, in der Gas-, Wasser-
und Elektrizitätsversorgung der großen Städte usw. während der
letzten Jahrzehnte klar erwiesen sein.

Diese Behauptung nötigt uns, etwas näher auf Umfang und Ur-
sachen des erneuten Vordringens des öffentlichen Betriebs in der
Gegenwart einzugehen?«) Als Ende der siebziger Jahre im Anschluß
an die Verstaatlichung der Eisenbahnen in Deutschland und an-
deren Ländern in Wissenschaft und Praxis eine dem öffentlichen
Betrieb sehr günstige Stimmung aufkam, da gab man sich in großen
Kreisen außerordentlich weitgehenden Hoffnungen hin, welche Ge-
biete die öffentliche Unternehmung künftig noch erobern werde.
Diese Erwartungen haben sich bisher nicht erfüllt und werden sich
wohl auch nicht erfüllen. Die Praxis der Verwaltung hat sich trotz
dem eifrigen Zureden mancher Theoretiker nicht zur Überschreitung
bestimmter Grenzen verleiten lassen. Diese Grenzen hat sie gleich-

36) Ausführlicher habe ich den Gegenstand in einem Aufsatze der von mir
herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialwissenschaft", Jahrg. 1918, §. 133fs.
behandelt, aus dem hier das wichtigste wiederholt wird.

Landwirtschaft und Sozialismus

151

gen. Auf diese Erscheinung ist ja in der Literatur schon oft hingewie-
sen worden, worauf beruht sie?

Ls kommen hier dieselben Umstände in Betracht, die es auch be-
wirken, daß in der Landwirtschaft der Uleinbetrieb eine ganz an-
dere Bolle spielt und aller Voraussicht nach dauernd spielen wird
wie in der Industrie. Kn der Landwirtschaft mußte ja der Marxis-
mus die Enttäuschung erleben, daß sich in ihr die Entwicklung nicht
nach dem von ihm gleichmäßig für Industrie und Landwirtschaft
aufgestellten Schema von der naturnotwendigen Verdrängung des
Uleinbetriebs durch den Großbetrieb vollzog. In der Landwirtschaft
ist der Uleinbetrieb, das hat auch der orthodoxe Flügel der Sozia-
listen schließlich zugeben müssen, in ganz anderem Maße konkurrenz-
fähig wie in der Industrie. Im Gegenteil, der Uleinbetrieb erweist
sich oft dem Großbetrieb überlegen und dringt auf Uosten des letz-
teren vor, so in Deutschland in der Periode von 1882 bis 1907.

wenn wir nun nach dem letzten und entscheidenden Punkt fragen,
der es bewirkt, daß sich die Landwirtschaft in dieser Beziehung so
wesentlich anders verhält wie die Industrie, so müssen wir, abge-
sehen von der viel weniger hervortretenden Rolle, welche Maschinen-
technik und Arbeitsteilung, die beiden Uräfte, denen in der In-
dustrie der Großbetrieb hauptsächlich seine Überlegenheit verdankt,
in der Landwirtschaft spielen, vor allem folgenden Punkt hervorhe-
ben: Bei den landwirtschaftlichen Arbeiten kommt es in ganz an-
derem Maße wie bei der industriellen Arbeit auf die S orgfalt und
die Gewissenhaftigkeit der Arbeit an, oder — so läßt sich der
Unterschied vielleicht noch besser formulieren — ob die Leistung des
Arbeiters nicht nur der Menge, sondern auch der Güte nach befriedi-
gend ist, das läßt sich in der Landwirtschaft nicht so leicht beurteilen
wie in der Industrie. Daß man die Leistung des Arbeiters aber nicht
nur ihrer Menge nach, sondern auch ihrer Güte nach rasch und sicher
beurteilen kann, das ist immer eine unumgängliche Voraussetzung
des Akkordlohnes. Venn der Akkordlohn in seinen verschiedenen For-
men schließt immer die Gefahr in sich, daß die Größe der Ar-



138

II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

werbebetriebe. In vielen Fällen, in denen der Großbetrieb dem
Kleinbetrieb wirtschaftlich überlegen ist, führt diese Überlegenheit
daher doch nicht zur radikalen Verdrängung des Kleinbetriebs, sondern
das Leben zeigt ein Nebeneinander verschiedener Produktionsmetho-
den und Betriebsformen. Und darin ist nicht Willkür und Zufall
zu erblicken — es handelt sich nicht einfach um Schlendrian und
technische Rückständigkeit —, sondern es kommt darin die Gesetz-

mäßigkeit zum Rusdruck, die das ganze Wirtschaftsleben beherrscht.
Das teilweise Lestehenbleiben des Kleinbetriebs neben dem Groß-
betrieb ist eben die Folge davon, daß letzterer nicht allenthalben
einen so großen Markt für seine Produkte findet, wie er ihn braucht,
wenn er imstande sein soll, billiger zu produzieren als der Klein-
betrieb. Will man die jetzt in dieser Hinsicht herrschenden Zustände
durchaus ändern und überall die Möglichkeit zur Zuwendung der
technisch vollkommensten Produktionsmethoden schaffen, so bleibt
nichts übrig, als eine völlig veränderte Verteilung der Bevölkerung
über das Land hin vorzunehmen, sie etwa nur noch in Städten von
einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl zusammenwohnen zu las-
sen. Nach einem solchen radikalen Eingriff in die Siedlungsver-
hältnisse könnte allerdings der Großbetrieb sein Gebiet gleich be-
trächtlich erweitern. Sowie diese Voraussetzung erfüllt wäre, würde
aber auch in der heutigen Wirtschaftsordnung der Großbetrieb seinen
Platz ausdehnen, eines Übergangs zum Sozialismus bedürfte es
dazu nicht.

Ähnlich wie durch Eingriffe in die Siedelungsweise könnte der ^
Sozialismus auch durch solche in die Wohnweise der Bevölkerung '
und ihre Ernährungsweise allerdings manche Ersparnisse erziele«,
wenn der Familienhaushalt überhaupt aufgelöst wird, wenn die
Menschen in großen Rnstalten zusammenwohnen und aus Zentral-
küchen verköstigt werden usw., dann läßt sich im vergleich mit dem
heutigen Zustand ohne Zweifel manches wirtschaftlicher gestalten,
obwohl auch hier die Vorteile nicht so groß sind, wie man zunächst
erwartet. Über ein solcher radikaler Eingriff würde den Übergang

Die wirtschaftliche Freiheit im Sozialismus

125

lichst so zu drehen und darzustellen, als ob der Sozialismus eben
nur die Freiheit des einzelnen im vergleich mit dem gegenwärtigen
Zustande nicht vergrößern könne, im wesentlichen also in dieser Be-
ziehung alles beim alten bleiben werde. So schreibt Rautsky
einmal: „Der Sozialismus kann die Abhängigkeit des Arbeiters
von dem wirtschaftlichen Getriebe, in dem er ein Rädchen bildet,
nicht beseitigen, aber an Stelle der Abhängigkeit des Arbeiters von
einem Rapitalisten, dessen Interessen den seinen feindlich gegen-
überstehen, setzt er seine Abhängigkeit von einer Gesellschaft, deren
Mitglied er selbst ist, einer Gesellschaft gleichberechtigter Genossen,
die gleiche Interessen haben."

Was hierbei gänzlich übersehen wird, das ist nur, daß die Art
der Abhängigkeit in beiden Fällen eine grundverschiedene ist. In
dem einen Falle handelt es sich um eine durch die ökonomischen
Tatsachen hervorgerufene Abhängigkeit, die im Gegensatz zu der
Behauptung Rautskys auch gar nicht dem einzelnen Rapitalisten
gegenüber besteht — man denke nur an die Leichtigkeit des Stellen-
wechsels im modernen Wirtschaftsleben! —, in dem anderen Falle
dagegen handelt es sich um eine rechtlich geordnete Abhän-
gigkeit. Daß es die von ihm selbst gewählten Behörden sind,
die ihm Zeit, Grt und Art seiner beruflichen Tätigkeit vorschreiben
dürfen, das wird doch das Mitglied eines sozialistischen Gemein-
wesens kaum darüber trösten können, daß es über die Verwendung
seiner Arbeitskraft und den Grt seiner Tätigkeit nicht mehr selbst
Zu bestimmen imstande ist, sondern in diesen wichtigen Beziehungen
sich nach den Weisungen einer Behörde zu richten hat?«) Mag auch
der Spielraum, in dem die Freiheit der Berufswahl heute sich praktisch
betätigen kann, infolge der sozialen Verhältnisse für die große Masse
der Bevölkerung nur ein begrenzter sein, zwischen dem gegenwär-
tigen Zustande und einer Gesellschaftsordnung, in der die staatlichen
Behörden die Verteilung der Bürger auf die Produktionszweige und
Berufe regeln würden, und die Freiheit der Berufswahl usw. also

28)	Übereinstimmend urteilt Herkner, Arbeiterfrage, 2. Aufl., 8. 31b.
Pohle, Kapitalismus und Sozialismus, 2. Uufl.	g





Bautätigkeit zur Hand sein, daß sie den oft ganz gewaltigen und
urplötzlich austretenden Schwankungen des Wohnungsbedarfs nicht
beständig einen Wohnungsoorrat von 3 % zur Verfügung stelle.
Das Statistische Amt der Stadt Mannheim bemerkt zu diesem Punkte
einmal treffend: „Die priupte Bautätigkeit kann ihrer schwerfäl-
ligeren Natur nach gar nicht genau und rasch genug den Schwankun-
gen in der Bevölkerungszunahme folgen, verliefen die wirtschaft-
lichen Gezeiten in sanfter Wellenlinie, dann ließe sich wohl denken,
daß die Bautätigkeit imstande wäre, allzu große oder kleine Ab-
stände zwischen Bedarf und Vorrat zu vermeiden, in unserem heu-
tigen Wirtschaftsleben mit seinen grellen Kontrasten wird das aber
unmöglich sein. An einen gänzlichen Ausgleich vollends ist gar nicht
zu denken, solange ein Haus nicht ebenso rasch erbaut und beseitigt
werden kann, wie der Wanderstab ergriffen und in die Ecke ge-
stellt ist."

Damit wird richtig aus den entscheidenden Punkt hingewiesen.
Eine wesentliche Ursache für die Zustände, die heute auf dem groß-
städtischen Wohnungsmarkt herrschen, für sein Hin- und Herschwan-
ken zwischen Wohnungsmangel und Wohnungsüberfluß, liegt in der
schrankenlosen Freizügigkeit, die heute die Bevölkerung aller Staa-
ten besitzt. Indem wir das hervorheben, liegt es uns selbstverständ-
lich fern, etwa eine Einschränkung der Freizügigkeit befürworten
zu wollen. Es ist hier überhaupt nicht unsere Aufgabe, Forderun-
gen zu erheben, sondern nur soziale Zusammenhänge festzustellen,
was wir zu betonen haben, ist daher nur das: Wenn man in der
Freizügigkeit ein so wertvolles Recht sieht, daß man an ihr nicht
gerüttelt wissen will, dann hat man auch kein Recht, über die pri-
vate Bautätigkeit als unfähig zur Erfüllung ihrer Aufgabe den
Stab zu brechen. Venn die jetzigen Verhältnisse auf dem wohnungs-
markt sind eben wesentlich eine Folge der schrankenlosen Freizügig-
keit und können nur, wenn man aus diese verzichtet, geändert
werden.

Damit sind wir überhaupt bei dem Rardinalpunkte des Streites

Der Ursprung der sozialistischen Bewegung	7g

Vas Vorhandensein einer sozialistischen Bewegung oder wenigstens
Gesinnung in jeder individualistisch geordneten Gesellschaft entspricht
geradezu einem psychologischen Gesetz. Wenn es zwei an sich mög-
liche Systeme der Ordnung eines sozialen Gebiets gibt, so wird das-
jenige System, das im Leben tatsächlich herrscht, selbst wenn es ganz
unzweifelhaft das weitaus bessere ist, doch stets einer Opposition
begegnen, die zu seiner Abschaffung auffordert. Ver Durchschnitts-
mensch neigt regelmäßig dazu, von dem sozialen System, unter dem
er wirklich lebt, nur die Mängel und Unvollkommenheiten zu sehen,
die guten Seiten dagegen als etwas Selbstverständliches hinzunehmen.
Für gewöhnlich nimmt er sie eben gar nicht wahr, er fängt erst an,
sie zu entdecken, wenn sie ihm verlorengehen, von dem zur Zeit nicht
herrschenden sozialen System dagegen ist er umgekehrt gestimmt, nur
die guten Seiten zu sehen, seine Übel dagegen, eben weil er nicht unter
ihnen zu leiden hat, weil sie höchstens vorgestellte Übel sind, gering-
zuschätzen, sie gewissermaßen nur in perspektivischer Verkleinerung zu
sehen. So ist ja die bekannte Erscheinung zu erklären, daß die Men-
schen auf allen Gebieten die Einrichtungen verurteilen, die gerade ein-
geführt sind, und sich nach denen sehnen, die zur Zeit nicht bestehen.

Diese Denkweise, von der die Gattung horno sapiens bei ihren
politischen Urteilen sehr stark sich leiten läßt, schafft in einer Welt,
in der das individualistische Rechtsprinzip regiert, immer eine ge-
wisse Stimmung für den Sozialismus. Darum waren sozialistische
Gedankengänge bekanntlich schon den Völkern des klassischen Alter-
tums nichts Fremdes, sondcrnhaben bereits bei ihnen eine ziemlich be-
deutende Verbreitung gehabt.^) Zu einem mächtigen Strom, zu
einer Idee von gewaltiger parteibildender Rraft ist der Sozialis-
mus allerdings erst im Laufe des letzten Jahrhunderts geworden.
Ganz natürlich. Die Gegengewichte, die früher seine Entwicklung
aufgehalten hatten, sind durch die Umwälzungen auf industriellem
Gebiete im letzten Jahrhundert zum größten Teile zerstört worden.

lb) Dgl. dar grundlegende IDcrf von R. pöhlmann, Geschichte des
antiken Kommunismus und Sozialismus, 2. Aufl., 1913.

Das kollektivistische Gesellschaftsideal

67

Das Gesellschaftsideal des wissenschaftlichen Sozialismus, das wir
flIs „Kollektivismus" bezeichnen wollen, unterscheidet sich in
wichtigen Punkten von dem des Kommunismus, während im Mittel-
punkt des kommunistischen Gedankenkreises der Gedanke des Rechts
«uf Existenz und Einkommen steht, steht im Mittelpunkt des kollek-
tivistischen Programms die Forderung der Beseitigung des
Arbeitslosen Einkommens. Zu diesem Zweck fordert der Kollek-
tivismus ebenso wie der Kommunismus eine Eigentumsordnung, in
^r dem Staat das Eigentum an den gesamten Produktionsmitteln zu-
steht. Daß der Staat auch die Leitung der Produktion auf allen Gebieten
selbst in die Hand nimmt, ist bei diesem Zustand aber nicht unbedingt
vötig. Da, wo der Großbetrieb herrscht und sich als die überlegene Be-
triebsform erweist, hält das allerdings auch der Kollektivismus für
votig. Nicht dagegen ist es nötig auf den Gebieten, wo der Kleinbetrieb
Taft ebenso gut und billig zu produzieren vermag wie der Großbetrieb,
also insbesondere in der Landwirtschaft. Für die Landwirtschaft
^gnügen sich daher manche Kollektivisten — ganz einig sind
Kollektivisten in diesem wichtigen Punkte allerdings nicht — mit
üern Programm der Bodenreformbewegung. Der Betrieb der Land-
wirtschaft selbst soll individualistisch bleiben, nur soll die Grund-
rente nicht mehr einzelnen Privatpersonen zufließen, sondern der
Gesamtheit. Die Landwirte sollen mit anderen Worten nicht mehr
als Eigentümer auf ihrer Scholle sitzen, sondern als Pächter, wäh-
lend der Staat Eigentümer des gesamten Grund und Lodens wird,
öel der städtischen Wohnungsproduktion wird sich dieses System aller-
dings kaum in Anwendung bringen lassen. Da wird, wenn man die
Gemeinde zur Eigentümerin des gesamten Grund und Lodens macht,
Nichts anderes übrigbleiben, als ihr auch den Wohnungsbau und
^le ganze Wohnungsvermietung zu übertragen, wenn wirklich mit
l>er Beseitigung des privaten Bezugs von arbeitslosem Einkommen
Ernst gemacht werden soll.

Don dem Kommunismus weicht der Kollektivismus vor allem
dadurch ab, daß er sein Gesellschaftsideal glaubt erreichen zu können,

Vas Risiko des Unternehmers

41

viermal treten also in diesem Zeitraum zweijährige Perioden
auf, in denen die Gesamtheit der britischen Aktienspinnereien das Ge-
schäftsjahr mit Verlust abgeschlossen hat. Und zwar entsteht der
verlustreiche Abschluß vieler Unternehmungen in Jahren ungün-
stiger Uonjunktur hauptsächlich gerade erst dadurch, daß sie auch
dann, wenn sie ihre Produkte nicht zu lohnenden Preisen verkaufen
können, doch verpflichtet sind, den Lohnarbeitern die normalen Lohn-
sätze für ihre Arbeit und den Zinskapitalisten den landesüblichen
Zinssatz für ihr Kapital zu zahlen, wären etwa auch die Zinskapi-
talisten und die Lohnarbeiter mit ihrem Einkommen auf Csuoten
an den schwankenden Erträgnissen der Unternehmungen angewiesen,
so würden ihre Linkommensverhältnisse ohne Zweifel noch viel grö-
ßeren Schwankungen unterliegen, als das jetzt der Fall ist.

Diese Tatsache ist es, die wir im Auge haben, wenn wir sagen:
der Unternehmer trägt das Risiko der Produktion. Natürlich bleibt
auch für die Zinskapitalisten und die Lohnarbeiter immer noch ein
gewisses Risiko übrig. Bricht die Unternehmung wirtschaftlich zu-
sammen, so kann unter Umständen auch das fremde in ihr ange-
legte Kapital verloren sein, und ebenso verlieren dann die Arbeiter
ihre bisherige Stellung. Manche Nationalökonomen glauben im k)in-
blick auf diese Möglichkeit auch die Zinskapitalisten und den Lohn-
arbeiter als am Risiko der Unternehmung beteiligt hinstellen zu
müssen und lehnen die Lehre, daß der Unternehmer das Risiko der
Produktion trage, als falsch ab?) Es heißt aber doch ganz verfchie-

3) Philippovich schreibt z.B. von ihr (Grundriß der politischen Gkonomie,
I. 8d„ y. Ausl., S. 147): „Sie erweckt die Vorstellung, als ob die Unter-
nehmung, bzw. das Mißglücken derselben nur für den Unternehmer mit
Gefahr verbunden wäre. Oer Unternehmer, der sein vermögen eingelegt hat,
riskiert dasselbe allerdings bei wirtschaftlich mißlungener Produktion und
damit seine wirtschaftliche Unabhängigkeit, allein mit ihm laufen alle in
seinem Dienste angestellten Arbeitskräfte, qualifizierter wie nicht qualifizierter
Art, die Gefahr, ihr Einkommen und damit die wirtschaftliche Sicherung ihrer
Existenz zu verlieren. Ferner riskiert der Unternehmer nicht immer sein ver-
mögen, sondern in vielen Fällen sind es ausschließlich oder mit ihm dritte

Lchlrchergebnisse

173

deutschen Revolution der Gegenwart wie schon auf die Schwarm-
geister der großen Französischen Revolution. „Die Tugend, das Be-
streben, Gutes zu tun," so sagt er, „ist so gut eine Leidenschaft wie
alle anderen. Sie ist selten,, aber wo man sie trifft, ist sie viel zu
heftige denn so lange uns der Sporn des Wohltuns antreibt, hält
uns kein Bedenken in ihrem Laufe auf. . . Rkan ist ohne jede Un-
tersuchung überzeugt von dem, was man wünscht,' man überzeugt
auch die andern durch die Wärme seines Vortrags — weil man eben
ein Mann voll Tugend ist. Man bringt keine guten Beweise, man
zeigt kein scharfes Denken, aber man hat die heiße Rühnheit der
Wahrheit, den schönen Mut der Tugend, das Feuer der eigenen Über-
zeugung —, und damit reißt man andere mit sich fort, denn jene
sehen keinen Grund zum Mißtrauen. Glauben Sie mir, Schelme und
Betrüger braucht man nicht zu fürchten- über ein Rurzes zeigen
sie sich in ihrer wahren Gestalt. Über hüten Sie sich vor dem Recht-
schaffenen, wenn ihn ein wahn gefangen hall. Er ist mit sich selbst
im Rlaren und will das Veste. Jedermann traut ihm, aber unglück-
licherweise irrt er sich, in den Mitteln, den Menschen das Beste zu
verschaffen.""

wehe dem Volke Europas,, das sich in seiner jetzigen bedräng-
ten Lage nach dein Weltkriege unter dem Einfluß doktri-
närer Fanatiker zu kommunistischen Experimenten verleiten
läßt! Wenn die Völker die aus dem Instinkt geborenen Le-
bensformen der Gesellschaft verwerfen und dafür in der Stu-
dierstube ausgeklügelte Formen setzen wollen, so ist das nicht
schlimm für die betroffenen Einrichtungen, wohl aber ist es schlimm
für die beteiligten Völker. Rarl Marx hat zwar einmal das groß-
sprecherische Wort geprägt, die Völker würden „bei Strafe des Un-
terganges" künftig gezwungen fein, den Sozialismus bei sich einzu-
führen. In Wahrheit ist gerade das Gegenteil richtig. Die Völker,
die ernsthafte versuche mit der Verwirklichung der radikalen For-
men des Sozialismus — von dem relativ harmlosen Staatssozialis-
mus sprechen wir hier nicht — machen, werden diesen Vorwitz mit

Pohle, Uapitalismus und Sozialismus, 2. stuft.	12

156

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

fam instinktiv richtig herausgefunden. Der öffentliche Betrieb hat
sich nämlich nur auf solchen Gebieten neu eingebürgert, wo die Ron-
kurrenz entweder überhaupt ausgeschlossen ist oder wo sie sich doch
wenigstens aus Gründen, die in der lkatur der Bache liegen, nicht
so stark geltend machen kann wie im übrigen Wirtschaftsleben, wenn
wir die Gebiete durchmustern, die der öffentlichen Unternehmung
in neuerer Zeit zugefallen sind, so finden wir, daß es sich sowohl
bei den staatlichen als auch bei den kommunalen Betrieben regel-
mäßig um Gebiete handelt, die sich einer vor dem Rufkommen neuer
Ronkurrenz gesicherten monopolistischen oder wenigstens
monopolähnlichen Stellung erfreuen. Für den staatlichen
Betrieb der Post, des Telegraphen und des Fernsprechers ist ja
in einer Reihe von Ländern direkt ein Monopol, allerdings ein
solches von verschieden weitem Umfange, in Unspruch genommen
worden, ebenso liegt die Sache beim Notenbankwesen. Uber auch
auf den anderen hier in Betracht kommenden Gebieten ergibt sich
für Staat und Stadt als Betriebsunternehmer regelmäßig eine be-
vorzugte, vor dem Uuftreten neuer Ronkurrenz geschützte Stellung.
Bei den städtischen Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerken entspringt
die bevorzugte Stellung dieser Betriebe daraus, daß sie auf die
Benutzung der der Gemeinde gehörigen öffentlichen Wege ange-
wiesen sind, um ihre Leitungsnetze legen zu können. Die Stadt,
die selbst als Betriebsunternehmerin solcher Werke auftritt, hat es
also ganz in der Hand, ob sie Ronkurrenzunternehmungen aufkom-
men lassen will oder nicht. Uuch dann, wenn die Städte nicht selbst
als Betriebsunternehmer auftreten, werden ja aber Ronkurrenz-
unternehmungen auf diesen Gebieten von ihnen nicht so leicht kon-
zessioniert. Ähnliche Verhältnisse walten bei den Verkehrsanstalten,
insbesondere den staatlichen Eisenbahnen und den kommunalen
Trambahnen, ob. Ruch hier ist die Entstehung von Ronkurrenz-
betrieben an sehr erschwerende Bedingungen geknüpft.

Das Vordringen der öffentlichen Unternehmung beschränkt sich
also auf solche Gebiete, in denen der Unternehmer besonderen Schutz

24

1,2. Lrwerbswirischaft und Konsumgenossenschaft

Mitglieder an der Aufbringung des erforderlichen Kapitals beteiligt
finöj sondern nach dem Maße ihrer Wareneinkäufe.

Auf dieser Grundlage sind nach und nach in allen europäischen
Kulturstaaten Konsumvereine entstanden, und sie haben es namentlich
in Großbritannien und Deutschland zu hohen Mitgliederzahlen ge-
bracht. In Großbritannien betrug 1910 die Mitgliederzahl der Kon-
sumvereine etwas über 2VZ Millionen, in Deutschland nahe an
IV2 Millionen, der Umsatz belief sich in Großbritannien auf 1437,
in Deutschland auf 413 Millionen Mark. Nach einiger Zeit gingen
die Konsumvereine auch vielfach dazu über, die von ihnen geführten
waren zum Teil in eigener Regie Herstellen zu lassen. Bisher hält
sich der Umfang der konsumgenossenschaftlichen Eigenproduktion
allerdings noch in sehr bescheidenen Grenzen. Bei den Konsumgenos-
senschaften, die dem Zentralverband deutscher Konsumvereine an-
gehören — und dieser umfaßt von der Gesamtzahl der Mitglieder
der deutschen Konsumvereine mehr als Vs —■ betrug 1911 der Ver-
kaufserlös aus selbstproduzierten waren rund 63 Millionen Mark.
Die Produktionsbetriebe, welche die Konsumvereine sich angeglie-
dert haben, sind ganz überwiegend Bäckereien. Bei den vereinen
des Zentralverbands gab es 1909 im ganzen 185 Bäckereien, 5 Be-
triebe für Teigwarenfabrikation, 5 Kaffeeröstereien, 25 Schlächterei-
betriebe, 5 Mühlen, 15 Molkereien, 15 Mineralwasser- und Limo-
nadenfabriken, 2 Betriebe für Konfektionsnäherei und 3 für Wäsche-
näherei. Außerdem wurden von derGroßeinkaufsgesellschaft deutscher
Konsumvereine drei Zigarrenfabriken und eine Seifenfabrik betrieben.

Erheblich stärker noch ist die Eigenproduktion der britischen Kon-
sumvereine entwickelt. Namentlich die Großeinkaufsgesellschaft der
britischen sowie auch die der schottischen Konsumvereine haben die
Produktion von Artikeln aufgenommen, an deren Herstellung in eige-
nen Betrieben man sich in Deutschland noch nicht herangewagt hat.

was das moderne Wirtschaftsleben neben den Konsumvereinen
sonst noch an konsumgenossenschaftlichen Bildungen hervorgebracht
hat, ist relativ unbedeutend, vor allem sind noch die Bau ge nassen-

Inhaltsverzeichnis.

I- Die Grundlagen der gegenwärtigen wirtschaftsver- ""

sassung und der Sozialismus......................................... 1

allgemeines......................................................... j

1.	Die individualistische Wirtschaftsordnung und ihre Entstehung .	5

2.	Lrwerbswirtschaftliche und konsumgenossenschaftliche Produktions-
weise ..............................................................18

3.	Unternehmung und arbeiterproduktivgenossenschaft...............38

4.	Das Wesen des Sozialismus und feine Hauptrichtungen .... Sy

kl. Die sozialistische Kritik an der bestehenden Wirtschafts-
ordnung ............................................................82

allgemeines........................................................ 82

1.	Die sozialistische Kritik des arbeitslosen Einkommens..........85

2.	Die arbeiislosigkeit..........................................X02

3.	Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Individualismus und

des Sozialismus.................................................128

A. Die angebliche wirtschaftliche Rückständigkeit des Individualismus 132

8. Die wirtschaftlichen SMJffii; d«,^Sozialismus................146

Lchlußbetrachtungen . •............................................170

Schutzformel für
Copyright

e/HiAychr^Staaten von klmerika:

dy^Dl'E^udnsr in Leipzio-

//. u

ctlle Rechte, einschließlich des Ubersetzungsrechts, vorbehalten

130 II, 3- Sozialismus und Individualismus in wirtschaftlicher Hinsicht

Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß der Sozialismus
auf den Nachweis große Mühe verwendet, daß die heutige Wirt-
schaftsordnung an technisch-wirtschaftlicher Rückständigkeit leide, daß
sie der Entfaltung der Produktivkräfte Fesseln anlege. Wie ein roter
Faden zieht sich dieser Gedanke durch die sozialistische und die
sozialistelnde Literatur, von Robert Gwen und Sismondi an
bis zu Hertzka und May?«) Er ist ebenso alt wie überhaupt die
sozialistische Kritif an der bestehenden Wirtschaftsordnung, ohne
freilich im Laufe der Zeit richtiger geworden zu sein.

Und die Berechnungen, die von sozialistischer Seite über das Maß
angestellt werden, in dem in der heutigen Wirtschaftsordnung die
Produktion hinter dem technisch erreichbaren Maße zurückbleibt und
demgemäß auch der Ronsum der Bevölkerung künstlich zurückge-
halten wird, sind allerdings auch so beschaffen, daß nach ihnen die Bes-
serung, die der Übergang zum Sozialismus mit sich bringen wird,
im hellsten Lichte erstrahlen muß. Th. Hertzka z.B. kommt bei
einer Berechnung hierüber in seinem 1886 erschienenen Buche „Die
Gesetze der sozialen Entwicklung" zu folgendem Ergebnis. Auf-
stellungen, die er speziell auf Grund der österreichischen Produk-
tionsverhältnisse macht, sollen angeblich beweisen, daß höchstens
20o/o der verfügbaren Arbeitskraft, mit modernen Produktions-
mitteln ausgerüstet, genügen würden, um den gesamten Ronsum
des Landes zu decken.^) Es ist nur natürlich, wenn er im Hinblick

30)	vgl. die — freilich gänzlich unkritische — Übersicht über die Ent-
wicklung dieses Gedankens in der Schrift von E.Hellwig, Oie Theorien über
den Zusammenhang von Produktion und Kaufkraft. Berlin 1913.

31)	Es ist hier nicht der Vrt, alle die Rechenfehler, durch die Hertzka
zu seinem ungeheuerlichen Ergebnis kommt, im einzelnen aufzudecken. Bei
einigen geschieht dies ohnehin schon durch die weiter folgenden Darlegun-
gen des Textes. Über wenigstens einer der Hauptirrtümer, durch die
Herhka zu feinem falschen Resultat kommt, sei hier mit einigen Worten an-
gemerkt. Das ist das überhaupt für viele Sozialisten charakteristische Über-
sehen des Gesetzes des abnehmenden Bodenertrags und seiner
Bedeutung für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der Landwirt-

16	1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

lichen Selbstverantwortlichkeit der einzelnen, und demgemäß war in
ihr auch schon das Privateigentum anerkannt und geschützt gewesen.
Der Ursprung der allgemeinsten Grundlagen unserer Wirtschaftsord-
nung verliert sich überhaupt in die Urzeit des Menschengeschlechts,
und eben, weil es sich hier nicht um willkürlich von einem Gesetzgeber
geschaffene, sondern um organisch gewachsene Einrichtungen handelt,
wird es überhaupt kaum je gelingen, das Problem ihrer historischen
Entstehung zu lösen, d.h. sie als zu bestimmter Zeit an einem bestimm-
ten Drte zum ersten Male entstandene Einrichtungen nachzuweisen.

Vas Problem der Entstehung der individualistischen Wirtschaftsord-
nung ist insbesondere auch nicht gleichbedeutend mit der Entstehung des
individuellen Privateigentums. Dem Zustand des individuellen
Privateigentums geht anscheinend bei vielen Völkern ein Zustand des
Familien- oder Sippenprivateigentums voran. Ein wirklich individu-
elles Privateigentum hat sich zuerst gewöhnlich an der fahrenden habe
entwickelt, am Grund und Boden hat sich dagegen bei vielen Völkern
lange Zeiträume der Geschichte hindurch ein Eigentum der Familie
«der ähnlicher verbände behauptet. Der einzelne konnte nicht be-
anspruchen, über bestimmte Teile des Bodens frei zu verfügen, ihn
zu verkaufen oder von Todes wegen zu vermachen, das Recht hierzu
stand ursprünglich nur dem Familienverband als solchem zu. wie
sich aus diesem Zustand des Familieneigentums am Boden ein indi-
viduelles Grundeigentum entwickelt hat, welche Einflüsse hierbei
maßgebend gewesen sind, das können wir ja bei manchen Völkern, so
bei unseren eigenen Vorfahren, historisch noch ziemlich genau verfol-
gen. In Deutschland hat bei der Auflösung des alten Familienbesitzes
am Grund und Boden und der Busbildung eines wirklich individuellen
Bodeneigentums vor allem die christliche llirche und ihr Bedürfnis,
Grundbesitz zu erwerben, eine wichtige Rolle gespielt. Sie hat, von
Rücksichten auf ihr eigenes Interesse geleitet, dabei mitgewirkt, daß
zwischen dem Familienverband und seinen einzelnen Mitgliedern ein
Rompromiß geschlossen wurde, durch das dem einzelnen Mitglied
das Recht eingeräumt wurde, über einen Teil des Bodens frei ver-

Nachteile der Konsumgenossenschaft

33

-f bei fumgenossenschaftliche Produktionsweise im Wirtschaftsleben erlan-
g der 9en- verbreitete sich bei den Konsumenten etwa die Überzeugung, daß
düng ^ bei der konsumgenosscnschaftlichen Produktionsweise besser auf
s uw ’^re Rechnung kommen als bei der erwerbswirtschaftlichen, so wür-
diger ben die Rollen zwischen diesen beiden Grganisationsprinzipien im
meist individualistischen Staat bald umgekehrt verteilt sein, als sie es heute
ugen- Vichts vermöchte dann den Siegeszug der konsumgenossenschaft-
näßig Produktionsweise aufzuhalten. Allein aus der Tatsache schon,
lkode-, von einer solchen Entwicklung nichts Lu spüren ist, können wir
Keks, ^en sicheren Schluß ziehen, daß die Konsumenten ihre Interessen
rsum- erwerbswirtschaftlicher Einrichtung der Produktion besser ge-
^ n>ahrt finden als bei der konsumgenossenschaftlichen,
nnew vor allem zwei Punkte kommen hier in Betracht, wenn der Lr-
wohl, a>erbstrieb die Organisation der Produktion übernimmt, so ist ein-
tände '"ol besser für die Befriedigung neu auftauchenden Bedarfs in der
tufen, Volkswirtschaft gesorgt. Das hängt sehr einfach so zusammen: Um
lieber entstehenden Bedarf auf dem Wege der erwerbswirtschaftlichen
villig Produktion zu befriedigen, genügt es, daß eine einzelne oder höch-
g auf lens einige wenige Personen die Überzeugung von dem Vorhanden-
sein des neuen Bedarfs gewinnen und bereit sind, ihre Arbeitskraft
vor- ^ ihre Mittel in den Dienst der neuen Produktion zu stellen. Um
ihnen ^0sfelbc Ziel in der Form der Konsumgenossenschaft zu erreichen,
Die müssen dagegen größere Personenzahlen unter einen Hut gebracht
Kon- ""b zu gemeinsamem vorgehen vereinigt werden. Dieses zweite Ver-
bums ^hren, die Vereinigung der Konsumenten zur Schaffung gemein-
o auf ^vler Produktionsanlagen, ist der Natur der Sache nach viel um-
iment ländlicher und schwerfälliger. Der Genossenschaftsbetrieb wird da-
t öcn ^er niemals so rührig und so beweglich sein wie die Lrwerbswirt-
ellteN ^aft, er wird niemals die gleiche Initiative entwickeln wie diese,
eoduk- ®er Konsumgenossenschaft fehlen gleichsam die Organe zur Lrkennt-
über- n*s neuen volkswirtschaftlichen Bedarfs, oder die Organe, die sie besitzt,,
r ent- ^agieren in dieser Hinsicht wenigstens viel schwächer auf Anregungen
, fort" Don außen als die entsprechenden Organe der Erwerbswirtschaft.

Das Wesen öes Sozialismus und seine hauptrichtungen

59

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^ Zu-

kunfr wird dieser Punkt noch weitaus wichtiger werden als jetzt.
Denn mit der Ausbildung der demokratischen Einrichtungen im Staate
wird der Arbeiter gegen Mißgriffe des Unternehmers in dieser hin-
sicht noch empfindlicher werden und noch stärker reagieren, als es
jetzt bereits der Fall ist. Soweit die jetzt geschaffenen Betriebsräte das
Siel verfolgen, den Arbeitern im Betriebe in dieser Hinsicht eine
andere Stellung zu verschaffen und ihnen zugleich Sicherungen gegen
willkürliche Entlassung zu geben, liegt kein Grund vor, sie von
vornherein abzulehnen.

4.	Das Wesen des Sozialismus und seine
Hauptrichtungen.

Die individualistische Wirtschaftsordnung führt, das ist das Er-
gebnis unserer bisherigen Betrachtungen, mit innerer Notwendig-
keit zum Kapitalismus. Der versuch, die Entwicklung der indi-
vidualistischen Wirtschaftsordnung in die Bahnen der Konsum-
genossenschaft oder der Arbeiterproduktivgenossenschaft zu lenken,
ist gescheitert und wird immer wieder scheitern, hält man an der
individualistischen Wirtschaftsordnung fest, so gibt es kein Ausweichen
vor der kapitalistischen Produktionsweise. Der Sieg der Lrwerbs-
wirtschaft und der Unternehmung über den Genossenschaftssozialis-
wus ist auf dem Boden der individualistischen Wirtschaftsordnung
unbedingt sicher,- die immanenten Gesetze der gegenwärtigen Wirt-
schaftsordnung selbst bedingen diesen Sieg, so würde der Marxis-
Ulus es ausdrücken. Die Stellungnahme, die gegenüber der indivi-
dualistischen Wirtschaftsordnung einzig und allein in Betracht kommt,
kst daher die, daß man zu ihr sagt: Sit ui est aut non sit!

Die radikale Richtung des Sozialismus hat sich in dieser Alter-
Uative bekanntlich für das „non sit“ entschieden.

Was will der Sozialismus, und wie ist er entstanden? Das wesen
k>es Sozialismus lernen wir am besten kennen, wenn wir mit der
Detrachtung seiner strengsten und extremsten Richtung beginnen, die

8

1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

kurz weg, aber doch ist sie die für das richtige Verständnis unserer Wirt-
schaftsordnung eigentlich entscheidende Tatsache. Nicht der einzelne
ist für sich selbst wirtschaftlich verantwortlich, sondern die Familie
hat für ihre Glieder zu sorgen, und nicht dem einzelnen gehört, was
er erwirbt, sondern er erwirbt es für die, die durch die Bande der
Familie mit ihm zusammenhängen. Die Familie schiebt sich überall
als Zwischenglied zwischen den einzelnen und den Staat, und zwar
als Zwischenglied, das vor dem Staate den Vorrang beanspruchen
kann. Vas zeigen ja deutlich die Bestimmungen unseres Erbrechts,
wer stirbt, ohne ein Testament hinterlassen zu haben, dessen Besitz-
tümer fallen nicht dem Staate zu, sondern seine verwandten haben
nach dem Gesetz ein Anrecht auf das hinterlassene vermögen, und
auch wer über seine Hinterlassenschaft testamentarisch verfügt, kann,
wenn er eine Frau und Binder hinterläßt, nicht völlig frei über sein
vermögen verfügen, sondern die nächsten verwandten können minde-
stens ihr Pflichtteil beanspruchen. Diese Bestimmungen des Erbrechts,
wie sie mit gewissen Modifikationen bei allen Völkern europäischer
Kultur sich finden, sind ein klarer Hinweis, wie nicht der einzelne, son-
dern die Familie die Grundlage der Gesellschaftsorganisation ist.
Es ist darum auch nicht zutreffend, wenn man den Egoismus als
die bewegende Kraft unserer Wirtschaftsordnung bezeichnet, wo: aus dann
mit Vorliebe die Annahme einer sittlichen Minderwertigkeit der heuti-
gen Wirtschaftsordnung abgeleitet wird. Nicht der Egoismus der Ein-
zelnen, sondern eine gewisse Nrt des Altruismus spielt diese Nolle,
allerdings ein Altruismus, der sich nur auf einen bestimmten Personen-
kreis beschränkt, diejenigen nämlich, die unserem Herzen durch die Bande
des Bluts am nächsten stehen. Wer den Egoismus als den psychischen
Motor unseres Wirtschaftslebens hinstellt, der muß jedenfalls immer
dessen sich bewußt bleiben: nicht der Individualegoismus, sondern der
Familienegoismu?, erfüllt diese wichtige Funktion.

Wo nun der Staat die einzelnen, genauer also nach dem Gesagten,
die Familien die Verantwortung für ihre wirtschaftliche Lage selbst
tragen läßt, da folgt daraus notwendig die Anerkennung weiterer

154

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

erreichen?^) stU« diese Dispositionen, die ja auch fortwährend wie-
der neuen Verhältnissen anzupassen sind, werden nur von einem
Betriebsleiter auf die Dauer richtig getroffen werden, der am Er-
trag des Gutes persönlich interessiert ist. Es ist undenkbar, daß
hier eine bureaukratische Verwaltung durch Beamte, die ihrer Na-
tur nach stets nach schematischer Regelung strebt, je zum Ziele
führen könnte. Darum denken ja auch die Staaten, die über einen
größeren vomänenbesitz verfügen, nicht daran, ihre Landgüter durch
staatliche Beamte bewirtschaften zu lassen, sondern sie verpachten
ihren Besitz regelmäßig.

Vas sind die Gründe, aus denen die landwirtschaftliche Produktion
ein unüberwindliches Hindernis für jede kollektivistische Regelung
der Produktion bildet und es auch immer bilden wird. Mag es
selbst dahin kommen, daß in der Industrie eine sozialistische Zentral-
leitung der Produktion bis zu einem gewissen Grade durchführ-
bar wird, an der Landwirtschaft wird sie immer scheitern. Das
ist ja auch der Grund, weshalb mancher überzeugte Sozialist sich
mit der individualistischen Verfassung der Landwirtschaft abgefun-
den hat und sich damit begnügt, für sie nur Beseitigung des Groß-
betriebs und Durchführung des Programms der Bodenreformbewe-
gung, d. h. Verstaatlichung des Bodenbesitzes, zu fordern.

2. Ruch in der Industrie gibt die Bezahlung der Rrbeiter im
Akkord nicht allein schon die Gewähr dafür, daß das Höchste geleistet
wird. Es kommt dabei vielmehr sehr wesentlich noch ein weiterer
Umstand in Betracht. Das ist der, daß, wenn auch die Rrbeiter
nicht selbst Eigentümer der Produktionsmittel sind, so doch die
Produktion für Rechnung und Gefahr von Privatun-
ternehmern geführt wird. Erst dieser Umstand in Verbin-
dung mit der Akkord- und Prämienlöhnung gewährleistet die bil-
ligste Produktion, von welcher Bedeutung dieser Umstand für die
Billigkeit der Produktion ist, ergibt sich deutlich, wenn wir die wirt-

33) Dies wird treffend näher ausgeführt von Fr. Beckmann, Zeitschrift
für Sozialwissenschast, Iahrg. 1916, S. 497ff.

Neuere versuche mit der Produktivgenossenschaft

51

ner	gegenüber dazu bequemen, die Zahlungstermine von sechs auf drei

>el-	Nonate, von da auf einen Monat und selbst auf vierzehn Tage abzm

;rn	kürzen oder auch gleich bei Üblieferung der waren Zahlung zu leisten?)

lus	So hat sich ganz allmählich die Entstehung von Unternehmungen

an-	in der Uhrenindustrie vollzogen. Und zugleich erhellt hieraus deut-

ten	lich: „nicht die Unternehmer haben die Produzenten gegen ihren

er,	Villen in die Stellung von Lohnarbeitern herabgedrückt", wie ge-

ten	wohnlich der Vorgang bezeichnet wird, sondern die Produzenten

ird	haben in ihrem eigenen Interesse diese Umwandlung ihrer Stellung

anz gefordert.

ckb- Üls dann im l8. und 19. Jahrhundert der Großbetrieb auf immer
ftr- wehr Gebieten des Wirtschaftslebens festen Fuß faßt, da tritt er
chr- regelmäßig gleich von vornherein in der Form der Unternehmung
auf auf. Der Gedanke, an Stelle der Unternehmung für die soziale
die Verfassung des Großbetriebs etwa die Produktivgenossenschaft zu
zur wählen, liegt dieser Zeit zunächst ganz fern. Erst um die Mitte
rm- des 19. Jahrhunderts taucht der Gedanke der Ürbeiterproduktiv-
tig- genosfenschaft von neuem auf und spielt eine Zeitlang in den Pro-
ior- grammen der sozialistischen Parteien eine gewisse Rolle. Das, was
oei- in Wahrheit schon eine überwundene Grganisationsform des wirt-
lbst schaftslebens war, wird als eine erst in der Zukunft zu verwirk-
ige- lichendc Forderung aufgestellt. Der Gedanke der Ürbeiterproduktiv-
iach genosfenschaft ist namentlich von zwei Sozialisten des 19. Iahrhun-
nne derts vertreten worden, von Louis Blanc in Frankreich und von
efe- Ferd. Lassalle in Deutschland. Viesen Sozialisten erschien an der
nen heutigen Produktionsweise nicht sowohl das verwerflich, daß die
Produktion für Rechnung und Gefahr einzelner Produzenten er-
oni-	folgt, sondern woran sie Ünstoß nahmen, das war die Tatsache,

sehr	daß nicht alle, die bei der Produktion in einem Betriebe mitwirken,

zere auch in grundsätzlich gleicher weise als Unternehmer mit Einfluß
lehr auf die Betriebsleitung und Anspruch auf einen entsprechenden Ge-

8) vgl. die nähere Schilderung dieser Entwicklung bei Pfleghardt, Dr
iten schweizerische Uhrenindustrie, 1908, S. 129ff.

Unschädlichkeit des privaten Zinsbezugs

97

des arbeitslosen Einkommens in der heutigen Wirtschaftsordnung
ist nicht sowohl zu beurteilen vom Standpunkte des Einkommens-
bezugs als vielmehr von dem der Einkommensverwendung aus.
6uch in der heutigen Wirtschaftsordnung müssen irgendwie die Mittel
für den wirtschaftlichen Fortschritt aufgebracht werden, und auch
heute ist zunächst das Zinsen- und sonstige Renteneinkommen dazu
da, um zur Vermehrung des volkswirtschaftlichen Kapitals verwendet
Zu werden.

Die für die volkswirtschaftliche Beurteilung des pri-
vaten Zinsbezugs entscheidende Frage ist also die nach
der Verwendung des Zinseneinkommens, verwenden die
privaten Kapitalbesitzer das Einkommen, das ihnen ihr Lefitz ab-
wirft, zur Hauptsache nicht für ihren persönlichen Bedarf, geben
sie es mit anderen Worten nicht konsumtiv aus, sondern stellen sie
es in den Dienst der Kapitalbildung und -Vermehrung, so verliert
die Tatsache des Vorhandenseins von arbeitslosem Einkommen ihre
Hauptgefahr. Denn diese liegt darin, daß die Bezieher des Kapital-
Zinses und der Grundrente ihr Einkommen zu einer müßigen und
verschwenderischen Lebensführung verwenden. Wenn sie das tun,
dann kann die Institution des arbeitslosen Einkommens allerdings
die Folge haben, daß die eigentlich arbeitenden Schichten der Be-
völkerung dadurch in ihrem Einkommen verkürzt werden. In dem
Rkaße dagegen, in dem die Kapitalisten und Grundbesitzer ihr Renten-
einkommen dazu verwenden, um immer wieder neues vermögen zu
bilden, wird diese Gefahr vermieden.

Das Urteil über das arbeitslose Einkommen in der heutigen Ge-
sellschaft muß also in erster Linie von dem Gebrauch abhängig ge-
wacht werden, den die Klassen, die dieses Einkommen beziehen, von
ihm machen, hier ist somit ein Punkt, wo das Urteil über die be-
stehende Wirtschaftsverfassung wesentlich mit bedingt wird durch
das wirtschaftlich-moralische Verhalten der besitzenden Klassen selbst.
Je einfacher und sparsamer diese leben, je mehr sie ihren verbrauch
beschränken auf das, was sie durch eigene Rrbeit verdient haben,

148

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

trieb der Bevölkerung in verhängnisvoller Weise geschwächt werden.
5o haben Sozialisten z.B. den Vorschlag gemacht, zwar das Privat-
eigentum an sich beizubehalten, aber das private Erbrecht völlig ab-
zuschaffen. Der Hauptvertreter dieses Gedankens war Saint-
Umand Bazard, ein Schüler St.-Simons. Vieser Sozialist sah
den Grundfehler der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung in dem pri-
vaten Erbrecht. Dadurch werde wenig befähigten Personen oft eine
gchvaltige Macht in die Hand gegeben, während hoch Befähigte aus
Mangel an Kapital nicht in die höhe kommen könnten. Und fein Re-
fartnvorschlag ging daher dahin: Ersetzung des privaten Erbrechts
durch ein Erbrecht des Staates. Der Staat soll alles hinterlassene
Vermögen erben, aber nicht, um es für sich zu behalten, sondern um
es durck eine besonders hierfür zu schaffende Organisation den tüch-
tigsten Elementen zu lebenslänglicher Nutznießung anzuvertrauen.
Nbgefehen von allen Bedenken, die sich sonst noch gegen diesen Vor-
schlag aufdrängen, ist doch gegen diesen Gedanken sofort zu fragen:
Wer wird unter diesen Bedingungen überhaupt noch sparen? Die
Hauptkraft, welche heute die einzelnen veranlaßt, zu sparen und
Kapitalien anzusammeln, ist das Streben, für die Zukunft derjenigen
zu sorgen, die ihnen am nächsten stehen. Wenn dem einzelnen die Mög-
lichkeit genommen wird, noch über seinen Tod hinaus Fürsorge für
die Seinigen zu treffen, was für ein Interesse hat er dann überhaupt
noch, bei seinem Tode ein vermögen zu hinterlassen? Der Durch-
schnittsmensch wird dann geneigt sein, seine Lebensführung so ein-
zurichten, daß bei seinem Tode überhaupt kein vermögen mehr vor-
handen ift.33a) Sogar Kommunisten wie palyi treten aus solchen Er-
wägungen für die Beibehaltung des privaten Erbrechtes in gewissem
Umfange ein.

Uber auch wenn wir dieses radikale Neformprojekt ausscheiden,
bleibt der Zweifel bestehen, ob eine sozialistische Gesellschaft imstande
ist, in bezug auf die Vermehrung des Kapitals gleichen Schritt mit

33 a) (Eine ähnliche Wirkung kann übrigens auch von einer allzu rigoros
vorgehenden Lrbfchaftsbesteuerung ausgehen.

IV

Vorwort

am Jahresschluß nicht mehr so ungestüm wie in den ersten Monaten
des Jahres. Nllein wir dürfen uns darüber nicht täuschen: die größte
wirtschaftliche Not liegt wohl noch vor uns. Uns droht das gleiche
wirtschaftliche Schicksal, das über Österreich bereits hereingebrochen
ist. Im nächsten Winter, wenn nicht schon früher, können die deut-
schen Großstädte sich in derselben verzweifelten Lage befinden, in
die Wien jetzt schon geraten ist: Nus dem Inlande können sie nicht
mehr in genügendem Maße ernährt werden, und um die unentbehr-
lichen Nahrungsmittel im Nuslande anzukaufen, fehlen bei dem ka-
taftrophalen Rückgang der Valuta die Mittel. Diese Situation muß
unvermeidlich eintreten, wenn nicht bald, sehr bald bei unseren
bisherigen Gegnern die Besinnung wiederkehrt, und sie, soweit sie
selbst noch wirtschaftlich leistungsfähig sind, nicht noch rechtzeitig zu
einer Hilfsaktion größten Stils sich verbinden. Bleibt diese Hilfe aber
aus, dann tritt auch die kommunistische Versuchung wieder an Deutsch-
land heran, dann werden alle die jetzt mühsam gebändigten unter-
irdischen Rräfte noch einmal entfesselt, die zu kommunistischen Ex-
perimenten nach russischem Muster hindrängen und die auch durch
die inzwischen in Ungarn und München sowie in Rußland selbst ge-
machten Erfahrungen nicht belehrt worden sind. Wirtschaftliches
Elend und Hoffnungslosigkeit sind ja stets der beste Nährboden für
den Rommunismus.

Möge ein gnädiges Geschick Deutschland und ganz Europa vor dem
unsagbaren Elend bewahren, das eine, wenn auch nur kurz währende
Herrschaft der kommunistischen Elemente im Gefolge haben müßte!
Oder sollte etwa der Weg durch das wirtschaftliche Ehaos hindurch
für Deutschland und Europa der von der Vorsehung gewählte Weg
sein, um in Europa einen gerechteren politischen Zustand herzustellen,
als ihn die Friedensverträge von Versailles und St. Germain bedeu-
ten, und Deutschland die politische Freiheit wiederzugeben, die es
seit derselben Zeit verloren hat, seit der die deutschen Länder ange-
fangen haben, sich „Freistaaten" zu nennen?

Leipzig, Weihnachten 1919.	!. Pohle.

Dos Risiko des Lohnarbeiters

43

werden können. Das hätte schon längst zum wirtschaftlichen Zu-
sammenbruch der betreffenden Bahnen geführt, wenn die ameri-
kanische Gesetzgebung nicht für den Eintritt dieses Ereignisses, um auf
jeden Fall den Betrieb der Bahnen aufrechtzuerhalten, besondere
formen der Zwangsverwaltung vorgesehen hätte.

Zwischen den beiden eben erwähnten Gesichtspunkten gilt es in
der Praxis einen Ausgleich zu suchen, und er wird auch regelmäßig
gefunden. Unternehmungen, die von der hierbei sich ergebenden Norm
für das Verhältnis zwischen fix entschädigtem und eigenem Kapital
abweichen wollen, werden das mehr verlangte fremde Kapital nur
unter erschwerten Bedingungen heranzuziehen imstande sein. Und
die Geldgeber, die über das übliche Verhältnis hinaus einem Unter-
nehmen Kredit gewähren, haben es ihrer eigenen Unvorsichtigkeit
zuzuschreiben, wenn sie daran Verluste erleiden. Sn der Kegel aber
wird das Vorhandensein des eigenen Unternehmungskapitals Schutz
gegen Kapitalverluste geben.

Koch deutlicher als in diesem Falle zeigt sich die Verkehrtheit
der vorhin erwähnten Anschauung, wenn man die Lage des Lohn-
arbeiters mit der des Unternehmers vergleicht, kvenn ein Unter-
uehmen zugrunde geht, so können allerdings die bisher darin be-
schäftigt gewesenen Arbeiter unter Umständen Schwierigkeiten haben,
neue Stellen zu finden, so etwa, wenn es sich um die einzige größere
Unternehmung in einem kleinen Grte handelt. Stellenwechsel, die
die Arbeiter aus diesem Grunde vornehmen müssen, können sich aber
ebensogut auch ohne jeden Verlust für sie vollziehen, kvie der Ar-
beiter vorher für seine Leistung den Lohn erhielt, aus den er nach
der jeweiligen Lage des Arbeitsmarktes Anspruch machen konnte, so
wird er auch nachher wieder denselben Lohn erhalten, wie gering
der Arbeiter die mit jedem Stellenwechsel verbundene Gefahr der
Arbeitslosigkeit achtet, das sehen wir ja deutlich aus der außer-
ardentlichen Leichtigkeit und Häufigkeit, mit der in manchen Ge-
werben heute die Stellen gewechselt werden — im Kohlenbergbau
bes Kuhrgebiets betrug der Stellenwechsel vor dem Kriege jährlich

132

II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

höchstens 200/g der verfügbaren Arbeitskraft zu vollständigem Le-
bensunterhalt aller genügen würden?" Und die Antwort darauf
lautet eben, daß in unserer Wirtschaftsordnung und der Verteilung
des Produktionsertrages, die sie bewirke, das Hindernis für die
Entfaltung unserer Produktion auf. die an sich mögliche höhe
liege. Das ist aber überhaupt ein Thema, das in der Gegenwart
von zahlreichen Autoren, und zwar nicht nur von sozialistischen,
variiert wird. Auch bei bürgerlichen Nationalökonomen taucht nicht
selten mitten in Erörterungen über irgendwelche Spezialfragen der
Sozialpolitik die Behauptung von den Fesseln auf, welche die heu-
tige Wirtschaftsordnung der Entfaltung der Produktivkräfte anlege.
Die bürgerlichen Nationalökonomen, die dem Sozialismus zuneigen,
sind zwar klug genug, sich nicht durch Aufstellung phantastischer Rech-
nungen ä la hertzka oder Ballod Blößen und der Rritik Punkte
zu geben, wo sie einsetzen kann, sie eignen sich aber ebenfalls mit
Vorliebe die allgemeine Behauptung von der technisch-wirtschaft-
lichen Rückständigkeit der heutigen Wirtschaftsordnung an. Nach der
Auffassung des Marxismus soll ja die Fesselung der Produktiv-
kräfte durch die Wirtschaftsordnung sogar dereinst so unerträgliche
Formen annehmen, daß dies der Punkt fein wird, aus dem die heu-
tige Wirtschaftsordnung zum Untergang reif werden wird.

A. Die angebliche wirtschaftliche Rückständigkeit des
Individualismus.

was hat es nun mit dem Vorwurf der technisch-wirtschaftlichen
Rückständigkeit gegen die bestehende Wirtschaftsordnung auf sich?
wäre dieser Vorwurf begründet, dann würde er allerdings die in-
dividualistische Gesellschaftsordnung am tiefsten treffen. Denn ge-

rigen Arbeitszeit für die jungen Männer im Alter von 17 bis 22 Jahren
und einer fünfjährigen Arbeitspflicht für die jungen Mädchen im Alter
von 151/2 bis 2OV2 Jahren erledigen. Vas dürfte wohl der Rekord «n
Sozialisierungsphantasterei fein, und daß es gerade ein Univerfitätsprofeh
for ist, der diesen Rekord aufstellt, gibt der Sache noch eine besondere Würze.

Arbeitslosigkeit und Lohnbewegung

105

schäftsgangz, wenn in der Industrie Hochkonjunktur herrscht, eine
Statistik, die darauf ausgeht, die augenblicklich nicht in Beschäftigung
stehenden Arbeiter zu zählen, stets einen bestimmten Prozentsatz
der Lohnarbeiter als arbeitslos ermitteln wird.^) Die Tatsache,
daß im modernen Wirtschaftsleben beständig eine gewisse Zahl
von Arbeitslosen vorhanden ist, darf daher auch nicht so gedeutet
werden, als ob es eine Eigentümlichkeit unserer Wirtschaftsordnung
sei, daß das Angebot von Arbeitskräften die Nachfrage andauernd
übertreffe, vielmehr können gleichzeitig im ganzen noch mehr Ar-
beitsstellen unbesetzt fein, als Arbeitslose vorhanden sind.

Ein gewisses Nlaß von Arbeitslosigkeit ist also einfach die Folge
davon, daß infolge der heute herrschenden weitgehenden Freiheit
des Arbeitsvertrags für beide Parteien Angebot und Nachfrage auf
dem Arbeitsmarkt sich nicht schnell genug zusammenfinden, hierher
gehört, wie bereits angedeutet, insbesondere dasjenige Nlaß von
Arbeitslosigkeit, das auch in der Zeit des Hochstandes der industriellen
Konjunktur bestehen bleibt. Bei den englischen Gewerkvereinen ist
die durchschnittliche Arbeitslosenziffer in Jahren der industriellen
Hochkonjunktur bereits bis auf 2 % und weniger in Friedenszeiten
gesunken. Noch niedriger war die Krbeitslosenziffer während des
Krieges. Da ist sie, nachdem die im Anfang des Nrieges eingetretene
vorübergehende Stockung des Wirtschaftslebens überwunden war,
seit 1916 sogar auf 0,4% und noch tiefer gesunken. Ganz ähnlich
war der Verlauf übrigens auch in Deutschland.

Mit dem eben bezeichneten Maß von Arbeitslosigkeit ist also im
Wirtschaftsleben unter allen Umständen zu rechnen. Dieses Maß
kann indessen im allgemeinen auch als unbedenklich bezeichnet wer-
den, als unbedenklich sowohl vom Standpunkte der Arbeiterklasse
ols auch von dem des einzelnen Arbeiters aus.

Vom Standpunkte der Arbeiterklasse aus ist eine Arbeitslosigkeit,
die sich in den eben bezeichneten Grenzen hält, d. h. die nicht oder

23) Richtig schon hervorgehoben bei Rauchberg, Oie Berufs- und tbe-
Werbezählung im Deutschen Reich vom 14. VI. 1895, 1901, §. 201.

Der wissenschaftliche Sozialismus

65

führen wollen. Als ob der Kommunismus dadurch, daß man ihm
ein anderes Etikett aufklebt, feine Natur veränderte!

So stattlich die Zahl der Vertreter des kommunistischen Ge-
dankenkreises im ly. Jahrhundert auch noch ist, so ist die kommu-
nistische Richtung in diesem Zeitraum an Bedeutung und Einfluß auf
die Massen doch weit überflügelt worden durch eine andere sozialistische
Richtung, den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus.
Oer wissenschaftliche Sozialismus hat zwar ebenfalls in England
und Frankreich begonnen — aus England find vor allem die Namen
von William Thompson und Thomas hodgskin zu nennen., aus
Frankreich gehört p. proudhon hierher, der später allerdings
den Übergang zum Anarchismus vollzogen hat —, seine eigentliche
Heimat und seine bedeutendsten Vertreter hat er aber in Deutsch-
land gefunden. Außer Lassalle, Marx und Engels, durch deren
Lehren er eine parteibildende Kraft von gewaltiger Macht gewor-
den ist, ist als Hauptvertreter dieser Richtung noch der in weiteren
Kreisen weniger bekannte Karl Rodbertus zu nennen.")

Oer wissenschaftliche Sozialismus ist in erster Linie eine wissen-
schaftlich-kritische Richtung. Er übt Kritik an der Einkommensver-
teilung in der heutigen Wirtschaftsordnung, und zwar vor allem
an der Existenz eines umfangreichen arbeitslosen Einkommens.
Olles arbeitslose Einkommen beruht nach ihm auf Ausbeu-

14) Auf die Geschichte des Sozialismus kann hier nicht näher eingegangen
werden. Tinen guten Überblick über die Entwicklung des älteren Sozialis-
mus bis zur französischen Revolution bietet das werk von Georg Adler,
Geschichte der Sozialismus und Rommunismus von Platon bis zur Gegen-
wart, 4. Teil, Leipzig 18yd. Für die neueste Seit ist vor allem zu nennen:
kV. Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 7. Ausl., 1919. Zur
schnellen Orientierung sind auch gut geeignet: R. Viehl, Über Sozialismus,
Kommunismus und Anarchismus. Jena 1906; w. Ed. Biermann, Anarchis-
mus und Rommunismus. Leipzig 1906; w. Sombart, Grundlagen und
Kritik des Sozialismus, 2 Bde., Berlin 1919. Ein ganz vortreffliches Buch,
das insbesondere zum psychologischen Verständnis des Sozialismus vielfach
neue Gesichtspunkte bietet, ist endlich noch das Werk von Zritz G erlich,
Der Rommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich. München 1920-

34

l, 2. Lrwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

wenn man mit der Befriedigung neuen Bedarfs im Wirtschaftsleben
immer darauf hätte warten muffen, bis Organisationen der Konsu-
menten die Produktion in die Hand genommen hätten, so wäre ein
großer Teil des im letzten Jahrhundert entstandenen Bedarfs wohl
bis zum heutigen Tage noch unbefriedigt geblieben.

Die natürliche Überlegenheit, welche die Lrwerbswirtschaft in
dieser Hinsicht besitzt, läßt sich besonders deutlich z. B. auf dem Ge-
biete der Versicherung verfolgen. Daß aber gerade auch auf diesem
Teilgebiet des Wirtschaftslebens die konsumgenossenschaftliche Pro-
duktionsweise in der Zähigkeit, die Befriedigung neuen Bedarfs zu
übernehmen, hinter der erwerbswirtschaftlichen zurücksteht, ist des-
halb besonders bedeutsam, weil man hier von vornherein eher das
Gegenteil vermuten sollte. Der Versicherung ist ja von Haus aus
in gewissem Sinne ein genossenschaftlicher Lharakter eigentümlich.
Sie beruht immer auf der Zusammenfassung einer größeren Zahl
von Wirtschaften zur gemeinsamen Tragung eines Risikos, hier,
so sollte man meinen, wäre daher auch die konsumgenossenschaftliche
Produktionsweise, für die auf diesem Gebiete in der Gestalt des
Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit eine besondere Rechtsform
geschaffen worden ist, besonders leistungsfähig und übernähme die
Führung bei der Einbürgerung neuer Versicherungszweige. Mein
die Erfahrung lehrt auch auf diesem für die konsumgenossenschaft-
liche Produktionsweise scheinbar wie geschaffenen Gebiete gerade das
Gegenteil. Die versicherungslustigen zeigen auf noch unerprobten
Gebieten regelmäßig keine Neigung, die nötigen Versicherungseinrich-
tungen durch Gründung von Gegenseitigkeitsvereinen selbst ins Leben
zu rufen. Sie scheuen das Risiko, das hiermit verbunden ist, und
ziehen es vor, die Einführung neuer Versicherungszweige Erwerbs-
wirtschaften, die mit festen Prämien arbeiten, namentlich Rktien-
gesellschaften, zu überlassen.

Ruf diese weise ist es zu erklären, daß in der Praxis das Erwerbs- j
Prinzip in der Spezialform der Rktiengesellschaft viel mehr für die
Einführung neuer Versicherungszweige getan hat, als das Gegen-

166

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

Die amtliche Statistik mutz zugeben, datz die Produktion aller so-,
zialisierten Betriebe gegenüber dem früheren Zustand außerordent-
lich zurückgegangen ist. Hierzu kommt, datz die Einnahmen fast auf
der ganzen Linie weit hinter den Ausgaben zurückgeblieben find,
obwohl der Sozialisierung meist in vollem Betriebe befindliche Un-
ternehmungen mit Einrichtung, Ausrüstung und Rohstoffen unent-
geltlich in die Hände fielen. Für die Zeit vom l. Januar bis zum
1. April 1918, als verhältnismäßig noch sehr wenig Unternehmun-
gen sozialisiert waren, mutzte der Staat für die Betriebskosten dieser
letzteren bereits 432921428 Rubel hergeben. Man darf annehmen,
datz die Gesamtsumme solcher Unterstützungen des Staates heute weit
über 1 Milliarde Rubel beträgt.

Vas Ergebnis der Sozialisierungsaktion ist also, datz die russische
Industrie jetzt eine parasitische Existenz führt. Ihr Ertrag reicht
nicht entfernt mehr aus, um die Summen aufzubringen, welche
die Bezahlung der Arbeitslöhne erfordert, sondern diese müssen aus
allgemeinen Staatsmitteln entnommen werden. Für den Peters-
burger Bezirk z. B. teilte der bolschewistische Gouverneur von Pe-
tersburg, Sinowjew, in einer vor Arbeitern gehaltenen Rede
mit, datz in den nationalisierten Betrieben Petersburgs die Lohn-
summen etwa doppelt so hoch seien wie der Produktionsertrag. i0) 40

40)	Nach einer Mitteilung von Max Lohen in den Sozialistischen Monats-
heften, 1918, S. 1043. — Zahlreiche Zeugnisse über die Notlage, in welche
die russische Industrie durch die Sozialisierung geraten ist, sind in dem
Merke von vr. Raplun-Rogan, „Russisches kvirtschastsleben seit der Herr-
schaft der Bolschewiki", 1919, zusammengestellt, hier seien nur folgende Proben
mitgeteilt (S. 19): „Ruf den nationalisierten Merken der Firma Bari) ist der
Arbeitslohn auf das vierfache gestiegen, die Produktivität der Arbeit
aber auf ein viertel gesunken. Die Selbstkosten der Produktion
sind daher auf das Sechzehnfache gestiegen. — Der Arbeitslohn für das
Abhaspeln der Seidenkokons, der vor dem Rriege etwa 20 Rubel für das Pud
betrug, ist ins Märchenhafte gestiegen Lr beträgt heute 800 Rubel. — Der von
den Putilow-Merken unternommene versuch, zur Herstellung von land-
wirtschastlichen Maschinen überzugehen, führte zu einem kläglichen Resul-
tat: Der gewöhnliche Bauernpflug, den die Merke vor dem Rriege für

140 II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

lismus bleibt der Satz bestehen, der auf die Naturtatsachen des Wirt-
schaftslebens zurückgeht, daß die Einführung technischer Verbesse-
rungen in der Regel eine Mehrverwendung von Rapital voraus-
setzt. Sn jedem Fahre steht aber für den technischen Fortschritt
immer nur eine begrenzte Rapitalmenge zur Verfügung, und damit
ist auch dem technischen Fortschritt selbst das Tempo vorgeschrieben,
das auch durch eine Änderung der Wirtschaftsordnung nicht beliebig
sich ändern läßt, von der Rnappheit des Rapitals will man freilich
in vielen sozialistischen Rreisen nichts wissen. Da gibt man sich, ver-
leitet durch eine falsche Deutung der heute eine so wichtige Rolle
spielenden Erscheinung der Rapitalanlage im Auslande, der irrigen
Anschauung hin, die west- und mitteleuropäischen Industriestaaten
schwämmen in einem förmlichen Überfluß an Rapital und müßten
mühsam nach Gelegenheiten suchen, wie sie ihr Rapital nützlich an-
legen könnten. Schon vor mehr als einem Rlenschenalter hat der
feinsinnige ®. Michaelis mit Bezug auf diese Vorstellung die
treffende Bemerkung gemacht^), daß in allen wirtschaftlich un-
klaren Röpfen die Illusion von der Unerschöpflichkeit der Rapitalien
die verbreitetste sei, und er hat auch recht, wenn er andeutet, daß
man die Wissenschaftlichkeit eines Nationalökonomen geradezu da-
nach beurteilen könne, ob er diese Anschauung teilt oder nicht.

An der Tatsache der Rnappheit des Rapitals im Verhältnis zu den
praktisch unendlichen Verwendungsmöglichkeiten desselben vermag
aber auch eine sozialistische Gesellschaftsordnung nichts zu ändern,
und es ist darum eine ganz unhaltbare Vorstellung, daß es nur von
dem Willen der sozialistischen Gesellschaft abhänge, die gesamte Pro-
duktion sofort oder doch in sehr kurzer Frist aus neue technische
Grundlagen zu stellen. Die Quelle der falschen Vorstellungen, denen
man sich hierüber in sozialistischen und teilweise auch in nichtsozia-
listischen Rreisen hingibt, ist folgender Denkfehler. Man überträgt
das, was der Staat allerdings kann, wenn er nur einzelne Produk-

33) volkswirtschaftliche Schriften, l. Bd., 5. 273.

128 II, 3. Sozialismus und Individualismus in wirtschaftlicher Hinsicht

3.	Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Individualismus und des Sozialismus.

was vermag der Sozialismus seinen Anhängern wirtschaftlich
zu bieten? wird das Maß von Gütern, das der einzelne zu ver-
zehren hat, im Sozialstaate der Zukunft größer sein können, als es
im Gegenwartsstaate durchschnittlich für den Lohnarbeiter sich stellt?

Aus diese Gewissensfrage lauten die Antworten der Sozialisten
sehr verschieden. Manche drücken sich über diesen Punkt sehr vor-
sichtig und bescheiden aus. So erwartet Rautskq in seiner Aus-
legung des Erfurter Programms der Sozialdemokratie die herftel-
lung allgemeiner Zufriedenheit im Zukunftsstaate in sehr naiver
Weise schon davon, daß die neugeschaffene ökonomische Gleichheit den
Anreiz zur Unzufriedenheit beseitigen werde. Sn bezug auf das Maß
der Güterversorgung selbst im Zukunftsstaate stellt er dagegen nur
„die Beschränkung der Ansprüche der Arbeiter auf das mit den vor-
handenen Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse vereinbarte
Maß" in Aussicht. Nach Bautskp beruht also die Unzufriedenheit des
Arbeiters mit seiner heutigen wirtschaftlichen Lage nicht sowohl aus
der Einfachheit der Lebenshaltung, zu der ihn der niedrige Stand
seines Einkommens nötigt, als vielmehr auf der Tatsache, daß an-
dere ein höheres Einkommen beziehen als er — eine ungemein be-
zeichnende Auffassung der Arbeiterpspche! In Wahrheit dürfte die
Begeisterung der Massen für den Sozialismus wohl sehr rasch er-
kalten, sobald sie die Entdeckung machen, daß der Sozialismus nicht
imstande ist, ihnen eine Verbesserung ihrer persönlichen Lage zu
verschaffen, und daß es sich bei dem Sozialismus nur um die Durch-
setzung eines doktrinären Ideals handelt.

Die Mehrzahl der Sozialisten verläßt sich denn auch nicht auf
diese Uautskpsche Arbeiterpsychologie, sondern hat das richtige Emp-
finden, daß der Sozialismus imstande sein muß, seinen Anhängern
im Zukunftsstaate greifbare und sofortige wirtschaftliche Vorteile
in Aussicht zu stellen. Gewöhnlich kargen daher die Sozialisten nicht

Schlußergebnisse

171

den und bie'e dadurch zu nötigen, rechtzeitig die wirtschaftlich mög-
lichen und von der Lage geforderten Reformen durchzuführen.

So wird auch in der Gegenwart wohl in allen stärker industriali-
sierten Staaten nicht eher Ruhe wiederkehren, als bis die Stellung
der Industriearbeiter in den Betrieben eine wesentliche Änderung
erfahren hat. Oie Welt liegt nicht nur in politischen, sondern zu-
gleich auch in sozialen Geburtswehen, wie Preußen nach der Nie-
derlage von Jena in der Rrbeitsverfaffung seiner Landwirtschaft
grundlegende Änderungen vornehmen mußte, damit Volk und Staat
sich wieder als Einheit fühlen lernten, so steht Deutschland jetzt vor
der gleichen Notwendigkeit in bezug auf die Nrbeitsverfassung seiner
Industrie. Diese Änderungen lassen sich aber auch auf dem Boden der
individualistischen Rechtsordnung sehr wohl durchführen. Das in-
dividualistische Rechtssystem besitzt in dieser Hinsicht eine außer-
ordentlich große Anpassungsfähigkeit. Ls ist ein weitgespannter Rah-
men, der im einzelnen mit sehr verschiedenem Inhalt ausgefüllt wer-
den kann. Rls historisches Beispiel braucht man nur etwa an das
Zunftwesen zu denken. Das Zunftwesen erscheint uns heute im Lichte
einer von der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung grundverschiedenen
Einrichtung, aber doch gehört die spezielle Verfassung des städtischen
Gewerbes, die wir als Zunftwesen bezeichnen, durchaus noch in den
allgemeinen Rahmen des individualistischen Rechtssystems hinein.
Genau so würden auch in der Gegenwart verschiedene Formen der
Planwirtschaft sowie auch erhebliche Umgestaltungen des Rrbeits-
verhältnisses sehr wohl mit dem individualistischen Rechtsprinzip
vereinbar sein. Ls wird sich dabei vor allem darum handeln, eine
Gestaltung des Rrbeitsrechts zu finden, welche den Lohnarbeiter, ohne
die früher geschilderten Gefahren der Rrbeiter-Produktivgenossen-
schaft heraufzubeschwören, mit seiner Stellung im Wirtschaftsleben
aussöhnt.

Ruf diesem Wege, aus dem Wege der Evolution und der Reformen
auf dem Boden der individualistischen Rechtsordnung, wird auch in
Zukunft die Losung des sozialen Problems zu suchen sein, versuche

Wirtschaftskrisen und klapitalbildung

115

Solge der Tatsache angesehen werden, daß die Produktion heute für
Rechnung und Gefahr einzelner Unternehmer geführt wird. Die
Herrschaft der privatkapitalistischen Produktionsweise in diesem
binne ist für sich allein noch nicht die entscheidende Ursache für das
periodische Auftreten von Wirtschaftskrisen, wohl aber hängt die
krisenhafte Disposition der modernen Volkswirtschaft insofern mit
ihrem kapitalistischen Charakter zusammen, als unter Kapitalismus
hier die Tatsache zu verstehen ist, daß seit der Umwälzung der Tech-
nik in den letzten anderthalb Jahrhunderten das stehende Kapi-
tal, also das Kapital in der Form von ausdauernden Gütern wie
Maschinen, Hochofenanlagen, Eisenbahnen, Kanälen, Schiffen, Kraft-
Zentralen u. dgl. in der Volkswirtschaft eine unvergleichlich viel
größere Rolle spielt als früher. Mit dieser Tatsache hängt der perio-
dische Konjunkturenwechsel in der Industrie aufs innigste zusammen.
Denn er entspringt daraus, daß die Bildung von stehendem Kapital
infolge der Wechselwirkung, die zwischen der höhe des Zinsfußes
und der Unternehmungslust in der Industrie, d. h. der Neigung,
neue Betriebe zu gründen und vorhandene zu erweitern, besteht, sehr
ungleichmäßig vor sich geht. Bald, nämlich wenn der Zinsfuß nied-
rig steht, herrscht die Neigung, die Produktion von stehendem Kapi-
tal stark auszudehnen, was vor allem der Eisenindustrie in ihren
verschiedenen Abteilungen zugute kommt, da der größte Teil der
Euter, die zum stehenden Kapital gehören, heute aus Eisen herge-
stellt wird. Bald wieder, wenn nämlich durch die rasche Ausdeh-
nung der Unternehmungstätigkeit und die steigenden Ansprüche, die
dadurch an den Kapitalmarkt gestellt werden, der Zinsfuß in die
Höhe getrieben ist, läßt die Unternehmungslust rasch nach, und die
Produktion von neuem stehenden Kapital muß eingeschränkt wer-
den. Dabei hat regelmäßig sowohl die Unternehmungslust im auf-
steigenden Ast der Bewegung wie die Unternehmungsunlust in ihrem
absteigenden Ast etwas Ansteckendes. Dieses massenpspchologische Mo-
ment muß bei dem Zustandekommen des periodischen Konjunkturen-
wechsels ebenfalls mitberücksichtigt werden.

Der Modewechsel

31

lche andererseits aber in der Nachahmungssucht der weniger bemittelten
sten Bevölkerungskreise. „Die Mode ist der beständige vergebliche Der-
en- such der oberen Schichten, sich von der Allgemeinheit durch eine
ahl Neuerung zu unterscheiden", so formuliert es Professor heqck ein-
und mal sehr treffend. Darum sind auch alle Bestrebungen, den Mode-
ren. Wechsel zu beseitigen, bisher erfolglos geblieben. An solchen Be-
strebungen hat es ja namentlich auf dem Gebiete der Kleidung nicht
ächt gefehlt. Nach den Freiheitskriegen z. B. setzte in der deutschen
ern Frauenwelt eine lebhafte Bewegung ein, die die Einführung einer
rie- allgemeinen Einheitstracht für das weibliche Geschlecht als Ziel ver-
die folgte. Allein die Bewegung verlief sehr bald im Sande, und der
wie Modewechsel trat wieder die Herrschaft an. Ebensowenig hat die Be-
von wegung für Einführung einer Neformkleidung am Anfang des
luch 20. Jahrhunderts den Modewechsel aus der weiblichen Kleidung zu
bri- verbannen vermocht. Sehen wir doch, wie sogar auf solchen Ge-
hen bieten, die scheinbar dem Modewechsel ganz entzogen sind, wie bei
die der Bekleidung des Heeres, ein gewisser Modewechsel sich entwickelt,
sich 6ald trägt man weite, bald enganliegende Uniformen, bald hohe,
bald niedrige Mützen usw.

Tr- Nicht die Produzenten sind es also, die den Modewechsel willkür-
rfts- lich hervorrufen. Lr wurzelt vielmehr in psychologischen Eigen-
ant- schäften der menschlichen Natur und in der Art der Bedarfsbildung,
ffen Mit der Art der Bedarfsbildung, wie sie für das heutige kvirt-
cuht schaftsleben kennzeichnend ist, harmoniert nun aber am besten eine
chen Produktion, die auf Rechnung und Gefahr einzelner Produzenten,
lter- also nach den Grundsätzen der Erwerbswirtschaft, erfolgt. Wenn
all- ber Verbraucher sich bis zuletzt die Freiheit der Entscheidung vor-
iein- ■ behält, was er konsumieren will, und wenn er am liebsten unter
dene bereits fertig produzierten Waren feine Auswahl trifft, so kann
scht, ihm die Möglichkeit hierzu am besten durch eine erwerbswirtschaft-
hat stche Einrichtung der Produktion geboten werden. Line auf Rech-
esser vung der Konsumenten selbst geführte produkNon setzt voraus, daß
affe, "Mn des Bedarfs im voraus einigermaßen sicher ist. Die Konsumenten

3

158

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

ableitet, die „Beamtenverwaltung" habe den Beweis erbracht, daß
sie es in bezug auf Wirtschaftlichkeit der Betriebsführung jetzt schon
vollkommen mit der privaten Unternehmung aufnehmen könne. 5o
wird ja in der Literatur die Erscheinung nicht selten zu erklären
gesucht. Vas Vordringen des öffentlichen Betriebs wird als ein
Parallelfall zu dem Vordringen der Aktienunternehmung aufge-
faßt. Gemeinbetrieb und Aktienunternehmung bedienten sich beide
gleichmäßig der Beamtenverwaltung. Der Siegeszug, den die Ak-
tiengesellschaft durch das moderne Wirtschaftsleben gehalten habe,
sei gleichbedeutend damit, daß die Beamtenverwaltung sich bewährt
habe, wenn aber die Beamtenverwaltung in Gestalt der Aktien-
gesellschaft mit gutem wirtschaftlichen Erfolge anwendbar sei, dann
gelte das gleiche eben auch von der Beamtenverwaltung in der
Form des öffentlichen Betriebs.

Diesem Gedankengang kann man heute nicht selten in der na-
tionalökonomischen Literatur begegnen. Kathgen z. B. bringt ihn
in folgenden Worten zum Ausdruck^): „wo der Beamtenbetrieb
überhaupt erprobt und bewährt ist, wird häufig die öffentliche Unter-
nehmung billiger und besser wirtschaften als die Aktiengesellschaft,
und tatsächlich sehen wir Staat und kommunale Körperschaften
solche Beamtenbetriebe übernehmen: Eisenbahnen, Versicherung,
Bankbetrieb, Gas- und wafseranstalten, Elektrizitätswerke, Stra-
ßenbahnen. Die Aktiengesellschaft erscheint von diesem Gesichtspunkt
aus als das Versuchsfeld des öffentlichen Betriebs."

Diese ganze weitverbreitete Theorie stimmt indessen nicht. Sie
steht zunächst schon insofern in Widerspruch mit den Tatsachen, als
der öffentliche Betrieb, obwohl man es doch wahrlich nicht an Agi-

37) Wörterbuch der Volkswirtschaft, 3. Aust., Artikel „Aktiengesellschaft",
1. Bd-, 8. 72. Ganz übereinstimmend hiermit schreibt <£. von Trftzka:
„Man wird aus dem wirtschaftlichen Aussteigen der Großunternehmen in der
Form der Aktiengesellschaft mit Recht folgern können, daß die Überführung
in die Staatswirtschaft hier nicht nur möglich ist, sondern sogar
Vorteile verspricht." Die Sozialisierung des Wirtschaftslebens. Jena
1319, S. 41.

Mangel an Disziplin in der Produktivgenossenschaft	55

sicht auf ihre Leistungen doch ein dauerndes Anrecht auf Zugehörigkeit zu
der Genossenschaft besitzen."

hiermit wird ohne Zweifel der wunde Punkt in der Verfassung
der produktivgenossenschaft richtig bloßgelegt. Mangel an Disziplin
in einem Großbetrieb ist aber nicht nur etwas, was für den Leiter des
Betriebs persönlich unangenehm ist, es ergeben sich daraus auch
schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Wie ein Heer, in oem keine
Disziplin herrscht, für den Rampf nicht mehr zu gebrauchen ist
und vor der kleinsten, aber noch gut disziplinierten Truppe zurück-
weichen wird, so ist auch, um den wirtschaftlichen Wettkampf sieg-
reich zu bestehen, Disziplin unentbehrlich.w) hieran fehlt es aber re-
gelmäßig in der Produktivgenossenschaft. Und überhaupt bringt es
die Verfassung der produktivgenossenschaft mit sich, daß ihre kauf-
männische Leitung nicht so beweglich, rührig und schlagfertig sein
kann wie die einer Unternehmung. In der Genossenschaft haben
Zu viele mitzusprechen, infolgedessen kann sich ihre Leitung nicht
sa frei bewegen wie die einer Unternehmung. Die Zahl der Produktiv-
genossenschaften, die infolge dieser Mängel zusammengebrochen sind,
'st überaus groß. lindere haben sich nur dadurch am Leben er-
halten können, daß sie die Produktion für den freien Markt auf-
gaben und bei den Konsumvereinen einen Unterschlupf suchten, also

10)	Sogar ein Mann wie Lenin ist jetzt, durch bittere Erfahrungen über
den Rückgang der Arbeitsleistung in den sozialisierten Betrieben der russi-
schen Sowjet-Republik belehrt, zu der Einsicht gekommen, daß „jede maschi-
nelle Großindustrie die bedingungslose und strengste Einheit des Willens"
und „widerspruchslose Unterordnung der Massen unter den einheitlichen
Zillen der Leiter des Arbeitsprozesses" ersordert. (Die nächsten Aufgaben
der Sowjetmacht S. 43/44.) Er lehnt daher die willkürlichen Eingriffe des
»lkteetingdemokratismus der arbeitenden Massen" in die Betriebsverhältnisse
ab und fordert sogar, daß jeder Arbeiter, der gegen die Arbeitsordnung
rines Betriebes verstößt, vor Gericht zu stellen und erbarmungslos zu be-
grasen ist (ebenda S. 40). Sollte übrigens im vergleich mit dem hier vor-
geschlagenen Strafspstem die Strase der Entlassung, die heute den Arbeiter
^sft, der sich der Fabrikdisziplin dauernd nicht fügen will, nicht doch die
wildere Form der Bestrafung sein?

18	1,2. Lrwerbswirtschaft und KonsUmgenossenschaft

Anwendung gelangen. Die Fragen der Wirtschaftsordnung ent-
stehen erst mit dein Staate selbst, auf vorstaatliche Zustände an-
gewendet, entbehren sie des rechten Inhalts. Wo uns aber staat-
liche Organisationen in der Geschichte entgegentreten, die diesen Na-
men wirklich verdienen, da finden wir in ihnen regelmäßig von
Anfang an auch die individualistische Wirtschaftsordnung an der
Herrschaft als die gewissermaßen von der Natur selbst bestimmte
Form für das grundsätzliche Verhalten des Staats zum Wirtschafts-
leben. So ist die individualistische Wirtschaftsordnung mit dem Staate
selbst entstanden, und ebensowenig wie ein vernünftiger Mensch
daran denkt, die Entstehung des Staates auf ein bestimmtes Er-
eignis zurückzuführen, so wenig läßt sich auch die Entstehung der indi-
vidualistischen Wirtschaftsordnung und ihres Grundprinzips der
wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit des einzelnen historisch auf
eine bestimmte Zeit fixieren.

2.	Lrwerbswirtsch östliche und konsumgenossen-
schaftliche Produktionsweise.

Die individualistische Wirtschaftsordnung für sich allein begründet
noch nicht den Kapitalismus. Vas, was wir Kapitalismus nennen, ist
vielmehr erst ein Kind der Ehe, die das individualistische Rechts-
prinzip mit einer bestimmten Produktionsweise, der crwerbswirt-
schaftlichen, geschlossen hat. Der Individualismus brauchte aber
nicht unbedingt diese Ehe zu schließen, er konnte auch eine andere
Ehe eingehen. Er konnte sich statt mit der erwerbswirtschaftlichen
mit der konsumgenossenschaftlichen Produktionsweise verbinden. Und
es macht in der Tat manchmal den Eindruck, als habe der Individua-
lismus zunächst geschwankt, für welche dieser beiden Ehemöglichkeiten
er sich entscheiden solle. Und er scheint noch jetzt zuweilen Lust zu
verspüren, mit der Konsumgenossenschaft ein Verhältnis anzuknüp-
fen, allein im Grunde sind es doch nur kurze Extratouren, die er
mit der Konsumgenossenschaft tanzt, im ganzen gibt er der ver-



Das sozialistische Rechtsprinzip

61

so oft als das Ziel des Sozialismus hinstellt, ist nicht sein eigent-
liches Ziel, sondern nur das Mittel, das Ziel zu erreichen. Wenn
der Staat imstande sein soll, die ihm vom Sozialismus zugewie-
sene Aufgabe zu erfüllen, dann muß er aber nicht nur die ver-
sügung über die erforderlichen sachlichen Produktionsmittel haben,
sondern er muß auch in der Lage sein, über die Arbeitskräfte
seiner Bürger verfügen zu können. Denn das eine ist für die Pro-
duktion so unentbehrlich wie das andere. Gemeinbesitz an den
Produktionsmitteln und allgemeine Arbeitspflicht,
wenn auch mit einer gewissen Abstufung nach Alter, Geschlecht u. dgl.,
sind daher die grundlegenden Aechtseinrichtungen jedes kommunisti-
schen Gemeinwesens.

Mit dem Bestehen dieser und der anderen kommunistischen Ein-
richtungen ist aber eine Freiheit der Arbeit in dem heutigen Sinne,
die dem Arbeiter gestattet, nach Belieben seine Stelle und den Grt
seiner Beschäftigung zu wechseln, schlechterdings nicht vereinbar. Der
Anerkennung dieser unangenehmen Tatsache suchen die Sozialisten
sich gern durch eine umschreibende Bezeichnung der Zwangseinrich-
iungen des Zukunftsstaates zu entziehen. So schreibt Bebel in seinem
weitverbreiteten Buche über die Frau und den Sozialismus zu die-
sem Punkte folgendes: „Die Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne
Unterschied des Geschlechts, wird das Grundgesetz der sozialisierten
Gesellschaft.... Jeder entscheidet, in welcher Tätigkeit er sich be-
schäftigen will. ... Stellt sich auf dem einen Gebiet ein Überschuß,
Mf dem anderen ein Mangel an Kräften heraus, so hat die Ver-
waltung die Arrangements zu treffen und einen Ausgleich herbei-
zuführen." Derartige „Arrangements" setzen aber eine Behörde,
Zeiche den einzelnen Bürgern mit zwingender Gewalt befehlen kann,
Und bei letzteren das Bestehen einer Gehorsamspflicht voraus, die,
'wie ein Sozialdemokrat Bebel treffend entgegengehalten hat, das
pecht der Freizügigkeit und der freien Berufswahl, wie sie heute be-
siehen. zum größten Teil aufheben würden. Daß man die Behörde,
^ie diese Anordnungen erläßt, nicht mehr Staat nennt, sondern „aus-
bohle, Uapitalismus und Sozialismus, 2. Hufs.	5

Kritik an der Einkommensverteilung

8S

Vicht dagewesenes Anschwellen der Arbeitslosigkeit gebracht. Damit
ist auch für die sozialistische Bewegung ein überaus günstiger Nähr-
boden geschaffen worden. Und nehmen wir dazu noch die ungeheure
seelische Erschütterung, die alle Völker durch den Krieg erfahren
haben — Blutopfer in der höhe von vielleicht 8 bis 10 Nlillionen
blühender Menschenleben und gewaltige Verluste im Stande des Volks-
vermögens können doch nicht spurlos an dem geistigen Zustand der
Menschheit vorübergehen —, so haben wir eine mehr als ausreichende
Erklärung dafür, weshalb die seelische Disposition für den Sozialis-
mus in unserer Zeit so ungeheuer gewachsen ist. Lin großer Teil
ber Menschheit glaubt in seiner Verzweiflung in ihm den Aus-
weg zu sehen, der sie aus allen Nöten der Gegenwart herausführen
kann. In Wahrheit ist aber durch die Nöte der Gegenwart die
Tage der Dinge gegenüber dem Sozialismus keine andere geworden,
als sie es früher auch war. Das wird sich klar ergeben, wenn wir
die sozialistischen Anklagen gegen die bestehende Wirtschaftsordnung
der Neihe nach etwas näher auf ihre Unterlagen prüfen, sowie vor
allem auch die wirtschaftlichen Wirkungen des Sozialismus selbst
einer Betrachtung unterziehen.

1.	Die sozialistische Kritik des arbeitslosen
Einkommens.

An der Einkommensverteilung in der gegenwärtigen Wirtschafts-
ordnung kann unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten Kritik ge-
übt werden. Am häufigsten wohl wird ihr der Vorwurf gemacht,
daß sie zu einer schwächeren Besetzung der mittleren Linkommens-
stufen führe. Ihr Kennzeichen sei, daß auf der einen Seite große
Proletariermassen mit niedrigem Einkommen sich anhäufen, wäh-
lend auf der anderen Seite ein immer größer werdender Teil des
Polkseinkommens auf die Millionäre entfalle. Die Verbindung zwi-
lchen oben und unten dagegen, die Schicht mit mittlerem Einkommen,
werde immer schwächer. Nun lassen sich zwar die Sozialisten auch
diesen Angriffspunkt gegen die heutige Wirtschaftsordnung nicht gern

II, I. Vas arbeitslose Einkommen

Die fragen, die wir vorhin aufgeworfen haben, lassen sich ohne
näheres Eingehen auf den wirtschaftlichen Ursprung des arbeits-
losen Einkommens nicht lösen. Wenigstens für die eine und von
dem modernen Sozialismus besonders angefeindete hauptform des
arbeitslosen Einkommens, den Rapitalzins, soll das hier versucht
werden. Selbstverständlich ist hier aber nicht der Drt, eine förm-
liche Theorie des Zinses zu entwickeln. Wir müssen uns damit be-
gnügen. einige Hauptpunkte mehr anzudeuten als auszuführen. Da-
bei sei bemerkt, daß wir in der Lehre vom Rapitalzins in allen
wesentlichen Punkten der Auffassung des schwedischen Nationalöko-
nomen G. Lasse! folgen, die dieser in einem kürzlich in deut-
scher Sprache veröffentlichten Werk ausführlich entwickelt hat und
die wohl dazu berufen fein wird, in der Auseinandersetzung mit
dem wissenschaftlichen Sozialismus noch eine wichtige Rolle zu spielen?^

Die Lasselsche Auffassung des Zinsproblems ist vor allem da-
durch gekennzeichnet, daß sie die Frage der Notwendigkeit des Zinses
an sich trennt von der Frage des privaten Zinsbezugs. In der
Mehrzahl der älteren Zinstheorien laufen diese beiden Probleme
hoffnungslos durcheinander. Die älteren Zinstheorien sind weniger
nationalökonomisch als moralisch orientiert. Sie gehen von der Frage-
stellung aus: Sind im Zinseneinkommen des einzelnen Rapitalisten
Momente zu entdecken, welche dieses Einkommen als moralisch ge-
rechtfertigt erscheinen lassen? Die Sozialisten vermögen solche Mo-
mente nicht zu entdecken, und sie kommen daher folgerichtig zu einer
moralischen Verurteilung des gesamten Zinseneinkommens. Bürger-
liche Theoretiker glaubten zwar solche Momente entdeckt zu haben,
allein wirklich Zwingend und überzeugend war ihre Beweisführung
nicht. Auf diesem Wege kam man offenbar nicht weiter.

Der Fehler lag in der zu engen Formulierung des Problems.
Man muß die Frage des privaten Zinsbezuges völlig trennen von

21) Theoretische Lozialökonomie. Leipzig 1919. Ausführlicher hat der
schwedische Gelehrte den Gegenstand schon in dem 1903 erschienenen lverke
„dlature and Necessity of Interest“ behandelt.

Weltwirtschaft und Sozialismus

79

sagt, bezeichnen als diejenige Form des Sozialismus, die der Wirt-
schaftsstufe der Hauswirtschaft oder Eigenproduktion entspricht, also
jener Wirtschaftsweise, bei der jede Familie noch im wesentlichen
allein imstande ist, alles zu erzeugen, was sie braucht.

Sn Ländern, wo das Wirtschaftsleben in bezug auf die Beziehun-
gen zwischen Produktion und Konsumtion noch diesen einfachen
Zuschnitt zeigt, Arbeitsteilung und Tauschverkehr dagegen entweder
völlig fehlen oder doch nur eine ganz verschwindende Rolle spielen,
da ist der sozialistische Rechtsgedanke noch relativ leicht durchführbar,
hier kann das Grundprinzip des Sozialismus, die Garantie der Ge-
samtheit für die wirtschaftliche Existenz der einzelnen, verwirklicht
werden, ohne daß es eines behördlichen Eingreifens in die Produk-
tion selbst bedarf, lediglich dadurch, daß sich die Gesamtheit das
Eigentum an demjenigen Produktionsmittel vorbehält, das hier für
die Wirtschaft noch durchaus ausschlaggebend ist, nämlich am Grund
und Loden, und periodische Neuverteilungen des Ackerlandes vor-
nimmt. Ruf diese weise erhält der einzelne zwar nicht unmittelbar
von der Gesamtheit sein Einkommen, wohl aber sorgt diese durch
periodische Neuverteilungen des Landes dafür, daß jedes ihrer Mit-
glieder einen entsprechenden Anteil an demjenigen Produktionsmittel
erhält, das die Grundlage aller Linkommensbildung darstellt.

Sobald indessen die Organisation der Arbeit über die Stufe der
Hauswirtschaft fortschreitet, die gewerbliche Arbeit von der Fami-
lienwirtschaft sich loslöst und an Spezialberufe übergeht, die schließ-
lich immer mehr die Form von Großbetrieben annehmen, wachsen
auch die Schwierigkeiten des Sozialismus ins Ungeheure. Dann ge-
nügen zur Durchführung des sozialistischen Prinzips nicht mehr perio-
dische Neuverteilungen des Ackerlandes, sondern es wird eine plan-
mäßige Vrganisation und fortgesetzte Leitung der Produktion durch
eine Zentralstelle erforderlich. Auf den späteren Stufen der Organi-
sation der Arbeit ist Sozialismus also stets gleichbedeutend mit Ver-
waltung mehr oder weniger großer Teile der Produktion und schließ-
lich der gesamten Produktion durch den Staat. Und darin liegt auch

6'

146

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

Kapitalbildung noch unter das gewöhnliche Maß herabgesetzt und
der Ausbruch der Krisis dadurch beschleunigt werden.

Bei näherer Prüfung der Argumente, auf die der Sozialismus
seine Behauptung von der wirtschaftlichen Rückständigkeit der ge-
genwärtigen Wirtschaftsordnung stützt, lösen sich diese also samt und
sonders in Nichts auf. Es läßt sich kein vernünftiger Grund erkennen,
weshalb eine Änderung der Rechtsgrundlagen des Wirtschaftslebens
im sozialistischen Sinne eine Erhöhung des Produktionsertrages be-
wirken sollte. Es ist nicht gerade rühmlich für die bürgerliche Na-
tionalökonomie, daß diese Argumente auch in ihren Reihen zahlreiche
Gläubige gefunden haben und dem sozialistischen Gesellschaftssystem
infolgedessen vielfach eine Überlegenheit zugeschrieben worden ist,
die es in Wahrheit gar nicht besitzt.

6. Die wirtschaftlichen Schwächen des Sozialismus.

wie steht es nun aber mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
des Sozialismus selbst? Das Wesen des konsequent zu Ende gedach-
ten Sozialismus läuft darauf hinaus, diejenige Kraft aus dem '
Wirtschaftsleben auszuschalten, die heute die einzelnen treibt, ihre
Zähigkeiten und ihre Energie auf das äußerste anzuspannen: die
wirtschaftliche Selbstverantwortlichkeit. Die Produktion erfolgt nicht
mehr auf Rechnung und Gefahr von einzelnen privaten, sondern sie
erfolgt auf Rechnung der Gesamtheit, der auch die Produktionsmittel
gehören. Es fragt sich nun, wie dieser Zustand auf die Entwicklung
des Volkswohlstandes und die Größe des Produktionsertrags in einem
Lande einwirken wird. Die beiden Grundsäulen des Volkswohlstandes J
sind heute der Spartrieb und der Arbeitstrieb der Bevölke-
rung. von der Sparsamkeit wird das Tempo der Kapitalbildung,
das Anwachsen des Volksvermögens in erster Linie bestimmt, die
Arbeitsamkeit aber ist entscheidend für die Größe des Arbeitsertrags,
der mit den vorhandenen Mitteln erzielt werden kann. Es fragt sich
also, wie wird sich unter der Herrschaft sozialistischer Prinzipien
einerseits die Kapitalbildung, das Anwachsen des Realkapitals der

2	I. Gegenwärtige Wirtschaftsordnung. Allgemeines

weniger als drei, und zahllose Streitigkeiten, bei denen immer anein-
ander vorbeigeredet wurde, sind dadurch entstanden, daß diejenigen,
die vom Kapitalismus sprachen, abwechselnd bald den einen und
bald den anderen dieser drei Bestandteile im kluge hatten.

Die drei Komponenten des Kapitalismus sind aber diese:

In allen Staaten europäischer Kultur herrscht heute erstens eine
bestimmte Wirtschaftsordnung. Gder, anders ausgedrückt, es
gilt ein bestimmter Rechtsgrundsatz für das Verhältnis des Staates
zum Wirtschaftsleben, nämlich das i n d i v i d u a I i st i s ch e Rechtsprin-
zip. Dieses Prinzip bedeutet: der Staat überläßt die wirtschaftliche
Initiative und damit die Verantwortung für ihre wirtschaftliche
Existenz den einzelnen Staatsbürgern. Jedes Mitglied des Gemein-
wesens hat selbst für sich und sein vorwärtskommen zu sorgen. Der
Staat erkennt weder ein Recht auf Arbeit und Einkommen bei seinen
Bürgern an, noch legt er ihnen auf der anderen Seite eine Arbeits-
pflicht auf.

In der individualistischen Wirtschaftsordnung hat gegenwärtig
zweitens überall eine bestimmte Produktionsweise die ausge-
sprochene Vorherrschaft erlangt. An sich sind' auf dem Boden des
individualistischen Rechtsprinzips zwei Produktionsweisen gleich denk-
bar. Das Risiko der Produktion kann entweder getragen werden
von Ronsumentenvereinigungen, die für den Bedarf ihrer Mitglieder
produzieren, oder aber die Produktion erfolgt auf Rechnung und Ge-
fahr einzelner Produzenten, die für fremden Bedarf arbeiten, um
dadurch den eigenen Lebensunterhalt zu gewinnen, von diesen bei-
den an sich gleichmöglichen Produktionsweisen beherrscht heute die
zweite, die erwerbswirtschaftliche, in allen Ländern das Seid.
Die erste, diekonsumgenossenschaftliche Produktionsweise da-
gegen, hat sich in allen Ländern nur einen bescheidenen Platz zu
erobern vermocht. Der Erwerbstrieb, nicht die Konsumgenossenschaft
oder der Genossenschaftssozialismus, ist zur Hauptsache der Grgani-
sator des modernen Wirtschaftslebens geworden.

Die Erwerbswirtfchaft tritt uns heute, wo der Großbetrieb für

112

II, 2. Die Arbeitslosigkeit

wendet, vor allem ist hier an die Schwankungen der Mode bei der
Kleidung, namentlich der Damenkleidung, zu denken. Da werden
bald seidene Länder bevorzugt, bald verzichtet man auf diese Art
des Ausputze- und verwendet mehr Spitzen, bald wieder treten an
die Stelle von Spitzen Stickereien oder pelzwerk. Bald werden Sam-
metstoffe getragen, bald wieder will die Mode von ihnen nichts wis-
sen. Dadurch ergeben sich für die einzelnen Zweige der Textilindu-
strie abwechselnd Perioden verstärkter Arbeitereinstellung und bald
wieder Perioden gehäufter Arbeiterentlassung. Namentlich eben
solche Zweige wie die Seidenbandweberei, die Spitzenindustrie, die
Stickerei, aber auch andere sind durch den Modewechsel starken
Schwankungen ihres Beschäftigungsgrades ausgesetzt. Diese Schwan-
kungen im Arbeitsbedarf der einzelnen Geschäftszweige brauchten
allerdings an sich nicht notwendig zu Arbeitslosigkeit zu führen.
Denn um ungefähr ebensoviel wie von dem einen Artikel weniger
gebraucht wird, wird ja von dem anderen mehr verlangt. Und dem-
gemäß wird auch ungefähr in demselben Maße, wie die eine In-
dustrie ihre Nachfrage nach Arbeit einschränkt, in anderen die Nach-
frage nach Arbeit ausgedehnt. Der Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt,
der hierdurch geschaffen wird, vermag aber doch die Entstehung von
Arbeitslosigkeit nicht zu verhüten. Vas würde nur dann zutreffen,
wenn folgende Bedingungen erfüllt wären — man sieht sofort, es
liegt ein ganz ähnlicher Fall vor wie bei der Entstehung der Saison-
arbeitslosigkeit: die neue Mehrnachfrage nach Arbeit müßte einmal
an denselben Drten oder wenigstens in großer Nähe der Drte auf-
treten, an denen gleichzeitig die Nachfrage nach Arbeit sich mindert,
und zum anderen, die Arbeiter, die in dem einen Gewerbe arbeitslos
werden, müßten nach ihrer erworbenen technischen Geschicklichkeit
imstande sein, in den Gewerben, denen jetzt die Gunst der Mode sich
zuwendet, die Arbeit aufzunehmen. Meder die eine noch die andere
Bedingung ist aber gewöhnlich in solchen Fällen in genügendem Um-
fange erfüllt, von den Arbeitern, die der von der Mode begünstigte
Industriezweig braucht, werden meist andere Kenntnisse und Fer-

36

I, 2. Trwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

ventionen, Produktionskontingentierung, Gewinnausgleich, Syndi- j
katsbildung u. dgl. die Preisbildung künstlich zu beeinflussen gesucht ^
wird. In solchen Fällen ist die konsumgenossenschaftliche produktions- ^
weise in erster Linie mit berufen, Hilfe zu bringen. Die Abnehmer, die
sich der Preisdiktatur eines Kartells entziehen wollen, haben dazu durch ;
die Schaffung von konsumgenossenschaftlichen Einrichtungen immer
die Möglichkeit. Und tatsächlich ist von diesem Mittel zur Bekämp-
fung übertriebener Preisforderungen industrieller Kartelle auch schon
in einer ganzen Keihe von Fällen Gebrauch gemacht worden, wo !
sich Brauereikartelle bildeten und nach Ansicht der Wirtschaftsinhaber |
unangemessen hohe Lierpreise forderten, da sind mehrfach in den
betreffenden Städten von den Wirten Genossenschaftsbrauereien ge-
gründet worden. Gder Schokoladefabrikanten, die sich durch ein !
Zuckerkartell überteuert glaubten, haben sich zur Gründung einer !
Zuckerfabrik zusammengeschlossen, Zeitungsverleger zur Errichtung
einer vruckpapierfabrik, um den Prcisforderungen von Druckpapier-
syndikaten zu entgehen, usf. Im ganzen freilich ist von diesem Mittel j
zur Bekämpfung der Kartelle und ihrer Preispolitik nur Verhältnis- I
mäßig selten Gebrauch gemacht worden. Es wirkt eben schon durch |
die bloße Möglichkeit seiner Anwendung zügelnd und mäßigend auf
die Preispolitik der Kartelle ein. Die Kartelle wissen genau, daß sie,
sobald sie mit ihren preissorderungen den Logen stark überspannen, i
damit rechnen müssen, daß ihre Abnehmer sich zusammenschließen
und die Produktion der Artikel auf genossenschaftlichem Wege in -
die Hand nehmen.

Die konsumgenossenfchaftliche Produktionsweise dient also als ein i
Regulator zur Herstellung einer normalen, im richtigen Verhältnis
zu den Produktionskosten stehenden Preisbildung in unserem Wirt- i
schaftsleben. Sie bildet in dieser Beziehung eine wertvolle Ergän- j
zung dessen, was die freie Konkurrenz zwischen den Erwerbswirt-
schaften leistet. An unmittelbarer Wirksamkeit läßt sie sich mit der j
freien Konkurrenz allerdings nicht vergleichen. Und zwar aus dem
einfachen Grunde nicht, weil ihr die Eigenschaft fehlt, die hierfür

Entstehung der Unternehmung im Verlag

49

entwickelter Verhältnisse. Mit dem zunehmenden Alter des Berg-
baus und seinem Vordringen in größere Tiefen, wodurch größere
Kapitalien erforderlich werden, verschwinden auch regelmäßig die
anfänglichen produktivgenossenschaftlichen Einrichtungen und ma-
chen dem Unternehmertum und der Lohnarbeit Platz. Daher finden
wir im Bergbau der Gegenwart Einrichtungen produktivgenossen-
schaftlichen Eharakters nur noch unter wenig entwickelten Verhält-
nissen, wie z.B. im Zinnbergbau der Malaienstaaten und der in-
dischen Inseln.«) Und überhaupt sind produktivgenossenschaftliche
Bereinigungen der Arbeiter als ein Zeichen einfacher, um nicht zu
sagen zurückgebliebener wirtschaftlicher Verhältnisse zu betrachten.
Damit hängt es auch wohl zusammen, daß in Rußland die Pro-
duktivgenossenschaft in der Form des Artellsh, mit welchem
Namen dort allerdings auch Gebilde konsumgenossenschaftlicher Art
bezeichnet werden, noch eine besonders häufige Erscheinung darstellt.

Wie im Bergbau, so ist auch auf manchen Gebieten der Industrie
die Unternehmung erst allmählich an die Stelle älterer produktiv-
genossenschaftlicher Bildungen getreten. Das gilt vor allem von
der Entwicklung der Unternehmung in der Verlagsindustrie, heute
ist uns ja die Leitung der Verlagsindustriebetriebe durch Unterneh-
mer etwas so Gewöhnliches, daß wir uns eine vom Unternehmer-
tum unabhängige Form der Verlagsindustrie überhaupt kaum vor-
stellen können. Ursprünglich haben aber zweifellos in vielen Zwei-
gen der Verlagsindustrie genossenschaftliche Absatzorganisationen be-
standen. Die Handwerker einer Stadt oder die Heimarbeiter eines
Dorfes ließen den Vertrieb der von ihnen hergestellten waren durch
einzelne Beauftragte aus ihrer Mitte besorgen, die zu diesem Zwecke
auswärtige Messen besuchten oder auch die Waren im hausierwege

b) vgl. über diese Brunhuber in der Zeitschr. f. Sozialwissenschast,

Iahrg., S. 449ff., ferner Eh. Posewitz, Die Sinninseln im Indischen
Dzean, II, S. 85 ff.

7) Beispiele für solche Artelle bei Stieda im „Handwörterbuch der Llaats-
wissenschaften", Bd. II, §. 4.

164

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

nach sich ziehen. Dabei ist es aber z. V. im Falle der Minderleistung
sehr schwierig, diese einem Fernerstehenden oder gar einem Laien
schlüssig zu beweisen.... Berücksichtigt man dann noch die begreif-
liche Scheu der Werksbeamten, in der Arbeiterpresse denunziert zu
werden, so wird es erklärlich, daß die Neigung gerade der Staats-
beamten, den Interessen des Dienstes gegebenenfalls auch durch ein
strengeres Vorgehen gegen den Arbeiter zu entsprechen, ganz be-
deutend beeinträchtigt wird. Der Beamte hat das natürliche Ge-
fühl, daß bei vielen Beschwerden über seine vienstführung, selbst
wenn er sich in jedem Falle rechtfertigen kann, doch immer etwas
hängen bleibt."

Wenn der öffentliche Betrieb schon im alten „Gbrigkeitsstaat"
diese Eigenschaften zeigte und dadurch die Arbeitsleistung ungün-^
stig beeinflußte, so ist natürlich aber erst recht unter einer demo-
kratischen Verfassung mit dem hervortreten dieser Erscheinungen
zu rechnen. In demokratisch regierten Ländern ist man denn auch
bereits vor dem Kriege zu der Erkenntnis gekommen, daß gerade
kn der Demokratie der öffentliche Betrieb auf besondere Schwierig-
keiten stößt. So bemerkte Prof, herkner auf Grund seiner Schwei-
zer Beobachtungen hierüber schon im Jahre 1907 folgendes 38>:

„Eine andere, nicht mit Sicherheit zu bejahende Frage ist die, ob ein
sozialdemokratischer Stadtrat imstande sein würde, gegenüber den rund
170V Gemeindearbeitern die volle Autorität und Disziplin aufrechtzuer-
halten. Diese Gefahr stellt sich wohl überall ein, wo Vertreter der Ar-
beiterpartei innerhalb der Behörden eine maßgebende Stellung erringen.
Chefs staatlicher und kommunaler Dienstzweige, die durch das Band der
Partei mit Berufsorganisationen der Arbeiter und Angestellten verknüpft
sind, die diesen unter Umständen geradezu ihre Stellung in den Behör-
den verdanken, werden naturgemäß noch mit weit größeren Schwierig-
keiten zu kämpfen haben, als sie heute ohnehin schon den meisten Staats-
und Gemeindebehörden aus den Beziehungen zu ihrem Personal erwachsen.
Zweifelsohne wurzelt die in vielen Demokratien zu beobachtende Abnei-
gung gegen Verstaatlichungen und Kommunalisierungen mit in Befürch-
tungen, die auf diesem Gebiete liegen. Ja selbst sozialistische Arbeiter,

Luxus und Sparen

9S

nicht nur Erhaltung des Kapitals, sondern auch fortgesetzte Ver-
mehrung des Kapitals zur Pflicht.

Wie steht es nun in diesem für die allgemeine Beurteilung der
bestehenden Wirtschaftsordnung in erster Linie entscheidenden Punkte
mit dem tatsächlichen Verhalten der wohlhabenden und reichen Klas-
sen ? Es ist natürlich nicht leicht, hierüber ein Urteil abzugeben. Denn
es handelt sich hier um die Frage, wieviel die oberen Klassen vonihrem
Ankommen konsumtiv ausgeben und wieviel sie wieder der Kapital-
bildung widmen. Darüber dringt aber im allgemeinen nichts in
die Öffentlichkeit, sondern der Vorgang spielt sich im stillen Kämmer-
lein ab. Daß hier aber kein Grund zu der Besorgnis vorliegt, das
Unternehmer- und das Rentnertum könnten in dem Streben nach
üppigem Lebensgenuß die Kapitalbildung vernachlässigen, dafür hat
der Sozialismus selbst Zeugnis abgelegt, wenn auch wider willen,
in der allgemeinen Klage, die er und andere mit ihm über die Schran-
kenlosigkeit und Unersättlichkeit des Erwerbstriebs der Unternehmer
angestimmt haben. Oie Allgemeinheit dieser Klagen, die das Lieb-
lingsthema der Moralprediger aller Länder schon seit Jahrhunderten
bilden, ist ein deutliches Zeichen, daß das Unternehmertum im all-
gemeinen nicht von dem Streben nach üppiger Lebensführung und
Genuß beherrscht ist. wäre dem so, dann könnte nicht gut zugleich
darüber geklagt werden, daß vom Unternehmertum in seinem rast-
losen Erwerbstreben nur immer Kapital auf Kapital gehäuft werde.
Der eine Vorwurf hebt den anderen auf. wenn wir immer wieder
hören müssen, daß die großen Unternehmer „vermögen ansammeln,
die ihren Besitzern selber zum Unheil gereichen und jedem vernünf-
tigen Maßstabe eines kulturgemäßen Bedarfs Trotz bieten", wenn
J- B. Äußerungen von Rockefeller zitiert werden, die angeblich in
geradezu klassischer Form die jeden vernünftigen Grundes bare Ten-
denz zum schrankenlosen Erwerb zum Ausdruck bringen sollen, die
dem kapitalistischen Unternehmer eigentümlich sein soll, wenn Rocke-
feller selbst dabei als der Geschäftsmann bezeichnet wird, der, fragte
Man ihn selber, nicht zu sagen wüßte, weshalb er immer nach mehr

142

II, 3, A. Die Leistungsfähigkeit des Individualismus

Verschlechterung, sondern zur Verbesserung der Lage der Arbeitenden
ist der Sozialismus doch wohl ersonnen worden.

Auch in einer sozialistischen Gesellschaft kann also der Übergang
zu neuen Produktionsmethoden nur allmählich, nur in dem Maße,
wie die Kapitalvermehrung ohne allzu fühlbare Einschränkung des
Konsums sich durchführen läßt, erfolgen. Das heißt aber, die sozia-
listische Gesellschaft hat auch auf diesem Gebiete nichts vor der heu-
tigen Wirtschaftsordnung voraus.

Und zugleich erhellt hieraus: Solange das Kapital knapp ist, ist
es nicht wirtschaftlich, irgendwelche beliebigen arbeitsparenden Er-
findungen in der Praxis zur Anwendung zu bringen, sondern es
müssen diejenigen ausgesucht werden, die den größten Ertrag in
Aussicht stellen. Diese ausfindig zu machen, gelingt aber heute sehr
einfach mit Hilfe der Institution des Kapitalzinses. Das Vorhanden-
sein des Zinses, die Notwendigkeit für den Unternehmer, bei der
Berechnung seiner Produktionskosten einen Zins für das von ihm
gebrauchte Kapital einstellen zu müssen, wirkt gleichsam auto-
matisch darauf hin, daß alle diejenigen Kapitalverwendungen unter-
bleiben, bei denen die wirtschaftlichen Vorteile, die sie bieten, unter
einer gewissen Grenze sich halten. Man kann also ruhig zugeben:
durch die Einrichtung des Zinses wird heute die Einführung von
manchen arbeitsparenden Maschinen und anderen Produktionsvor-
teilen unmöglich gemacht, darin liegt aber nichts Unwirtschaftliches,
es wird dadurch nicht die Entwicklung des Wirtschaftslebens zur
höchsten Stufe der Technik künstlich aufgehalten, sondern im Gegen-
teil, es ist im höchsten Grade wirtschaftlich. <£5 verhindert, daß
Kapital in solchen Verwendungen angelegt wird, in denen es nicht
soviel Nutzen zu stiften vermag wie in anderep. Solange noch Knapp-
heit an Kapital besteht, solange das vorhandene Kapital nicht aus-
reicht, um alle Anlagemöglichkeiten zu berücksichtigen, in denen die
Verwendung von Kapital überhaupt noch einen Nutzen verspricht,
wird es im Interesse jeder Gesellschaftsordnung liegen, daß so ver-
fahren wird. Die unserer Wirtschaftsordnung so oft zum Vorwurf

6

1,1. Die individualistische Wirtschaftsordnung

als auch in Amerika und Australien, tatsächlich besteht! Weshalb
nennen wir diese Wirtschaftsordnung eine individualistische? Die
einen, die Anhänger des Sozialismus, sagen, weil in ihr die Insti-
tution des individuellen Privateigentums gilt. Die anderen, die Mit-
glieder der bürgerlichen Parteien, antworten, weil in ihr freie Kon-
kurrenz, überhaupt weitgehende wirtschaftliche Bewegungsfrei-
heit des Individuums herrscht. Jeder Staatsbürger kann selbst be-
stimmen, wo und wie er seine Arbeitskraft und seinen Besitz an
sachlichen Produktionsmitteln verwerten will. Ls herrscht Freizügig-
keit, freie Berufswahl, Freiheit der Personenverbindungen zu wirt-
schaftlichen Zwecken, insbesondere auch Koalitionsfreiheit usw.

Diese beiden Antworten auf die Frage, warum die gegenwärtige
Wirtschaftsordnung als eine individualistische zu bezeichnen ist, sind
nun zwar nicht falsch, aber sie sind, jede für sich genommen, unvoll-
ständig und treffen nicht das Wesentliche.

Als individualistisch sind die heute geltenden Rechtsordnungen viel-
mehr deshalb zu bezeichnen, weil das oberste Rechtsprinzip, das
heute für das Verhältnis des Staates zum Wirtschaftsleben maß-
gebend ist, das der wirtschaftlichen Selbstverantwortlich-
keit der einzelnen ist. Die Linzelbürger haben selbst die Ver-
antwortung für ihre wirtschaftliche Existenz und ihr vorwärtskom-
men zu tragen, nicht etwa aber nimmt der Staat den einzelnen
diese Sorge ab, indem er ihnen ihre wirtschaftliche Existenz garan-
tiert. Der Staat setzt das Wirtschaftsleben überhaupt nicht von sich
aus in Gang, er nimmt nicht eine zentralistische Leitung der Pro-
duktion für sich in Anspruch, er erwartet vielmehr, daß alles, was
nötig ist, um die Versorgung der Bürger mit den Gegenständen ihres
Bedarfs sicherzustellen, also Güterproduktion, Gütertausch, Überlas-
sung von Boden, Kapital und Arbeit an andere, sich durch freie
Entschließungen der einzelnen vollzieht. Das ganze Verhalten des
Staats zum Wirtschaftsleben bei diesem Rechtssystem ist mehr passiv
gewähren lassend, als aktiv eingreifend und treibend. Insbesondere
übt der Staat in der individualistischen Wirtschaftsordnung keinen

20

I, 2. Lrwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

Leistungen Herstellen, oder es können sein Vereinigungen von Kon-
sumenten, die in selbsterrichteten Betrieben für den Bedarf ihrer
Mitglieder produzieren lassen. Darauf beruht die Unterscheidung
zwischen erwerbswirtschaftlicher und konsumgenossenschaftlicher Pro-
duktionsweise. Diese Busdrücke bezeichnen die beiden großen Mög-
lichkeiten zur Organisation des Wirtschaftslebens, zwischen denen
die individualistische Wirtschaftsordnung noch die Wahl läßt. Es heißt
die Bedeutung der konsumgenossenschaftlichen Produktionsweise, wie
sie vor allem durch die heutigen Konsumvereine vertreten wird, sehr
verkennen, wenn man in ihr nur ein Mittel neben vielen anderen
sieht, um die Lage der Lohnarbeiter in der gegenwärtigen Wirt-
schaftsordnung etwas zu verbessern. Die Konsumgenossenschaft be-
deutet, darin haben die Anhänger der Genossenschaftsbewegung voll-
kommen recht, ihrem Wesen nach im Grunde unendlich viel mehr.
Sie stellt einen versuch dar, auf dem Boden des individualistischen
Rechtsprinzips selbst die Entwicklung zum Kapitalismus aufzuhalten
und umzubiegen, das Wirtschaftsleben von solchen Erscheinungen wie
der „profitsucht" zu befreien, um derentwillen der Kapitalismus zum
großen Teil bekämpft wird. Insofern hat die Konsumgenossenschafts-
bewegung viel Verwandtes mit dem Sozialismus. Sie will, wenn
auch mit ganz anderen Mitteln wie der Sozialismus, denn sie läßt
den Staat außer dem Spiel, etwas Ähnliches erreichen wie dieser,
und sie wird ja darum auch gern als „Genossenschaftssozialismus" be-
zeichnet. Die extremen Sozialisten freilich lassen den Genossenschafts-
sozialismus nur als einen Surrogatsozialismus von sehr fragwür-
diger Beschaffenheit gelten.

In der Tat sind auch die Unterschiede zwischen crwerbswirtschaft-
licher und konsumgenossenschaftlicher Produktionsweise außerordent-
lich groß und tiefgehend. Die treibende Kraft der erwerbswirtschaft-
lichen Produktionsweise ist das Streben nach Gewinn. Bei ihr
fällt den selbständigen Produzenten, die das Risiko der Produktion
tragen, der ganze Uberschuß der Produktion über die aufgewandten
Kosten zu. Darin liegt die große wirtschaftliche Stärke der erwerbs-

Der kapitalistische Geist

4-5

schafft, daß die Stürme der wirtschaftlichen Konjunkturen manch-
mal so heftig werden, daß auch der Wellenbrecher die anstürmenden
Wellen nicht mehr aufzuhalten vermag und von den überschlagen-
den Wellen dann auch die Stellen, die bisher durch ihn geschützt
waren, etwas abbekommen.

Uber die Art und Weife, wie die Unternehmung historisch entstan-
den ist, herrschen teilweise auch in der Wissenschaft recht eigentümliche
Darstellungen. Nach den Ansichten, wie sie z.B. S omb art in seinem
„Modernen Kapitalismus" entwickelt, könnte man fast zu der Annahme
kommen, es habe sozusagen zuerst eine neue Spezies des hotno sapiens
geboren werden müssen, ehe die moderne Unternehmung entstehen
konnte. Das Problem, das von diesem Standpunkte aus der Wissen-
schaft gestellt wird, zu erklären, wie aus einmal der „kapitalistische
Eeist" in die Menschen gefahren und woher die für die kapitalistische
Organisation als Wirtfchaftssubjekte qualifizierten Individuen ge-
kommen seien, ist indessen zur Hauptsache nur ein Scheinproblem.
Es entsteht erst dadurch, daß man den Hochkapitalismus, nämlich
die in Unternehmungen organisierte Volkswirtschaft, und den vor-
kapitalismus, das in kleinen Lrwerbswirtschaften organisierte Wirt-
schaftsleben, „die Wirtschaft als Handwerk", als zwei durch einen
kiefen Abgrund getrennte wirtschaftliche Velten behandelt. Die Un-
kernehmung ist aber nichts anderes als eine Fortbildung der Er-
werbswirtschaft, gewissermaßen ihre Steigerung in die zweite Po-
kenz. Sie enthält indessen nichts, was im Reim mcht auch schon in der
Erwerbswirtschaft vorhanden ist. Was sich damals änderte, als die
kknternehmung aufkam, das waren viel weniger'die Anlagen und
die Strebungen der Menschen, als die äußeren Verhältnisse, unter
denen die Menschen ihre Anlagen und Fähigkeiten betätigten. Die
Eigenschaften, welche die neue Grganisationsform voraussetzte, wa-
^en aber, wie wir ohne weiteres annehmen können, bei zahlreichen
Individuen schon immer vorhanden gewesen. Im Anfang war es
in auch gar nicht notwendig, daß die Unternehmer die Eigenschaften,
die recht eigentlich den Unternehmer machen, wirtschaftliche Jnitia-

i)ohle, Kapitalismus und Sozialismus. 2. ctufl.	4

152	II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

beitsleistung auf Rosten ihrer Qualität gesteigert wird. Der Akkord-
lohn kann daher mit gutem Erfolge nur da angewendet werden,
wo auch die Qualität der Arbeitsleistung, die Güte der Arbeit, vom
Betriebsleiter sofort nach getaner Arbeit mit hinreichender Sicherheit
beurteilt werden kann. Das trifft nun zwar im großen und ganzen bei
der industriellen Arbeit zu, nicht aber trifft es in gleicher Weife auch
bei der landwirtschaftlichen Arbeit zu. Bei vielen landwirtschaftlichen
Arbeiten zeigt sich oft erst hinterher, nach längerer Zeit, am Gesamt-
ergebnis der Produktion, ob die einzelnen Arbeiter mit der nötigen
Sorgfalt gearbeitet haben oder nicht. Beim Getreidesäen mit der Hand
z.B. sieht man Fehler in der Regel erst nach dem Auflaufen der Saat,
beim Ausstreuen von Chilesalpeter erst nach Eintreten der Wirkung
und bei Verwendung der übrigen Runstdüngemittel meist über-
haupt nicht.

Ganz besonders gilt das eben Gesagte von den Arbeiten, welche
die Wartung des Viehs erfordert. Dabei kommt es aber gerade hier
bei der viehpflege in ganz besonderem Maße auf die Sorgfalt der
Arbeit an. Aereboe führt in seiner vortrefflichen „Landwirtschaft-
lichen Betriebslehre", der auch die vorhergehenden Beispiele ent-
nommen sind, hierüber folgendes aus^h: „Schon einmalige Un-
achtsamkeit bei der Fütterung kann das Gedeihen der Tiere für
lange Zeit beeinträchtigen, wieviel mehr fortlaufende Gleichgültig-
keit. Ich erinnere nur an das Sauberhalten der Futtertröge, an
vorsichtiges Tränken der Rälber, Regelmäßigkeit der ganzen Füt-
terung, Gründlichkeit beim Ausmelken der Milchtiere, und zwar
fortlaufende Gründlichkeit, Sorgfalt beim hüten auf den weiden
und bei der Behandlung kranker Tiere, an die ständige Bereitschaft
zu Geburtshilfe bei Tag und Rächt, an das Einspannen junger Zug-
tiere, Bewahren vor zu plötzlichem Anziehen bei allem Zugvieh
und viele ähnliche Dinge.. . . viehpflege ist eben etwas rein
Persönliches, eine Sonderleistung, welche ihrem Wesen nach der be-

34) 3. flufT., S. 515 ff.



Die Entwicklung der kommunistischen Ideen

63

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im Keime erstickt, und sein Unternehmen, der französischen Revo-
lution einen kommunistisch-proletarischen Charakter zu verleihen,
blieb eine Episode.

Ruch im 19. Jahrhundert hat der kommunistische Gedanke in der
Literatur noch zahlreiche Vertreter gefunden. Rus den letzten Jahr-
zehnten seien außer Bellamys bekanntem „Rückblick aus dernJahre
2000" hier nur noch Bebels Luch über die frau und den Sozia-
lismus, Ballods „Zukunftsstaat" (2. Rufl. 1919), „Der Kom-
munismus" von Eduard Palpi (Berlin 1919), sowie Popper-
Lpnkeus, „die allgemeine Rährpflicht" (1913), genannt. Der Zu-
kunftsstaat, von dem diese Rutoren ein Bild zu entwerfen suchen,
zeigt alle Züge des unverfälschten Kommunismus, wenn daneben
auch von einigen Rutoren der versuch gemacht wird, von den heu-
tigen Einrichtungen verschiedenes beizubehalten und Kommunismus
und Individualismus nebeneinander bestehen zu lassen. So alt die
kommunistische Literatur nun auch schon ist — sie hätte wäh-
rend des Weltkriegs das Jubiläum ihres vierhundertjährigen Be-
stehens feiern können —, so ist es doch auffallend, einen wie ge-
ringen inneren fortschritt diese Literatur zeigt. Rkan kann nicht
sagen, daß der kommunistische Zukunftsstaat im Laufe dieser mehr-
hundertjährigen Entwicklung nun wirklich greifbare Gestalt und
lebensvolle Züge angenommen hätte. Sein Bild ist bei den Kommu-
nisten des 19. Jahrhunderts noch ebenso verschwommen und unklar
wie bei denen der vorhergehenden Jahrhunderte. Die ganze Li-
teraturgattung ist in der Beschreibung der allgemeinsten Einrich-
tungen steckengeblieben und bietet überwiegend nur kleine Vari-
ationen über das von Morus in seiner Utopia behandelte Thema,
ohne aber dem schon von diesem entworfenen Grundbild wesentlich
neue Züge hinzufügen zu können. Nur in solchen Punkten, wie der
Dauer der täglichen Rrbeitszeit, die in dem Zukunftsstaat für nötig
gehalten wird, unterscheiden sich etwa die verschiedenen Rutoren.
Die Rrbeitszeit, in der einzelne von ihnen alles für die Versorgung
der Bevölkerung Nötige glauben produzieren lassen zu können, ist

Die Arbeitslosigkeit der Saisongewerbe

109

&fein, das in jeder Gesellschaftsordnung irgendwie gelöst werden
Wutz, und das in der bestehenden Gesellschaft noch keine ausreichende
und befriedigende Lösung gefunden hat. Dem Problem der Ar-
beitslosigkeit in der heutigen Wirtschaftsordnung würde ein gro-
ßer Teil seiner Schärfe genommen werden, sobald es gelänge, aus
den Arbeitslosen die eben bezeichnete Kategorie herauszunehmen
und für sie besondere Einrichtungen zu schaffen. —

Ein gewisses Matz von Arbeitslosigkeit ist also, wie gezeigt, im
heutigen Wirtschaftsleben ganz unvermeidbar und auch im allge-
meinen unbedenklich, woher kommt nun aber die zeitweise abnorme
Steigerung der Arbeitslosenziffer?

Eine zeitweise abnorme Steigerung der Arbeitslofenziffer kann
entweder in einzelnen Gewerben oder auch fast gleichzeitig in grö-z
ßeren Teilen der Industrie eintreten. Vas Anschwellen der Arbeits-
losenziffer in einzelnen Industriezweigen kann aus sehr verschie-
denen Ursachen entspringen, wir haben da zunächst Industrien,
M denen sich das Anwachsen der Arbeitslofenziffer regelmäßig in
jedem Jahre in bestimmten Monaten wiederholt. Diese Art der
Arbeitslosigkeit ist ja eine ihrer bekanntesten Erscheinungsformen.
Es ist die Arbeitslosigkeit der Saison- und Kampagnege-
werbe. Sie entspringt aus der Tatsache, daß manche Produk-
tionszweige nur einen Teil des Jahres hindurch betrieben wer-
den, und die in ihnen beschäftigten Arbeiter dann in dem Reste
des Jahres keine Stellen finden können. Kampagnegewerbe sind
solche, deren Betrieb aus natürlichen Gründen auf bestimmte Jahres-
zeiten beschränkt ist und während des übrigen Jahres ruht (Zucker-
industrie, Konservenfabrikation, Fischräucherei usw.), Saisongewerbe
sind solche, die an sich das ganze Jahr betrieben werden können,
nber zu bestimmten Jahreszeiten regelmäßig einen verstärkten Be-
trieb haben (Baugewerbe, Strohhutindustrie, Spielwarenverferti-
3Ung usw.).

Dabei ist, wenn man zum richtigen Verständnis der Ursachen der
Arbeitslosigkeit gelangen will, aber noch ein Punkt zu beachten.

Pohle, Kapitalismus und Sozialismus, 2. lluil.	8

88	11,1. Das arbeitslose Einkommen

hat, nicht jeder, der auch nur eine Spur von moralischem Empfinden
und von Gerechtigkeitsgefühl sich bewahrt hat, gegen die bestehende
Wirtschaftsordnung, mit der das arbeitslose Einkommen untrenn-
bar verbunden ist, sich erklären?^»)	-

So einfach, wie es nach diesen Fragen den Anschein hat, liegt
die Sache indessen nicht. Daß es überhaupt in jeder Wirtschafts-
ordnung arbeitsloses Einkommen geben muß, daß auch die sozia-
listische Gesellschaft für die Arbeitsunfähigen, die Greise, die Wit-
wen und Waisen irgendwie wird sorgen müssen, das sei nur
nebenbei erwähnt. Ls ist ja nicht das bescheidene arbeitslose Ein-
kommen der alten Pensionäre, der Witwen, Waisen usw., über das
sich die Sozialisten entrüsten, sondern, was bei ihney Anstoß erregt,
das sind die hohen Zinsen- und Renteneinkommen, welche reichbe-
güterte Personen neben ihrem durch eigene Arbeit verdienten Ein-
kommen oder auch ganz ohne solches, nur auf Grund ererbter oder
auch selbst erworbener Besitztitel beziehen. Dieses Einkommen ist nach
ihrer Auffassung unverdient.

Da entsteht zunächst die Frage: welches Einkommen ist über-
haupt als verdient, als dem eigenen Verdienst einer Persönlichkeit
entsprungen, anzusehen? Auch bei vielen Arten des erarbeiteten Ein-
kommens ist es außerordentlich schwer, zu sagen, inwieweit Unter-
schiede in der Linkommenshöhe in Unterschieden der Arbeitsleistung
ihre innere Begründung finden oder inwieweit sie „unverdient" sind,
wer ist so vermessen, daß er sich zu entscheiden getraut, wie sich
in dem Einkommen der einzelnen Verdienst und Glück verketten?
Nehmen wir nur ein Beispiel aus dem Leben! von zwei Ärzten
oder Rechisanwälten, die genau die gleiche Ausbildung genossen
haben, bringt es der eine vielleicht zu dem zehn- oder gar zwanzig-
fachen Einkommen des anderen. Das wird zwar meistens die Folge

20») In der Tat schreibt z. B. Rarl Nötzel: „Lin aufgeklärtes soziales
Gewissen kann nach Karl bkarx nicht wehr einvei standen sein mit den Grund-
lagen unseres kbirtschastslebens" (Einsührung in den Sozialismus ohne
Dogma, 1919, S. 41).

Die Konsumgenossenschaft als Regulator der Preisbildung 37

die erste Voraussetzung bildet, nämlich die Fähigkeit, billiger produ-
zieren zu können als die Erwerbswirtschaft. Die konsumgenossen-
schaftliche Produktionsweise ist ihrem Wesen nach Beamtenverwal-
tung. Sie wird" daher in ihren Leistungen in bezug auf wirtschaft-
liche Einrichtung und Durchführung der Produktion immer hinter
der von dem Stachel des Selbstinteresses auf der Bahn des ökono-
mischen Fortschritts in stürmischem Tempo vorwärtsgetriebenen Er-
werbswirtschaft zurückbleiben, von der konsumgenossenschaftlichen
Produktionsweise gilt in dieser Hinsicht ganz dar gleiche, was von
den öffentlichen Unternehmungen des Staates und der Gemeinde
gilt, und was wir später noch näher zu untersuchen haben werden.
Mle diese Drganisationsformen der Produktion, die man an die
Stelle der Lrwerbswirtschaft zu setzen gesucht hat, können es hinsicht-
lich des Punktes, der hier stets der entscheidende bleibt, nämlich
in bezug auf Billigkeit der Produktion, nicht mit der letzteren auf-
nehmen. Sie bleiben im wettlauf mit ihr regelmäßig weit zurück
und müssen das Rennen schließlich aufgeben.

Das ist der zweite Punkt, weshalb die Ronfumenten bei erwerbs-
wirtschaftlicher Einrichtung der Produktion ihre Interessen regel-
mäßig besser gewahrt finden als bei konsumgenossenschaftlichem Be-
trieb, und weshalb sie dieser den Vorzug geben, obwohl ihre natür-
liche Zuneigung doch eher der Ronsumgenossenschaft gelten wird.

Die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise gewährleistet also
nicht nur eine raschere und bequemere Befriedigung neuen Bedarfs,
sie ist im allgemeinen auch die billigere Methode der Bedarfsdeckung.
Rlle sittliche Entrüstung über die erwerbswirtschaftliche Produktions-
weise als eine „Profitwirtschaft" hilft nicht über die Tatsache hin-
weg, daß bei der von dem Streben nach Profit geleiteten Produktion
regelmäßig besser für die Befriedigung des Bedarfs gesorgt ist als
bei einer Produktion, die unmittelbar, ohne das Gewinnstreben der
Menschen in ihren Dienst zu stellen, auf die Deckung des Bedarfs
ausgeht.

28	I, 2. Erwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

nimmt, irgendeiner Bevorzugung durch Maßnahmen der Gesetzgebung
und Verwaltung verdankt. Im Gegenteil. Für die letzte Zeit kann
eher von einer Begünstigung mancher Formen der konsumgenossen-
schaftlichen Produktionsweise, hauptsächlich der Baugenossenschaften,
durch die öffentliche Gewalt gesprochen werden. Im ganzen also
ist die überragende Stellung, welche die Lrwerbswirtschaft heute
im Wirtschaftsleben der Kulturvölker einnimmt, von ihr aus eige-
ner Kraft erobert worden, und ihre Überlegenheit über die Konsum-
genossenschaft geht somit auf natürliche Ursachen zurück. Für den,
der nicht an der geistigen Farbenblindheit leidet, die manchen be-
geisterten Apostel des Genossenschaftswesens hindert, das Normale
von dem Unnormalen zu unterscheiden, sind die Gründe dieser natür-
lichen Überlegenheit der Lrwerbswirtschaft ja auch nicht schwer zu
erkennen.

Der Vorsprung, den die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise
vor der konsumgenossenschaftlichen besitzt und in der individua-
listischen Wirtschaftsordnung auch stets behalten wird— in der sozia-
listischen gibt es den Gegensatz zwischen Konsumgenossenschaft und
Lrwerbswirtschaft überhaupt nicht mehr —, ergibt sich schon aus
der Natur der Aufgabe, die der Produktion in jeder individualistischen
Wirtschaftsordnung gestellt ist. Die Aufgabe, welche die Produktion
hier beständig von neuem zu läsen hat, besteht ja darin, einem frei
sich bildenden Bedürfe sich anzupassen. Mit souveräner Freiheit
kann der Konsument, wie wir wissen, in der heutigen Wirtschafts-
ordnung darüber entscheiden, welchen Produkten er seine Nachfrage
zuwenden und wie hoch er mit den preisen für die einzelnen Pro-
dukte gehen will. Und nichts hindert ihn auch, die Richtung der
Nachfrage und die höhe des Werts, den er einer Ware beilegt,
schnell wieder zu ändern. Dem modernen Kulturmenschen schreibt
ja nicht mehr wie dem Bürger und Bauer früherer Jahrhunderte
die Sitte vor, wie er sich zu kleiden hat, wie er sich seine Wohnung
einzurichten und sein ganzes häusliches Leben zu gestalten hat. Auf
immer mehr Gebieten emanzipiert er sich von den früheren fest-

Die Bestandteile des Kapitalismus

3

die lvrganisation der Rrbeit auf den Hauptgebieten der gewerblichen
Produktion bestimmend geworden ist, überwiegend aber wieder in
einer ganz besonderen Form entgegen. Wo heute eine vielköpfige
5char in einer Erwerbswirtschaft für die Produktion vereinigt ist,
da sind regelmäßig nicht alle in ihr Erwerbstätigen gleichmäßig an
der Tragung des Risikos der Produktion beteiligt. Der normale Zu-
stand ist vielmehr der: ein einzelner oder einige wenige haben die
Tragung des Risikos für alle übernommen. Rur dieser eine hängt
mit der Vergütung für seine eigene Arbeitsleistung und für das
Rapital, das er in den Betrieb gesteckt hat, von den schwankenden
Erträgnissen der Lrwerbswirtschaft ab. Für ihn ergibt sich ein Ein-
kommen erst, wenn die Erwerbswirtschaft einen Überschuß, einen
Reingewinn, abgeworfen hat. Die anderen Personen dagegen, die
sonst noch mit ihrem Rapital oder ihrer Arbeitskraft beteiligt sind,
haben ohne Rücksicht hierauf Anspruch auf Entschädigung, die einen
auf eine feste Verzinsung des von ihnen gestellten Rapitals, die
anderen auf eine entweder der aufgewandten Zeit oder dem ge-
leisteten Werk entsprechende Bezahlung ihrer Rrbeitsleistung. Die-
jenigen, die in dieser Weise das Risiko der Produktion für andere
übernehmen, nennen wir Unternehmer, und eine Erwerbswirt-
schaft, die in ihrer inneren Verfassung der eben entworfenen Schil-
derung entspricht, eine Unternehmung.

individualistische Wirtschaftsordnung, erwerbswirtschaftliche Pro-
duktionsweise und Unternehmung sind die drei Romponenten der
lvirtschaftsverfassung, die jetzt in allen Ländern europäischer Rultur
die Vorherrschaft besitzt. Erst diese drei Momente zusammen, von
denen der, der von kapitalistischer Produktionsweise spricht, gewöhn-
lich nur das eine oder das andere mehr oder weniger klar vor Bugen
bestimmen das wesen der heutigen Wirtschaftsverfassung voll-
ständig. Die individualistische Wirtschaftsordnung ist gewissermaßen
der äußerste Rahmen; die erwerbswirtschaftliche Produktionsweise
der mittlere und die Unternehmung der innerste der drei Rahmen,
die die heutige Wirtschaftsordnung zusammenhalten. Sieht man nun

80	1,4. Der Sozialismus

der tiefere Grund, weshalb die Wirtschaftsgeschichte an Beispielen
für solche, mit einer planmäßigen Leitung der Produktion verbundene
sozialistische Ordnungen so gut wie nichts zu bieten hat. An diese
Riesenaufgabe hat sich der Staat, in richtiger Beurteilung seiner
Rräfte, bisher noch nirgends herangewagt, wo wäre denn auch
ein politischer Chirurg zu finden, der es versteht, dafür auch nur
die erste Vorbedingung zu schaffen, nämlich „eine heutige Volkswirt-
schaft so zu amputieren, daß sie aus dem weltwirtschaftlichen Or-
ganismus gelöst wird und weiter funktioniert?" (hasbach.)

Sn Rußland war es immerhin noch möglich, einen versuch nach
dieser Richtung zu machen, in Deutschland müßte ein solcher versuch
binnen kürzester Frist kläglich scheitern. In Rußland war die In-
dustriearbeiterschaft deshalb imstande, die politische Wacht, die sie
an sich gerissen hatte, dazu auszunützen, um sich selbst auf Rosten der
übrigen Bevölkerung ein bequemes Leben, hohe Löhne und nied-
rige Arbeitszeit, zu verschaffen, weil das industrielle Proletariat in
Rußland doch nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung bildet.
Die Landbevölkerung aber ließ sich die Ausbeutung durch die In-
dustriearbeiterschaft — um nichts anderes als um eine Ausbeutung
der Landbevölkerung bzw. der Gesamtheit der Steuerzahler durch
die Rlasse der Industriearbeiter, die auch im Wahlrecht sich eine
Vorzugsstellung zu verschaffen verstanden hat, handelt es sich bei der
bolschewistischen Form des Sozialismus — deshalb bisher ruhig ge-
fallen, weil sie unter der Herrschaft der Bolschewisten eine neue Land-
verteilung vorgenommen hatte und ihren neuen Besitz wieder zu
verlieren fürchtete, sobald die Bolschewisten gestürzt würden und
andere Rreise an die Regierung gelangten. So erhellt deutlich, wie
das sozialistische Experiment, das man in Rußland angestellt hat,
in seiner verhältnismäßig langen Dauer eben nur aus den beson-
deren Verhältnissen Rußlands, insbesondere seiner relativ großen
wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Auslande erklärt werden kann.
PH. yUtebran dt sagt von dieser Form des Sozialismus sehr
richtig: „Sie ist in Rußland nur deshalb möglich, weil für das zu

Beamtenverwaltung und Aktiengesellschaft

161

privaten, und zwar auch der in Aktienform betriebenen, erheblich
zurücksteht, so gilt das gleiche aber auch noch in einem anderen
wichtigen Punkte. Bei der öffentlichen Unternehmung ist es kaum
möglich, das Selbstinteresse des Betriebsleiters an dem
Gange des Geschäfts so stark zu machen und so in den Dienst des Un-
ternehmens zu stellen wie bei den privaten, hier wird es beson-
ders deutlich, wie verkehrt es ist, wenn man bei der Aktiengesell-
schaft in gleicher Weise wie bei öffentlichen Betrieben von einer
Beamtenverwaltung spricht. Die Stellung des Angestellten einer
Aktiengesellschaft ist eine ganz andere als die eines Angestellten des
Staats. Der Staatsbeamte, so läßt sich das wesentliche des Unter-
schieds kurz ausdrücken, ist unkündbar, und er bezieht ein festes,
regelmäßig steigendes Gehalt. Der Angestellte einer Aktienunter-
nehmung dagegen wird nur auf Kündigung angestellt, sein Gehalt
richtet sich nach seiner Leistung, und seine Einnahmen hängen wesent-
lich von den geschäftlichen Erfolgen ab, die er erzielt.

vor allem wichtig ist hierbei, daß dem öffentlichen Betrieb nach
deutschem Staatsrecht gewöhnlich das scharfe Mittel fehlt, auf dessen
Anwendung die Leistungsfähigkeit so vieler werke der Privat-
industrie in letzter Linie beruht, nämlich die Möglichkeit, die leiten-
den Beamten zu entlassen. Die Kündbarkeit der Direktoren ist für
den Erfolg von Aktiengesellschaften viel bedeutsamer als der Aus-
bau der Kontrolleinrichtungen. Am Erfolg ihrer Tätigkeit kontrol-
liert eine Aktiengesellschaft ihre Direktoren, hat man treffend ge-
sagt, und will sich der gewünschte Erfolg nicht einstellen, dann
wechselt sie eben das leitende Personal.

Das geringere Interesse, das der Staatsbeamte, der ein indu-
strielles werk zu leiten hat, am geschäftlichen Erfolg desselben hat,
setzt sich aber ganz naturgemäß in höhere Produktionskosten um.
Die durchschnittliche Arbeitsleistung der beschäftigten Arbeiter wird
nicht auf demselben Stande wie in Privatbetrieben sich bewegen^
die Ausnutzung der verwendeten Roh- und Hilfsstoffe wird eine ge-
ringere sein, die ganze Organisation wird nicht eine so straffe sein.

Soziale Bedeutung des privateigeulums

n

die verhängnisvollsten sozialen und wirtschaftlichen Folgen ein. vor
allem nimmt dann die Arbeitslosigkeit rapid zu; es wird aber auch
bald Wohnungsnot eintreten, weil niemand mehr Lust hat, sein
Kapital an den Bau von Häusern zu wagen.

Unsicherheit des Privateigentums, wozu auch Ankündigung weit-
gehender Sozialisierungsmaßnahmen, und zwar vielleicht gar ohne
Entschädigung oder wenigstens ohne angemessene Entschädigung der
Vorbesitzer gehört, muß also stets sozial gefährliche Zustände im
Wirtschaftsleben nach sich zieh.n, und zwar Zustände, denen der
8taat mit seinen Machtmitteln hilflos gegenübersteht, da er doch
niemanden dazu zwingen kann, Unternehmer zu werden. Man rüt-
telt eben in der individualistischen Wirtschaftsordnung nicht unge-
straft an der Institution des Privateigentums.

Außer dem Privateigentum ist für die individualistische Wirtschafts-
ordnung grundsätzlich auch wirtschaftliche Bewegungsfrei-
heit unentbehrlich. Der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit der
einzelnen hat naturgemäß aus der anderen Seite das Recht zu ent-
sprechen, ihre wirtschaftliche Tätigkeit frei nach ihrem Ermessen zu
gestalten. In der individualistischen Wirtschaftsordnung gilt daher
grundsätzlich regelmäßig wirtschaftliche Bewegungsfreiheit für die
einzelnen. Diese grundsätzliche Bewegungsfreiheit schließt allerdings
nicht aus, daß der Staat an zahlreichen Stellen Schranken für die
Bewegungsfreiheit seiner Bürger aufrichtet, daß er ihr wirtschaft-
liches handeln unter allerlei einengende Vorschriften stellt. Ls läßt
sich sogar ohne weiteres sagen: Ls hat noch nie in der Geschichte
eine individualistische Wirtschaftsordnung gegeben, die gänzlich ohne
Beschränkungen der ökonomischen Freiheit ausgekommen wäre, in der
der Staat sich von jeder Einmischung in das Wirtschaftsleben zurück-
gehalten hätte. Aber das Maß der staatlichen Einmischung kann
dabei allerdings ein sehr verschiedenes sein, und wir stoßen hier auf
den Punkt, in dem die individualistischen Wirtschaftsordnungen in
der Geschichte und im Leben sich hauptsächlich voneinander unterschei-
den. Stets bleibt dabei aber doch der Satz bestehen, daß mit dem

Die Gefahren der Sozialisierung

169

interessiert, daß die Schaffung von Lrwerbsgelegenheit für sie nur
im Zeitlohn durch Bureaukraten erarbeitet werde."

Die Wirkungen, die jetzt schon bei der Sozialisierung einzelner
Industrien zu beobachten sind, sind natürlich aber erst recht in einem
Zustand zu erwarten, in dem die gesamte Industrie verstaatlicht ist
und von einer staatlichen Zentralstelle aus geleitet wird. Venn das
bedeutet ja zugleich die unbedingte Notwendigkeit, die Arbeiter zu
Beamten zu machen und auf das Ründigungsrecht ihnen gegenüber
zu verzichten, wenn die gesamte Industrie verstaatlicht ist, wenn
es nur noch einen einzigen Arbeitgeber, eben den Staat, gibt, dann
wäre es ja auch eine unerhörte Härte und Grausamkeit, dem Ar-
beiter seine Stelle zu kündigen. Vas hieße, ihn zum Hungertode ver-
urteilen. Der sozialistische Staat kann daher unmöglich das Diszi-
plinarmittel zur Anwendung bringen, dessen mögliche Anwendung
ohne Zweifel heute sehr wesentlich dazu beiträgt, die Arbeitsleistung
zu steigern. An die Stelle der wirtschaftlichen Strafe der Entlassung
vermag der sozialistische Staat nur wirkliche Strafen für unzuver-
lässige und untüchtige Arbeiter zu setzen, also Freiheitsentziehungen,
Lohnkürzungen, Entziehung von Urlaub und anderen Vergünstigun-
gen usw. Die große Frage ist nun aber, ob die Furcht vor Stra-
fen dieser Art dasselbe zu leisten vermag für den Fleiß des Ar-
beiters, was heute die Ntöglichkeit der Entlassung auf der einen
und die Aussicht auf vorwärtskommen und höheren Lohn auf der
anderen Seite, oder kürzer gesagt, was der Zustand der wirtschaft-
lichen Selbstverantwortlichkeit für die Arbeitsleistung bedeutet. Die
Frage stellen heißt sie verneinen. Ebensowenig wie vom Staats-
beamten als Betriebsleiter der gleiche wirtschaftliche Erfolg erwar-
tet werden kann wie von dem für eigene Rechnung wirtschaftenden
Unternehmer, ebensowenig darf man von dem in einen Staatsbeamten
verwandelten Lohnarbeiter die gleiche Arbeitsleistung wie vom Lohn-
arbeitet auf Ründigung erwarten, wer anders lehrt, der kennt
die menschliche Natur nicht. Es heißt nicht zu gering von den sitt-
lichen Kräften der menschlichen Natur denken, wenn man sie nur

Nus Natur und Geisteswelt

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126	ll, 2. Die Arbeitslosigkeit

nicht mehr bloß tatsächlich, sondern rechtlich eingeschränkt wäre,
bleibt immer noch ein himmelweiter Unterschied bestehen, und es
wird keiner sozialistischen Sophistik gelingen, diesen Unterschied zu
verwischen. Line Freiheit, die mit Mängeln und Schranken be-
haftet ist, ist immer noch etwas ganz anderes als eine nach allen Rich-
tungen durchgeführte Grganisation der Abhängigkeit.^)

Welches von den beiden Gesellschaftsidealen, die sich in einer
Gesellschaftsordnung nicht zugleich in vollkommenem Maße durch-
führen lassen, ist nun aber als das an sich höherstehende anzu-
sehen, das der Freiheit oder das der Gleichheit? Mit den Mitteln
der Logik und der Wissenschaft läßt sich dieser Streit niemals ent-
scheiden. Man kann nicht mathematisch zwingend beweisen, daß von
den beiden hier miteinander im Streit liegenden Idealen das eine
unbedingt vor dem anderen den Vorzug verdiene. Der begeisterte
Sozialist wird sich nie davon überzeugen lassen, daß die wirtschaft-
liche Freiheit, welche die heutige Gesellschaftsordnung gewährt, höher
zu schätzen sei als die Gleichheit und Existenzsicherung durch den
Staat, die sie nicht bietet. Daraus folgt: der Streit zwischen In-
dividualismus und Sozialismus ist ein ewiger Streit, und die Wissen-
schaft vermag uns die Rufgabe nicht abzunehmen, uns selbst in dem
Streit zwischen Individualismus und Sozialismus zu entscheiden. Er
ist unser freier, sittlicher Wille, der in diesem Streit wie überhaupt i»
allen letzten und höchsten Lebensfragen, die nicht mehr Sache des Wis-
sens, sondern des Glaubens sind, die Entscheidung zu treffen hat.

In dieser Glaubensfrage stehe ich aber nicht an, zu bekennen,
daß die Wagschale, in die der Sozialismus die Ideale der Existenz-
sicherung und der Gleichheit legt, für mich federleicht wiegt im ver-
gleich mit der Wagschale, in die der Individualismus die wirt-
schaftliche Freiheit zu legen hat. Die Freiheitsrechte, die uns die
heutige Gesellschaftsordnung gewährt, insbesondere die Freiheit der
Bedarfsbildung und der Arbeit, find die unumgängliche Grundlage

29)	Treffend auseinandergesetzt bei Philipp Lotmar, Die Freiheit de»
Berufswahl, 1898.

Die Freiheit des Konsums

13

den Druck der Preisbildung, durch das Ruf und Nb der
preise. Auch in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung muß ja
irgendwie dafür gesorgt sein, daß die Nachfrage in Übereinstim-
mung mit den auf allen Gebieten nur knapp vorhandenen Waren-
vorräten gehalten wird. Das geschieht aber eben heute normaler-
weise nur durch die Bewegung der Preise, nur durch den Druck,
den das höhergehen der Preise auf die Nachfrage ausübt. Die Konsu-
menten werden dadurch gezwungen, ihre Nachfrage einzuschränken
oder unter Umständen sogar ganz einzustellen. Der Staat dagegen ver-
zichtet seinerseits darauf, wenigstens in gewöhnlichen Zeiten, die Nach-
frage durch direkte Vorschriften zu beschränken und dadurch dem knap-
pen Nngebot anzupassen. Line solche Rationierung des Konsums, wie
wir sie während des Krieges auf zahlreichen Gebieten in Gestalt
von Brot-, Zucker-, Kartoffel-, Fleisch-, Butter-, Seifen- und anderen
Karten, in Form von Kleider- und Wäschebezugsscheinen usw. ein-
zuführen genötigt waren, empfinden wir als etwas, was eigentlich
dem Wesen der individualistischen Wirtschaftsordnung fremd ist, was
nicht in ihren normalen Zustand hineingehört, und von der Bevölke-
rung daher auch nur widerwillig ertragen wird. Eben deshalb wur-
den ja diese Einrichtungen als „Kriegssozialismus" bezeichnet. Für
gewöhnlich wird eben in der individualistischen Wirtschaftsordnung
die Nachfrage lediglich durch den Druck der Preisbildung reguliert.
Das ist es, was wir unter Freiheit des Konsums in der gegenwär-
tigen Wirtschaftsordnung hauptsächlich zu verstehen haben: her-
stellung der notwendigen Übereinstimmung zwischen den immer nur
knapp vorhandenen Vorräten und der an sich stets unbegrenzten
Nachfrage nicht durch direkte staatliche Rationierungsmaßnahmen,
sondern lediglich durch den Druck der Preisbildung.

Nlit der Freiheit des Konsums korrespondiert in der individua-
listischen Wirtschaftsordnung regelmäßig zweitens Freiheit der
Produktion und der Nrbeit. Dieses zweite wirtschaftliche
Grundrecht des Individuums in der heutigen Wirtschaftsordnung
bedeutet: Jeder kann selbst frei, vom Staate unbeeinflußt, entschei-

Pohle, Kapitalismus und Sozialismus. 2. Uufl.	2

Die Ursachen der Erhaltung des Uleinbetriebs

135

bis zur äußersten Grenze ihrer Leistungsfähigkeit sich erhebt. Darum
ist aber auch der Schluß, der heute so häufig aus der nicht voll aus-
genutzten Leistungsfähigkeit der Produktionsanlagen auf das Zurück-
bleiben der wirklichen Produktion hinter der an sich möglichen ge-
zogen wird, falsch und unbegründet.

Die Erscheinung selbst, die zu so weittragenden Schlußfolgerungen
Rnlaß gegeben hat, erklärt sich übrigens sehr einfach. Wenn neue
Produktionsanlagen errichtet werden, so erscheint es dem Unter-
nehmer mit Recht gewöhnlich vorteilhaft, diesen eine Leistungs-
fähigkeit zu geben, die über die zunächst zu erwartende Inanspruch-
nahme hinausgeht. Erst allmählich wächst die Rnlage dann im Laufe
der Jahre mit ihrer wirklichen Erzeugung in die mit ihrem Pro-
duktionsmittelapparat mögliche Warenerzeugung hinein, wenn die
Unternehmer so vorgehen, so handeln sie nicht anders wie Gemein-
den, die beim Bau ihrer Schulhäuser den in den nächsten Jahren
Zu erwartenden Mehrbedarf schon mit berücksichtigen.

Eine zweite Erscheinung, auf die sich der Sozialismus bei der Lehre
von der wirtschaftlichen Überlegenheit seines Gesellschaftssystems be-
ruft, ist das zahlreiche Vorkommen von technisch rückstän-
digen Rleiw- und Mittelbetrieben in der heutigen Volks-
wirtschaft. Der Sozialismus malt uns im Gegensatz hierzu das
lockende Bild eines Zustandes aus, in dem auf allen Gebieten der
Produktion der Großbetrieb in seiner rationellsten Form durchge-
führt ist. So verfährt z.L. Ballod in seinem Buche über den Zu-
kunftsstaat, wobei er vor den willkürlichsten Annahmen nicht zurück-
I schreckt, nur um für den sozialistischen Staat einen möglichst großen
Produktionsertrag herausrechnen zu können. Ruch bürgerliche Na-
tionalökonomen haben sich durch dieses Rrgument beeinflussen lassen
Und geben sich dem Glauben hin, in einer sozialistischen Gesellschaft
lasse sich sofort die ganze Produktion auf der Basis eines mit den
vollkommensten technischen Einrichtungen ausgestatteten Großbe-
triebs neu organisieren und dadurch beträchtlich verbilligen.

Diese Rnnahme ist indessen ein Rberglaube. wie unrichtig sie ist,

118

II, 2. Oie Arbeitslosigkeit

daß cs wirtschaftlich unmöglich ist, eine so große Arbeiterzahl wie
bisher zu den gestiegenen Löhnen weiter zu beschäftigen. Oie sinken-
den Preise für Kohle, Eisen, Walzwerkserzeugnisse usf. erlauben
das nicht mehr.

Vas ist die Situation, aus der heraus die Arbeitslosigkeit in Kri-
senzeiten entsteht. Für die menschliche Arbeitskraft bildet sich dann
eine ganz ähnliche Lage, wie sie auf den Warenmärkten nicht selten
zu beobachten ist. Waren sind bekanntlich dann unverkäuflich, wenn
sich Käufer und Verkäufer nicht über den Preis einigen können, wenn
der Verkäufer sich nicht zu entschließen vermag, die Ware zu dem
preis herzugeben, den der Käufer äußerstenfalls für sie noch zu
zahlen bereit ist. Ebenso wird die Ware Arbeitskraft unverkäuf-
lich oder, was dasselbe besagt, die Arbeiter werden arbeitslos, wenn
die Behauptung der Lohnsätze auf ihrer bisherigen höhe unmög-
lich wird und die Löhne, welche die Unternehmer etwa gerade noch
zahlen könnten, wenn die ganze bisher beschäftigte Arbeiterzahl auch
weiterhin Beschäftigung finden sollte, weit abweichen von den Löh-
nen, welche die Arbeiter als angemessen ansehen. Sn dieser Situa-
tion wird es immer zu Arbeiterentlassungen und zu Arbeitslosig-
keit kommen, vielleicht wäre es möglich, durch eine sofortige starke
Reduktion der Lohnsätze die Arbeiterentlassungen zu vermeiden. Aber
der versuch wird regelmäßig gar nicht gemacht. Und er wäre wohl
auch von vornherein zum Scheitern verurteilt und würde durch
die Lohnkämpfe, die sich unvermeidlich an ihn anschließen, das in
dieser Situation ohnehin schon sehr empfindliche Wirtschaftsleben
nur noch mehr in Verwirrung bringen.

Aus dem Gesagten erhellt, wie die Arbeitslosigkeit auch in Zu-
sammenhang mit der höhe der Lohnsätze in der Volkswirtschaft
steht — ein bei der Erörterung der Ursachen der Arbeitslosigkeit be-
zeichnenderweise zumeist ganz mit Stillschweigen übergangener Ge-
sichtspunkt. werden Lohnsätze verlangt, die nicht der wirklichen Lage
des Arbeitsmarktes entsprechen, oder bewegen sich die Löhne auf einem
Stande, zu dem es unmöglich ist, das ganze vorhandene Arbeits-

30

I, 2. Lrwerbswirtschast und Konsumgenossenschaft

wenn der Konsument auch angeben sollte, welche Kleider, welche and
hüte, welche Bücher, welche Spielsachen usw. er in der nächsten Bev
Periode verbrauchen wird, so würde er in die allergrößte verlegen- ' such
heit kommen, hier sind wir gewöhnt, unter den uns in großer Zahl Nen
vorgelegten fertigen Warenmustern unsere Auswahl zu treffen, und mal
wir würden es ohne Zweifel alle höchst unangenehm empfinden, weü
wenn man diesen Zustand ändern wollte.	stre

Für die Produktion bedeutet dieser Zustand aber, daß sie es nicht gef«
mit der Versorgung eines gegebenen Bedarfs zu tun hat, sondern	Fra

daß sie selbst vielfach erst den Bedarf wecken muß, den sie befrie- allg
digen will. Besonders deutlich läßt sich das in solchen Gewerben, die folg
einem regelmäßigen Modewechsel unterworfen sind, verfolgen, wie ITtoi
z. B. in vielen Zweigen der Textilindustrie, bei der Herstellung von weo
Kleiderstoffen, Bändern, Spitzen, Stickereien usw., ferner aber auch 20.
in der Glas- und der keramischen Industrie, der Schmuckwarenfabri- verl
kation, der Spiel- und Kurzwarenverfertigung usw. Linen großen biet
Teil der Zeit und der Arbeitskraft der Produzenten nimmt hier die der
Schaffung neuer Muster in Anspruch, mit denen sie den jährlich sich Bai
erneuernden Kampf um den Markt aufnehmen.	bau

Für die Unregelmäßigkeit der Bedarfsgestaltung und für die Er- I
fcheinung des periodischen Modewechsels im modernen Wirtschafts- lich
leben will man nun freilich nicht selten die Produzenten selbst verant- scha
wörtlich machen. Sie selbst seien es gewesen, die die Geißel geschaffen I
hätten, unter der sie jetzt stöhnten. Diese Betrachtungsweise beruht scha
indessen auf einer ganz unzulänglichen Auffassung der Ursachen Pro
des Modewechsels. Der Modewechsel ist nicht etwa von den Unter- also
nehmern willkürlich geschaffen worden, sondern er entspringt all- ber
gemeinen Eigenschaften, welche die menschliche Natur im Gemein- . beh,
schaftsleben entwickelt. In einer Gesellschaft, in der es verschiedene &ers
Einkommensschichten gibt und in der Freiheit des Konsums herrscht, ihm
wird es immer auch einen Modewechsel geben. Der Modewechsel hat iich>
seinen Ursprung einerseits in dem Streben der wirtschaftlich besser nun
Gestellten nach Abwechselung und Unterscheidung von der Masse, wa,

Schlußsrgebnisse

175

fähigkeil erbracht haben, und hinter denen nichts steht, als die fa-
natische verranntheit einzelner Doktrinäre? vermag unsere Arbei-
terschaft so wenig einzusehen, wieviel von unseren Nöten auf Rech-
nung des Krieges und der auch nach dem Waffenstillstand noch so
lange aufrecht erhaltenen feindlichen Blockade zu setzen ist, daß sie
die individualistische Wirtschaftsordnung allein für die traurigen Zu-
stände, unter denen jetzt das deutsche Volk zu leiden hat, verantwort-
lich machen will?

Nur wirtschaftliche Kurzsichtigkeit schlimmster Art kann glauben,
eine Volkswirtschaft von der Beschaffenheit der deutschen könne ihre
Lage durch Übergang zum radikalen Sozialismus, für den in Deutsch-
land nicht weniger als alle Voraussetzungen fehlen, irgendwie bessern.
Für Deutschland noch weniger als für andere Länder liegt gegenwär-
tig ein Anlaß vor, in das Räderwerk seines Wirtschaftslebens einen
anderen Motor als den bisher benutzten einzubauen. Deutschland
handelt vielmehr am klügsten, wenn es unter Verzicht auf alle ge-
wagten Experimente die alten bewährten psychischen Motoren, die
bisher fein Wirtschaftsleben in Gang erhalten haben, wieder an-
kurbelt. wenn die deutsche Volkswirtschaft nach dem furchtbaren
Schicksal, das sie jetzt durchgemacht hat und das ihr weiter nach
den Friedensbedingungen noch bevorsteht, überhaupt noch einmal
zu ihrer früheren Größe aufgerichtet werden kann, so kann das nur
auf dem Boden der individualistischen Wirtschaftsordnung und unter
der Führung des Kapitalismus geschehen.

12*

90

II, 1. Das arbeitslose Einkommen

tausend gehabt, danach muß ich aber bekennen: es waren nur ganz
vereinzelte Existenzen, die sich durch ihren Reichtum der Verpflich-
tung enthoben glaubten, eine nützliche Tätigkeit sür die Gesellschaft
zu leisten. Im allgemeinen herrschte auch in diesen Rreisen durch-
aus das Gefühl vor, noch bis in das hohe Alter hinein zu produk-
tiver Arbeit verpflichtet zu sein. Ruch in diesen Rreisen sterben
viele in den Sielen, und wenn manche von der geschäftlichen Tätig-
keit sich etwas früher zurückziehen, so geschieht es nur, um sich ganz
der ehrenamtlichen Tätigkeit in den Organen unserer Selbstverwal-
tung oder anderen gemeinnützigen Rufgaben widmen zu können.

Gb unter diesen Umständen ein Bedürfnis vorliegt, an die Stelle
eines sittlichen Gebots, das sich an den einzelnen richtet, an den Staat
die Forderung zu stellen, er möge durch eine Neuorganisation der
Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage dafür sorgen, daß über-
haupt jede Möglichkeit zum Bezug eines arbeitslosen Einkommens
aufhöre, das wird man in erster Linie davon abhängen lassen müssen,
ob mit der Existenz des arbeitslosen Einkommens eine schwere Be-
nachteiligung der anderen volksklassen verknüpft ist oder nicht. Unter
diesem Gesichtspunkte sind ja auch die heftigen Angriffe des Sozia-
lismus gegen das arbeitslose Einkommen aufzufassen. Die Tatsache,
daß arbeitsloses Einkommen in erheblichem Umfange vorhanden ist,
genügt ihm, um daraus ohne weiteres ungünstige Folgen für die
wirtschaftliche Lage der übrigen Bevölkerung abzuleiten. Alles ar-
beitslose Einkommen beruht nach ihm auf Ausbeutung, ist ledig-
lich eine Folgeerscheinung des Privateigentums und hat sonst keinen
wirtschaftlichen Zweck, als eben den, seinem Bezieher zu ermöglichen,
ohne Arbeit h:rrlich und in Freuden zu leben.

Die große Frage ist nun aber, ob der Sozialismus mit diesen Be-
hauptungen recht hat. Der Sozialismus hat ja für seine Anschau-
ungen über diesen Punkt viele Gläubige auch in nichtsozialistischen
Rreisen gefunden. Die sozialistische Auffassung des arbeitslosen Ein-
kommens ist in Deutschland auch in bürgerliche Rreise tief einge-
drungen, bei manchen Bürgerlichen ist geradezu schon die Anschauung

bietet, wollten sie ihr aber aus guten Gründen nicht bieten, und
so kamen sie folgerichtig dazu, auf jede Schilderung ihres Gesell-
schaftsideals zu verzichten und alles vertrauensvoll der allmäch-
tigen Entwicklung zu überlassen, die ganz von selbst den Zukunfts-
staat schaffen werde. Dabei spielt freilich auch noch mit, daß von den
Marxisten überhaupt viele im Kommunismus stecken geblieben sind,
wie auch Marx und Engels selbst nie mit Entschiedenheit den Schritt
»om Kommunismus zum Kollektivismus getan haben. —

Neben Kommunismus und Kollektivismus wird als dritte Haupt-
Achtung des Sozialismus gewöhnlich noch der Staatssozialis-
Wus genannt, von Staatssozialismus zu sprechen, ist allerdings
eigentlich eine Tautologie, denn Sozialismus bedeutet an sich schon
Zeitung des Wirtschaftslebens in mehr oder weniger großem Um-
sang durch den Staat.

Trotzdem mag der Ausdruck hier beibehalten werden, da er sich
schon seit langem zur Bezeichnung eines gewissen Typus des So-
zialismus eingebürgert hat. wir verstehen darunter die Verstaat-
iichung einzelner Produktionszweige wie der Eisenbahnen und an-
berer Verkehrsanstalten, der Versorgung des Wirtschaftslebens mit
Elektrizität, einzelner Zweige des Bergbaues usw. Im allgemeinen
aber wird die private Initiative und die private Unternehmung
aufrechterhalten, und insbesondere wird an der wirtschaftlichen
belbstverantwortlichkeit der einzelnen nichts geändert. Bei dieser
Art des Sozialismus kommt alles auf das Maß an. Solange die
Sozialisierung oder, wie man dafür neuerdings vielfach sagt, Na-
tionalisierung nur einige wenige Produktionszweige erfaßt, entfernt
sich der Sozialismus nur wenig von der bestehenden Wirtschafts-
ordnung. In dem Maße dagegen, wie die Sozialisierung immer mehr
Zweige umfaßt, wird die Entfernung von der heutigen Wirtschafts-
ordnung größer und größer. Für eine Verstaatlichung einzelner
Industrien, etwa um dem Staat durch die Schaffung von Finanz-
wonopolen neue ergiebige Steuerquellen zu erschließen, oder auch,
um in Industrien, in denen aus natürlichen Gründen die Konkurrenz

86

11,1. Das arbeitslose Einkommen

entgehen, allein die spezifisch sozialistische Kritif an der gegenwärtig
herrschenden Einkommensverteilung ist das nicht. Die Kritik, dio
der eigentliche Sozialismus an der heutigen Einkommensverteilung
übt, geht von ganz anderen Gesichtspunkten aus. In ihrem Mittel-
punkte steht die Frage, ob das Einkommen auf Arbeit beruht
oder nicht, und alles arbeitslose Einkommen wird von ihr für un-
verdient und sittlich unberechtigt, für einen Raub am Arbeitserträge
anderer, erklärt. Gb sich das arbeitslose Einkommen dabei auf eine
große oder eine kleine Zahl von Köpfen verteilt, das ist nach sozia-
listischer Auffassung im Grunde ziemlich belanglos. Eine Anhäu-
fung des arbeitslosen Einkommens in den Händen einiger weniger
Millionäre ist nach ihr sogar eher als das kleinere Übel anzusehen.
Zu diesem Standpunkte bekennt sich z. B. der deutsche Sozialist
Eduard Bernstein. „Gb das gesellschaftliche Mehrprodukt", so
schreibt er einmal, „von 10 000 Personen monopolistisch aufgehäuft
oder zwischen einer halben Million Menschen in abgestuften Men-
gen verteilt wird, ist für neun oder zehn Millionen Familienhäupter,
die bei diesem Handel zu kurz kommen, prinzipiell gleichgültig. Ihr
Bestreben nach gerechterer Verteilung oder nach einer Organisation,
die eine gerechtere Verteilung einschließt, braucht darum nicht min-
der berechtigt und notwendig zu sein. Im Gegenteil. Es möchte
weniger Mehrarbeit kosten, einige tausend Privilegierte in Üppig-
keit zu erhalten, wie eine halbe Million und mehr in unbilligem
Wohlstand."

Zweifellos wird nun in der heutigen Wirtschaftsordnung in sehr
großem Umfange Einkommen bloß auf Grund von Besitzrechten,
Nicht auf Grund von geleisteter Arbeit bezogen. Genau feststellen
läßt sich der Bruchteil des Gesamteinkommens, der heute als ar-
beitsloses Einkommen, insbesondere als Zinsen- und Grundrenten-
einkommen bezogen wird, allerdings nicht. R. E. Map schätzte das
Zinseinkommen für das Deutsche Reich auf % bis % des Volks-
einkommens, das von ihm für 1907 auf rund 40 Milliarden Mark
angenommen wurde. Auf sozialistischer Seite schätzt man den An-

4	I. Gegenwärtige Wirtschaftsordnung. Allgemeiner

als das spezifische Kennzeichen des Kapitalismus nur die Unterneh-
mung an, so läßt sich die Auffassung immerhin noch einigermaßen
begründen, daß der Kapitalismus in der Wirtschaftsgeschichte etwas
relativ Junges sei. Uber es wird dabei die innere Einheit über-
sehen, zu welcher Unternehmung, erwerbswirtschaftliche Produktions-
weise und individualistisches Kechtssqstem heute verbunden sind. Sie
bilden eine Dreieinigkeit. Die Unternehmung ist überhaupt nichts,
was für sich allein existieren könnte. Und vor allem wird bei dieser
Auffassung übersehen, daß die Unternehmung nicht im Bruch mit
der Wirtschaftsentwicklung früherer Jahrhunderte, sondern als Er-
zeugnis ihrer organischen Fortbildung entstanden ist. Ebendarum ist
es so grundverkehrt, den Kapitalismus und die vorkapitalistischen
Wirtschaftsformen als zwei völlig getrennte und durch einen ab-
grundtiefen Gegensatz geschiedene wirtschaftliche Welten hinzustellen,
was in de.n Büchern mit Vorliebe so streng geschieden wird, das ist
im Leben in Wahrheit durch zahlreiche, unmerkliche Übergänge mit-
einander verbunden gewesen, und das eine ist aus dem andern durch
eine ganz allmähliche Entwicklung, die nirgends Sprünge gemacht
hat, hervorgewachfen.

Daß es sich hier um Produkte eines organischen Wachstums und
nicht um durch bewußte Akte der Gesetzgebung willkürlich geschaffene
Einrichtungen handelt, das gilt überhaupt in gleicher Weise von
allen drei Grundbestandteilen, aus denen sich die gegenwärtige Wirt-
schaftsverfassung zusammensetzt. Sie sind sämtlich nicht vom mensch-
lichen verstände in den Beratungen irgendeines Parlaments ausge-
klügelt worden, sondern sie haben ihren Ursprung ebenso wie etwa
die Sprache in den Trieben und Instinkten des Ukenschen. Sie sind
(pvösi, nicht &sffei. entstanden, um mit Aristoteles zu sprechen. Wollen
wir die Entstehungsbedingungen dieser grundlegenden Einrichtungen
der modernen Wirtschaftsorganisation verstehen, so werden wir da-
durch vor die Aufgabe gestellt, das Wirtschaftsleben gleichsam auf
seinem Entwicklungsgänge zu belauschen, um die geheimen Gründe
zu erkennen, die es bestimmt haben, seine Entscheidung, die nicht

Luxus und Sparen

10!

wit Feuer und Schwert diejenigen auszurotten streben, welche nicht
pflichtgemäß mit dem ihnen anvertrauten Pfunde wuchern? Vder
fall man gar jede Bevorzugung durch Geburt und Glücksfälle aus
der wirtschaftlichen Welt verbannen? Es kommt mir vor, als wenn
ein großer Teil derjenigen, welche das für die Aufgabe einer gründ-
lich reformierten Sozialpolitik halten, sich hier mehr vom Gefühl
der Mißgunst als von objektiven Erwägungen leiten lassen. Läßt
der Himmel seine Sonne scheinen und seinen Regen fallen auf Ge-
rechte und Ungerechte, da sollte sich der Mensch nicht vermessen, in
wirtschaftlichen Dingen eine absolut vollkommen verteilende Gerech-
tigkeit durchführen zu wollen, zumal wenn das neue Gebäude der
absolut gerechten Wirtschaftsordnung auf dem sandigen Boden des
Neides und ähnlicher Gefühle von Menschen errichtet werden soll,
die selber weit davon entfernt sind, den Anforderungen der Ge-
rechtigkeit zu entsprechen."

Das Gesamtergebnis unserer Betrachtungen ist also das: Die Exi-
stenz eines umfangreichen arbeitslosen Einkommens in der bestehen-
den Wirtschaftsordnung ist noch nicht ohne weiteres ein Grund, um
über sie unter moralischen und sozialen Gesichtspunkten den Stab
Zu brechen. Auch das arbeitslose Einkommen hat im gegenwärtigen
Dirtschastsleben eine wichtige Funktion zu erfüllen. Es hat neben
den Ersparnissen, die vom Arbeitseinkommen selbst gemacht werden,
ZUr Hauptsache die Mittel für den wirtschaftlichen Fortschritt aus-
zubringen. Daß das arbeitslose Einkommen heute auch wirklich seiner
Hauptmasse nach für diesen Zweck verwendet wird, das ist jetzt frei-
lich nicht durch irgendwelche gesetzliche Einrichtungen sichergestellt
und läßt sich auf dem Wege gesetzlicher Vorschriften — etwa durch
Controlle der Einkommensverwendung bei Gelegenheit der Steuer-
deklarationen — auch wohl kaum sicherstellen. Ls setzt vielmehr ein
bestimmtes freiwilliges wirtschaftlich-moralisches Verhalten der
Klassen voraus, decken das arbeitslose Einkommen zufließt. Ls gilt
darum immer aufs neue in diesen Blassen das Gewissen zu schärfen,
daß sie in ihrer Lebenshaltung einfach bleiben, jedem unnötigen

Die Produktivgenossenschaft im öfteren Bergbau

47

trieben worden ist, hat ziemlich lange gedauert. Die Gewerkschaft
des älteren Bergrechts, die im mittelalterlichen Bergbau die nor-
male Form war, wie sich eine größere Personenzahl zum Berg-
baubetrieb vereinigte, trägt aber ursprünglich durchaus produk-
tivgenossenschaftliche Züge. Die Bergleute, die die eigentliche berg-
männische Arbeit leisteten, brachten dabei gewöhnlich auch das erfor-
derliche Kapital selbst auf. Solange Grubenbetrieb herrschte, war die-
ses ja noch gering. Ls fand also noch keine Trennung zwischen Ka-
pital und Arbeit statt, die Produktionsmittel gehörten den Produ-
zenten selbst, und diese hatten daher auch allein Anrecht sowohl
auf den gesamten Produktionsertrag wie auf die Betriebsleitung.

Allein die weitere Entwicklung hat sehr bald zu einer Trennung
Zwischen Kapital und Arbeit geführt. Und zwar geschah dies durch
den sogenannten Kostvertrag, der in den deutschen Bergordnungen
des letzten Drittels des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
eine rechtliche Regelung erfahren hat. „Bis dahin hatten", wie
£. Bernhards diese Entwicklung beschreibt, „sämtliche Mit-
glieder einer Gewerkschaft mit eigener Hand den Bergbau betrieben.
Jetzt trat eine Trennung zwischen Kapital und Arbeit ein, denn
der Kostvertrag enthielt die Vereinbarung, daß einer oder meh-
rere der Gewerken am gemeinschaftlichen Bau nicht teilzunehmen
brauchten, und daß diese Gewerken statt dessen ihren arbeitenden
Mitgewerken einen regelmäßigen Geldbeitrag zum Betriebe zu lei-
sten hätten, hierdurch wurde zwar der Gewerkenverband nicht ge-
sprengt, denn der Kapitalist sowohl wie die Bergleute waren Ge-
werken. Sie bildeten zusammen die Genossenschaft, der das Eigen-
tum am Bergwerke zustand. Immerhin aber trat jetzt die neue Un-
terscheidung zwischen arbeitenden und kostgebenden Gewerken ein."

Zwei Umstände waren es vor allem, welche zur Trennung von
Kapital und Arbeit führten und damit den alten Tharakter der
Gewerkschaft untergruben. Einmal wurde manchen unter den Ge-

4) Die Entstehung und Entwicklung der Gedingeordnungen im deutschen
Bergrecht. Leipzig 1902, S. 8.



KoIIcltitrismus und wirtschaftliche Freiheit

69

sozialen Institutionen gern wie mit den Bausteinen eines Baukastens,
aus denen man beliebige Figuren zusammensetzen kann. In Wahr-
heit lassen sich die sozialen Systeme aber nicht beliebig durcheinander
mischen und zusammensetzen, wenn man wirklich lebensfähige Ge-
bilde erhalten will. In der Verkennung der Gesetzmäßigkeit, die auch
in den sozialen Dingen waltet, liegt der größte und ursprünglichste
aller Irrtümer des Sozialismus.

Insbesondere ist in dieser Beziehung nun festzustellen: Freiheit
des Konsums und Freiheit der Arbeit sind in einem kollektivistischen
Gemeinwesen auf die Dauer unmöglich. Venn aus ihnen ergeben sich
notwendig die Erscheinungen, zu deren Bekämpfung und Beseitigung
recht eigentlich der Übergang zum Kollektivismus verlangt wird. So-
lange Freiheit der Arbeit und Freiheit des Konsums bestehen bleiben,
ist es vor allem unmöglich, das Ideal des Kollektivismus in bezug
auf die Einkommensverteilung zu verwirklichen. Die Ziele des Kol-
lektivismus auf diesem Gebiete gehen aber nicht nur dahin, den Bezug
des arbeitslosen Einkommens radikal zu beseitigen, sondern auch
die Höhe des Einkommens der einzelnen abzustufen nach der Art
ihrer Arbeitsleistung und der Bedeutung, die ihre Arbeitsleistung
sür die Gesellschaft hat. In dieser Beziehung unterscheidet sich der
Kollektivismus ja ebenfalls zunächst vom Kommunismus. Er ver-
langt nicht vollständige Gleichheit des Einkommens für alle, sondern
er läßt Unterschiede der Einkommenshöhe zwischen den einzelnen
nach der Größe ihrer Arbeitsleistungen und der gesellschaftlichen
Bedeutung der einzelnen Arten der Arbeit zu. wenn der Kollekti-
vismus dabei aber wirklich eine feste Skala für die Entlohnung der
einzelnen Arbeitsarten einführen, wenn er das jetzige Auf- und Ab-
schwanken der Löhne nach dem wechselnden Verhältnis zwischen An-
gebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt beseitigen und damit
der Forderung der Arbeiter nach Abschaffung des verhaßten „Lohn-
shstems", das ja nichts anderes bedeutet als die Regulierung der
Lohnsätze nach der Nachfrage der Konsumenten einerseits und dem
^udrang zu den einzelnen Berufen andererseits, Genüge tun will,

Arbeitslosigkeit und Krbeitrfreiheit

IOZ

ihr ganzes Leben sicher, und auch im Alter und bei Arbeitsunfähig-
keit haben sie Anspruch auf Versorgung. Dem Lohnarbeiter fehlt
diese Sicherung seiner ökonomischen Existenz. Er muß mit der Ge-
fahr rechnen, arbeitslos zu werden. $ik jeden, von dem wir hören,
daß er stellenlos ist, beschleicht uns unwillkürlich Mitleid. Und dieses
Mitleid hat seine tiefe Berechtigung. Die Arbeitslosigkeit ist eine
schwere Gefahr für die Arbeiterbevölkerung. „Die große Mehrzahl
der Menschen wird", wie G. von Schanz einmal treffend bemerkt,
»durch den regulären Gang der Beschäftigung und des Einkommens
auf dem Wege des Guten erhalten, und sie strauchelt, sobald dieser
Gang unterbrochen wird und die Not an die Tür klopft."

Es ist daher sehr verständlich, wenn das Mitleid, das wir mit
jedem Arbeitslosen empfinden, leicht in Entrüstung über den bru-
talen Unternehmer, der angeblich nach seinem Belieben den Ar-
beiter aufs Pflaster wirft, oder auch in leidenschaftlichen Anklagen
gegen die ganze heutige Wirtschaftsordnung, die den Arbeiter von
Seit zu Zeit arbeitslos werden läßt, sich Luft macht. Vas aber ist
gerade die Hrage, die hier aufgeworfen werden muß: Ist die Er-
scheinung der Arbeitslosigkeit wirklich ein genügender Grund, um
über die ganze heutige Wirtschaftsordnung den Stab zu brechen?
Mer sich hierüber ein Urteil bilden will, der muß vor allem von
dem Umfang, in dem in der modernen Volkswirtschaft Arbeits-
losigkeit herrscht, sowie von den gesellschaftlichen Zusammenhängen,
die sie Hervorrufen, eine richtige Vorstellung haben. Und weiter
Muß er vor allem auch darüber sich klar sein, unter welchen Vor-
aussetzungen einzig und allein denkbarerweise eine Beseitigung der
Arbeitslosigkeit erreicht werden kann. Die Kritik an einem sozialen
System hat ja überhaupt nur dann Sinn und Berechtigung, wenn
Man das andere soziale System, das notwendig an die Stelle des
abgelehnten treten müßte, nach seinen Eigenschaften mit zum ver-
gleich heranzieht. Jede Kritik, die eine soziale Einrichtung verurteilt,
ahne aber sich darum zu kümmern, wie das soziale System beschaffen
sein würde, das allein an die Stelle des bekämpften treten kann, ist

56	1,3. Unternehmung und, Produktivgenossenschaft

sich aus Lrwerbswirtschaften in konsumgenossenschaftliche Produk-
tionsstätten , umwandelten.

Fast noch bemerkenswerter aber als das Zugrundegehen so vieler
Produktivgenossenschaften ist aus der Geschichte dieser Genossen-
schaftsform eine andere Tatsache. Das ist die Erscheinung, daß die-
jenigen Genossenschaften, die vom Untergang verschont blieben und
geschäftlich vorwärtskamen, regelmäßig eine tiefgreifende Wandlung
ihres Wesens durchzumachen hatten. Sie hörten nämlich auf, Pro-
duktivgenossenschaften zu sein, und verwandelten sich in bloße Unter-
nehmungen. wenn nämlich das Geschäft so gut ging, daß eine Er-
weiterung des Betriebs nötig wurde, so wurden die neuen Arbeits-
kräfte nicht mehr zu gleichen Rechten mit den bisherigen Mitglie-
dern, also mit Einfluß auf die Betriebsleitung und Anspruch auf
Anteil am Gewinn, eingestellt, sondern sie wurden nur als Lohn-
arbeiter auf Ründigung zu den ortsüblichen Lohnsätzen angenom- '
men. (vder aber die neu eintretenden Arbeiter mußten ein Eintritts-
geld bezahlen, und die höhe des Eintrittsgeldes, das von ihnen ver-
langt wurde, stufte sich genau entsprechend den Überschüssen der ein- -
zelnen Genossenschaften ab. Gpp enheimer spricht im Hinblick hier-
auf geradezu von einem „Gesetz der Transformation", das die Ent-
wicklung der Produktivgenossenschaft beherrscht. Und man wird ihm
in der Tat darin beipflichten müssen, daß hier keine zufällige, son-
dern eine durchaus notwendige und innerlich begründete Erscheinung
vorliegt, von den in Deutschland jetzt noch unter dem Namen Pro-
duktivgenossenschaften bestehenden Gebilden sind sehr viele infolge-
dessen überhaupt nicht mehr eigentliche Produktivgenossenschaften,
sondern Unternehmungen, die nur aus ehemaligen Genossenschaften ,
hervorgegangen sind, in ihrer inneren Verfassung sich aber in nichts |
von einer gewöhnlichen Unternehmung unterscheiden. Man darf sich
also durch den Namen nicht über den wahren wirtschaftlichen Cha-
rakter dieser Gebilde täuschen lassen.11)

11)	vgl. hierzu Herbert weil, Die gewerblichen Produktivgenossen-
schaften in Deutschland. 191Z.

Der russische Agrarsozialismus

77

Das eigentlich Sozialistische des Mir liegt darin, daß die Lauern-
gemeinde das Recht hat, von Zeit zu Zeit eine Neuverteilung des
Ackerlandes vorzunehmen. Der Lauer besitzt bei diesem System an
den Feldern, die er bestellt, kein frei vererbliches Privateigentum,
sondern er muß immer damit rechnen, daß ihm sein bisheriges Acker-
land durch einen Leschluß der Bauerngemeinde wieder genommen
wird und eine Neuverteilung des Ackerlandes stattfindet. Neue Um-
teilungen des Ackerlandes können aber dann von der Lauerngemeinde
durch Mehrheitsbeschluß verfügt werden, wenn die Seelenzahl in
einem Dorfe stark gewachsen ist. Und die Neuverteilung des Acker-
landes erfolgt dann auf Grund der gestiegenen Seelenzahl, wobei
entweder nur die erwachsenen männlichen Personen oder auch die
Frauen und Rinder berücksichtigt werden. Bei jeder Neuverteilung
werden also die Anteile für den einzelnen kleiner. Gerade darin
ist aber das spezifisch Sozialistische der ganzen Einrichtung zu er-
blicken. Die Dorfbewohner fühlen sich wirtschaftlich als eine Ein-
heit, und zwar erstreckt sich ihr Solidaritätsgefühl in charakteristi-
schem Unterschied von den westeuropäischen Verhältnissen über den
Familienzusammenhang hinaus auf die Gesamtheit der vorfgenossen.
Die Zunahme der Bevölkerung wird als eine Erscheinung betrachtet
und behandelt, die nicht nur die einzelne besonders kinderreiche Fa-
milie angeht und ihre wirtschaftliche Lage berührt, sondern deren
Folgen von allen Dorfbewohnern gemeinsam zu tragen sind. Zu
diesem Zweck gibt es kein frei vererbliches Privateigentum einzelner
am Grund und Loden, sondern die einzelnen haben nur zeitweilige
kkutzungsrechte. Vas Lodeneigentum steht der Gemeinde zu, und
diese sucht mit Hilfe ihres Eigentumsrechts die wirtschaftliche Exi-
stenz aller Gemeindemitglieder, so gut es geht, zu sichern.

Sn manchen Rreisen, namentlich in Rußland selbst, ist der Mir
lange Zeit überschwänglich gepriesen und als eine den westeuropä-
ischen Einrichtungen überlegene Form der Bodennutzung hingestellt
worden. Auf die wirtschaftliche Entwicklung der russischen Landwirt-
schaft hat aber dieses Rechtssystem zweifellos höchst ungünstige wir-
st o h I e, Kapitalismus und Sozialismus, 2. stuft.	6

Die Arbeitsleistung im öffentlichen Betrieb

163

die Verdienste der einzelnen Rohlenhäuer im Privatbergbau weit
größere Spannungen als im Staatsbergbau, speziell im Saargebiet.
Das ist ein deutlicher Hinweis, daß der Privatbetrieb es besser ver-
steht, die Unterschiede, die hinsichtlich der individuellen Leistungs-
fähigkeit zwischen den Arbeitern bestehen, auszunutzen und jeden
Arbeiter zur höchsten Uraftäußerung anzuspornen. Bei dem Staats-
bergbau wird im Gegensatz hierzu ein gleichmäßiger Lohn aller
Kameradschaften verlangt, und es wird die Vermeidung eines zu
geringen ebenso wie eines zu hohen Lohnes gegenüber dem durch-
schnittlichen angestrebt. Diese Lohnpolitik bleibt aber eben nicht
ohne Rückwirkung auf die Leistung der Belegschaft. Der Bericht
vom Jahre 1910 sagt darüber: „Die Leute, welche wenig geschafft
haben, wissen, daß ihnen zugelegt wird, und die besseren Arbeiter
halten mit der Leistung zurück, da der Anreiz eines entsprechend
höheren Lohnsatzes fehlt."

Der zweite wunde Punkt des öffentlichen Betriebs ist die Auf-
rech t e r h a l t u n g d er v i s z i p l i n unter den Arbeitern. Vas hängt
damit zusammen, daß bei ihm ganz von selbst die Tendenz sich ein-
stellt, den Arbeitern die Stellung von unkündbaren Beamten zu
gewähren. Auch wy nicht direkt zur Schaffung eines solchen Ar-
beiterbeamtentums übergegangen wird, macht die Ausübung des
Ründigungsrechts den Arbeitern gegenüber größere Schwierigkeiten
als im Privatbetrieb. Sn ihren Bemerkungen zu dem Bericht der
vorhin erwähnten Untersuchungskommission des Abgeordnetenhau-
ses begründet die staatliche Bergwerksverwaltung diese Erscheinung in
folgender weise: „Im Staatsbergbau ist es nicht so leicht wie im
Privatbetrieb, aus disziplinarischen Gründen einen Arbeiter zu ent-
lassen. Das Beschwerderecht wird in solchen Zöllen meist bis zur
letzten Instanz ausgeübt, und in manchen Fällen beschäftigt sich auch,
der Landtag mit einer solchen Entlassung. Dies führt zu dem un-
erfreulichen Zustand, daß nicht nur fast jede Entlassung wegen Ver-
stoßes gegen die Disziplin, sondern auch die aus diesem Grunde ver-
hängten Strafen in vielen Fällen eine eingehende Berichterstattung

II. Die sozialistische Kritik an der bestehenden
Wirtschaftsordnung.

Allgemeines.

Im Frühjahr 1919 wurden in Sachsen Versammlungen mit'
der Tagesordnung abgehalten: „Rönnen wir jetzt sozialisieren?"
Sie sollten dazu dienen, Stimmung für das schon erwähnte Soziali-
sierungsprogramm von vr. Neurath und Genossen zu machen, das
nach seiner volkswirtschaftlichen Natur schon auf einer ausgeprägt
kommunistischen Basjs steht und etwa als „verschämter Bolschewis-
mus" sich kennzeichnen läßt. Durch diese Fragestellung sollte wohl
auf dem Wege der Suggestion eine bejahende Antwort auf die Frage,
ab überhaupt zur Sozialisierung eine Nötigung vorliegt, erschlichen
werden. Diese Frage, ob überhaupt zwingende Gründe zur Soziali-
sierung vorliegen, gilt es aber, wenn man das Problem wirklich
objektiv und voraussetzungslos erörtern will, zunächst zu behandeln.
Zu diesem Zwecke sind vor allem die Anklagen zu prüfen, die der
Sozialismus gegen die individualistische Wirtschaftsordnung und
den aus ihrem Schoß geborenen Rapitalismus vorzubringen hat
und die er für ausreichend hält, um da; Todesurteil über den An-
geklagten zu fällen. Die Anklagen des Sozialismus gegen die be-
stehende Gesellschaftsordnung wurden im letzten Abschnitt schon hier
und da gestreift. Sie erfordern aber noch eine mehr systematische
Behandlung. Ts handelt sich hauptsächlich um drei Punkte. Natür-
lich darf man nicht erwarten, bei jedem beliebigen sozialistischen
Schriftsteller diese dreifache Kritik der heutigen Wirtschaftsordnung
zu finden. Der eine legt mehr wert auf diesen, der andere auf
jenen Punkt. Dabei kann aber kein Zweifel sein, in diesen drei

52

!, 3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

winnanteil an ihm beteiligt sind. Sie lehnen also nicht die erwerbs-
wirtschaftliche Produktionsweise an sich ab, sondern nur die beson-
dere Form, die sie sich in der Unternehmung gegeben hat. Kn die
Stelle dieser aristokratischen Form wollen sie eine mehr demokra-
tische setzen. Ihr Ideal ist eben die Arbeiterproduktivgenossenschaft,
in der die Arbeiter eines Betriebs auch seine Unternehmer sind und da-
her zum Unternehmen in einer ganz anderen Stellung stehen, als wenn
sie als Lohnarbeiter auf jederzeitige Kündigung angenommen sind.
hieraus ergibt sich zugleich, daß die Produktivgenossenschaft in eine
ganz andere Uategorie des Genossenschaftswesens gehört als die
Uonsumgenossenschaft. Die Konsumgenossenschaft verneint das ganze
Prinzip, auf dem die Erwerbswirtschaft beruht, ändert aber dafür
nichts an der Stellung des Lohnarbeiters im Wirtschaftsleben. Der
Lohnarbeiter, der im Betrieb einer Konsumgenossenschaft tätig ist,
bleibt genau so Lohnarbeiter wie der Lohnarbeiter in einer Unter-
nehmung, und es hat ja auch schon zahlreiche Konflikte der An-
gestellten der Konsumvereine mit ihren Arbeitgebern über die Ar-
beitsbedingungen gegeben. Die Produktivgenossenschaft dagegen ver-
neint nicht die Erwerbswirtschaft an sich, sondern nur die Stellung,
die der Lohnarbeiter in der Unternehmung einnimmt. Sie will die
Scheidung zwischen Unternehmer und Lohnarbeiter aufheben und
den Lohnarbeiter zum gleichberechtigten Unternehmergenossen machen.

Ukit der Gründung von Produktivgenossenschaften in diesem Sinne
sind im Laufe des letzten Jahrhunderts nach und nach eine ganz
stattliche Reihe von versuchen gemacht worden. Sie sind aber fast
regelmäßig nach einiger Zeit wieder gescheitert. „Die Geschichte der
Produktivgenossenschaft ist eine einzige Kette von Mißerfolgen", be-
merkt F. Oppenheimer, der diesem Gegenstände eine eingehende
Untersuchung gewidmet hat. Er berechnet, daß in Deutschland in der
von ihm untersuchten Zeit, d.h. vom Beginn der deutschen Genossen-
schaftsbewegung an bis etwa zur Mitte der 90 er Jahre, insgesamt
322 Arbeitergenossenschaften errichtet worden waren. Davon hatten
sich nicht weniger als 213, also mehr als Vs« bis dahin auch schon wie-

64

!, 4. ver Sozialismus

erstaunlich kurz. Nach Nebel sollte sogar schon eine 2Vsstündige
tägliche Nrbeit der erwachsenen männlichen Bevölkerung genügen,
um die notwendigsten Bedürfnisse aller zu decken!

Auffallend ist auch, wie wenig die moderne Entwicklung des Wirt-
schaftslebens — die Entstehung der Weltwirtschaft — Einfluß auf
den Inhalt der kommunistischen Literatur gewonnen hat. Die Tat-
sache, daß das Wirtschaftsleben heute in Reichen organisiert ist, die
viele Millionen von Menschen umfassen, wird von einem großen
Teil der Kommunisten immer noch einfach ignoriert, wie ein sol-
ches Millionenreich oder gar die Weltwirtschaft auf kommunistischer
Basis organisiert werden könnte, dafür einen Weg anzugeben, das
geht offenbar über ihr vermögen. Und so begnügen sie sich da-
mit, Bilder von kommunistischen Gemeinwesen zu entwerfen, die
sich aus sehr kleinen Gebieten und Bevölkerungszahlen zusammen-
setzen, etwa gar nur eine Stadt mit dem nächsten Landbezirk um-
fassen. wie bei diesem Zustand die heutige billige industrielle Tech-
nik, die für ihre Massenproduktion große Marktgebiete voraussetzt,
soll beibehalten werden können, bleibt das Geheimnis des Kommu-
nismus. ver Kommunismus ist eben heute noch genau so wie vor
Jahrhunderten „Utopie", d. h. er vernachlässigt die realen Bedin-
gungen des Wirtschaftslebens und der menschlichen Natur. Dieses
seines utopischen Charakters ist sich ein großer Teil der kommu-
nistischen Literatur auch selbst sehr wohl bewußt. Die häufige wähl
der Nomanform für die kommunistische Literatur, die Verlegung des
Schauplatzes der geschilderten kommunistischen Gemeinwesen entweder
an unbekannte Grte oder in Zeiten, die von der Gegenwart durch
Jahrhunderte getrennt sind, das alles sind deutliche Bekenntnisse
der Unfähigkeit der Kommunisten, von den Verhältnissen der Gegen-
wart eine Brücke zu schlagen zu den Einrichtungen ihres Zukunfts-
staats. Und neuerdings vermeiden die Kommunisten, wenn sie eine
Schilderung ihres Zukunftsstaats entwerfen, überhaupt ängstlich das
Wort „Kommunismus". Sie sprechen dafür schamhaft nur von der
„Verwaltungswirtschaft" oder der „Bedarfswirtschaft", die sie ein-

Das Wesen des Unternehmers

39

angehören, nach ihrer Stellung zum Unternehmen als zwei par-
allele Erscheinungen zu betrachten.

Unternehmer nennen wir diejenigen, für deren Rechnung und
Gefahr die Produktion geführt wird, denen der Uberschuß des Er-
trags über die Rosten zufällt, die auf der anderen Seite aber auch
einen etwa sich ergebenden Verlust allein zu tragen haben, ctlte
übrigen Personen, die mit ihrem Rapital oder ihrer Arbeit mit-
wirken, stehen zu dem Unternehmer in dem Verhältnis entweder
von Geldgebern, die für ihr dem Unternehmen überlassenes Rapital
einen von den Ertragsverhältnisfen unabhängigen Zins beanspru-
chen können, oder von Lohnarbeitern, die unter Einhaltung der
üblichen Ründigungsfrist jederzeit wieder entlassen werden können
und die für ihre Mitwirkung ohne Rücksicht auf den sich ergebenden
Gewinn oder Verlust nach der Größe ihrer Arbeitsleistung entweder
im Zeitlohn oder werklohn entschädigt werden.

Es gehört also zum wesen des Unternehmers, daß er das Risiko,
das mit der Produktion für fremden Bedarf verknüpft ist, nicht
nur für sich selbst, sondern auch für andere trägt. Der Unternehmer
ist stets ein Ubernehmer des Risikos der Produktion für andere. Er
verpflichtet sich, anderen für ihre Mitwirkung bei der Produktion
feste Sätze für die Überlassung ihres Rapitals oder chrer Arbeits-
kraft zu zahlen, unabhängig von der Tatsache, ob die Produktion mit
Verlust oder Gewinn abschließt. Derjenige, auf den dies nicht zu-
trifft, der nur mit seiner eigenen Arbeitskraft und seinem eigenen
Rapital die Produktion für den Markt betreibt, ist noch kein Unter-
nehnier. Er betreibt zwar eine Erwerbswirtschaft, aber keine Unter-
nehmung.

Wenn wir sagen, der Unternehmer übernimmt das Risiko der
Produktion für andere, so kann das selbstverständlich nicht heißen,
daß durch den Unternehmer überhaupt jedes Risiko für die anderen
Geldgeber und für die in der Unternehmung tätigen Arbeiter be-
seitigt werde. Allein das Risiko, das diese Personen laufen, ist ein
ganz anderes, und zwar ist es eben infolge des Dazwischentretens

produktionrfähigkeit und wirkliche Produktion	] ZZ

wohnlich verteidigt man ja ihre sozialen Mängel damit, daß man
ihr nachrühmt, sie hebe dafür die Produktion auf eine sonst nicht er-
reichbare höhe. wir haben daher allen Anlaß, uns mit diesem schwer-
wiegenden Vorwurf, den der Sozialismus erhebt, näher auseinander-
zusetzen.

In jedem Angriff, auch dem an sich törichtsten und unbegründet-
sten, steckt gewöhnlich ein Rörnchen Wahrheit, d.h. er kann sich
auf irgendwelche an sich richtigen Beobachtungen berufen, die ihm
Recht zu geben scheinen. So hat auch hier unsere erste Frage zu
lauten: welche an sich richtig beobachteten, aber falsch gedeuteten
Tatsachen liegen der Anklage des Sozialismus auf ökonomische Rück-
ständigkeit gegen die heutige Wirtschaftsordnung zugrunde?

Ls sind, wenn wir näher zusehen, vier Erscheinungen, auf die
sich der Sozialismus bei seiner Anklage beruft und zunächst auch
mit einem gewissen Schein des Rechts berufen kann. Wir wollen
sie der Reihe nach kurz betrachten.

Die erste Erscheinung, die der Sozialismus bei seinem Vorwurf
im Auge hat, ist das scheinbare Zurückbleiben der tatsäch-
lichen Produktion hinter der Produktionsfähigkeit,
das sich auf zahlreichen industriellen Produktionsgebieten beobachten
läßt. Wenn wir die einzelnen Industrien durchgehen, so werden wir
fast regelmäßig finden, daß die vorhandenen Betriebsanlagen für
eine größere Produktion eingerichtet sind als diejenige, die sie tat-
sächlich im Durchschnitt meist nur erreichen. So nimmt z. B. die
Roheisenproduktion die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Hochöfen
in den meisten Ländern nur selten voll in Anspruch, nur vorüber-
gehend decken sich wirkliche Produktionsleistung und Produktions-
fähigkeit der Hochöfen, für gewöhnlich bleibt die erstere hinter der
letzteren ganz erheblich zurück. Und ebenso wie im Hüttenwesen
ist es fast in allen Industrien. Die Produktionsfähigkeit der An-
lagen ist regelmäßig größer als ihre tatsächliche Produktion. Be-
sonders deutlich tritt das Mißverhältnis zwischen Produktion und
Produktionsfähigkeit in solchen Industrien wie der Zementindustrie,

26

1,2. Lrwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

Die Entfaltung derkonsumgenossenschaftlichen Produktionsweise bei
der Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses ist also teilweise ein
künstliches Gewächs. Ähnlich steht es bei manchen Zweigen des klein-
gewerblichen Genossenschaftswesens, die ja ebenfalls unter den Be-
griff der konsumgenossenschaftlichen Produktionsweise im weiteren
Sinne des Worts gebracht werden können, auf deren Entwicklung hier
aber nicht im einzelnen eingegangen werden soll.

Bus das erneute Vordringen der konsumgenossenschaftlichen Pro-
duktionsweise in der Gegenwart sind nun von manchen Seiten, und
zwar teilweise auch von Vertretern der Wissenschaft, schon die kühn-
sten Hoffnungen gesetzt worden. Die klonsumvereine sollen, so hofft
man, der archimedische Punkt werden, von dem aus es gelingt, die
gegenwärtige Produktionsweise aus den Angeln zu heben. Man er-
blickt in manchen Lagern in den Konsumvereinen so etwas wie
apokalyptische Reiter, die den Untergang der sündigen kapitalisti-
schen Welt ankündigen. Durch ihre Ausbreitung soll der Kapitalis-
mus von innen heraus ausgehöhlt werden. Auf friedlichem Wege
und ohne allzu merkbare Veränderungen werde man mit ihrer Hilfe
in eine Art sozialistischer Organisation hineingelangen.

Gegen eine solche Entwicklung wäre nun an sich kaum etwas ein-
zuwenden, allein, so müssen wir fragen, berechtigt die bisherige
Ausdehnung der konsumgenossenschaftlichen Produktionsweise wirk-
lich zu solchen Erwartungen? Wenn man den richtigen Maßstab
zur Beurteilung der Bedeutung der konsumgenossenschaftlichen Pro-
duktionsweise im Wirtschaftsleben der Gegenwart gewinnen will,
so darf man nicht die großen Mitgliederzahlen der Konsumvereine
aufmarschieren lassen, sondern man muß ermitteln, welchen Bruch-
teil von der Gesamtzahl der gewerbtätigen Personen eines Landes
die in Konsumvereinsbetrieben beschäftigten Personen ausmachen.
Legt man diesen Maßstab an, so kommt man für die volkswirtschaft-
liche Bedeutung des Genossenschaftswesens zu einem außerordent-
lich bescheidenen Ergebnis, von der Gesamtzahl der gewerbtätigen
Personen entfielen nach der gewerblichen Betriebszählung von 1895

120

11,2. Die Arbeitslosigkeit

Hüt den Schlußergebnissen unserer Betrachtungen sind wir zu-
gleich wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt, nämlich bei der
Erkenntnis des engen Zusammenhangs, der zwischen dem Zustande-
kommen der Arbeitslosigkeit und der Freiheit des Arbeitsverhält-
nisses, überhaupt den wirtschaftlichen Freiheitsrechten in der heu-
tigen Wirtschaftsordnung besteht. Dieses Resultat ist nun aber über-
haupt fast auf alle Erscheinungen auszudehnen und zu verallge-
meinern, die uns im heutigen Wirtschaftsleben mißfallen, und die
wir als soziale Übelstände empfinden. Sie alle sind in letzter Linie
als Folgeerscheinungen der weitgehenden Freiheit aufzufassen, welche
die geltende Wirtschaftsordnung ihren Bürgern gewährt. Auf den
Zusammenhang, der zwischen der Bewegung der Lohnsätze und der
Freiheit des Konsums sowie der Freiheit der Arbeit besteht, wurde
bereits hingewiesen. Nehmen wir als weiteres Beispiel den emp-
findlichen Mangel an Wohnungen, der von Zeit zu Zeit in
den modernen Großstädten einzutreten pflegt, wie oft sind der groß-
städtischen Wohnungsproduktion nicht schon leidenschaftliche vor-
würfe gemacht worden, daß sie es nicht verstehe, sich der Bewegung
des Wohnungsbedarfs rechtzeitig anzupassen und diesem immer einen
Vorrat von etwa 3 o/o leerstehender Wohnungen zur Verfügung zu
stellen, bei dem der Wohnungsmarkt gerade die rechte Mitte zwi-
schen Wohnungsüberfluß und Wohnungsmangel zeige! Woher kommt
es nun aber, daß im Leben dieser ideale Zustand auf dem Wohnungs-
markt nur relativ selten verwirklicht ist und der Wohnungsvorrat
oft außerordentlich rasch von einem Extrem ins andere, von Woh-
nungsmangel in Wohnungsüberfluß und dann wieder umgekehrt
verfällt?

Diese Verhältnisse sind in letzter Linie die Folge der vollständigen
Bewegungsfreiheit, deren sich die Bevölkerung heute erfreut, und
die oft zu außerordentlich starken Schwankungen in der Größe der
Wohnungsnachfrage in kurzer Zeit führt. Namentlich in Städten, in

Zufriedenheit, durch die eine allgemeine Arbeitsunlust noch mehr verstärkt
wird." (l. Morgenblatt vom 5. März 1919.)

B.6.TBUBNEB8 HANDBÜCHER
FÜR HANDEL UND GEWERBE

Die Handbücher sollen in erster Linie dem Kaufmann und Industriellen
ein geeignetes Hilfsmittel bieten, sich rasch ein wohlbegründetes Wissen auf den
Gebieten der Handels- und der Industrielehre, derYolkswirtschaft und des Rechtes, der
Wirtschaftsgeographie und der Wirtschaftsgeschichte zu erwerben, wie es die erhöhten
Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens erfordern. Aber auch allenYolkswirt-
schaftlern und Politikern sowie den Yerwaltungs- und Steuerbehörden wird die Samm-
lung willkommen sein, da sie in ihr die so oft nötigen zuverlässigen Nachschlagewerke
über die verschiedenen kaufmännischen und industriellen Fragen finden werden.

Die Bilanzen d. privaten u. öffentl. Unternehmungen.

Von E. Passow. 2. erw. u. verb. Ausl. 2 Bde. gr. 8. I. Bd. Allgemeiner Teil.

[VIII u. 304 S.] Geh. M. 11.40, geb, M. 13.—. II. Bd. Die Besonderheiten in
den Bilanzen der Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung,
Genossenschaften d. bergbaul., Bank-, Versicherungs- u. Eisenbahnunternehmungen,
d. Elektrizitäts-, Gas- u.Wasserwerke sowie d. staatl. u. kommunalen Erwerbsbetriebe.
[VI u. 298 S.] Geh. M. 11.—, geb. M. 12.60.

Sozialpolitik. Von v* Zw*e(liiaeck-Süd6uhorst. [IX u. 450 S.] gr. 8.

£_	Geh. Ji 9.20, geb. M 11.—

Das Genossenschaftswesen in Deutschland, v,on "X^0'1'

___________________________________________________ zinshl. [VI u.

287 S.] gr. 8. Geh. MQ.—, geb.	6.80.

Yerstcherungswesen.	Vn“u-%obA«\T-[XIV 485 s'] gr'8'

Anlage von Fabriken, I°ns&““riXÄ

sowie 6 Tafeln. [XIII u 528 S.] gr. 8. Geh. M 12.—, geb. M 12.80.

Einführung in die Elektrotechnik. ^yöai.ortmu»genn.teohn.

______________2________________________ Ausfuhrungon. Von E. Eiukel

Mit 445 Abbild, im Text. [VI u. 464 S.] gr. 8. Geh. Ji 11.20, geb. M 12,—

Hifi TH»PH in fl 11 Altrip) Von Oskar Simmorsbach. Mit 92 Abbild. [X u.
UW JViSmimUUSllJO. 322 S ] gr 8 Oeh. ^7.20, geh. MS.—

Die chemische Industrie. Von Oustay Müller. Untor Mitwirkung

-	___________ von Jbritz Bennigson in Berlin. [VIII u.

488 S.] gr. 8. Geh. Jl 11.20, geb. 13.—

Chemische Technologie. Vonc,Fr-irleus,'e^ Mit	iXVI u- »si so

________________________° gr. 8. Geh. MS.—, geb. .«8.60.

Die Zuckerindustrie.	lA<3i g£Vfl7..80' ^inzeln:

--	____________ I. Teil: Die Zuckerfabrikation. Von Dr.

H. Olaassen und W. Bartz [vergr.j. II. Teil: Der Zuckerhandel. Von O. Pilet.
[IV u. 92 S.] Geh. ^1.80, geb. M 2.20.

Die Zuckerproduktion der Welt. Vr^iTgew^s'-8SI Br"8"

Weitere Bände befinden sich in Vorbereitung.

Auf sämtliche Preise Teuerungszuschläge des Verlags und der Buchhandlungen

Verlag von B. G. Teubner iu Leipzig und Berlin

Die Dauer der Arbeitslosigkeit

107

3 ft der Umfang der Arbeitslosigkeit nur gering, d. h. hält er sich
unter etwa 3 <y0, so ist auch die durchschnittliche Dauer der Arbeits-
losigkeit nicht lang, nimmt dagegen der Umfang der Arbeitslosigkeit
ZU, so erfährt gewöhnlich gleichzeitig auch ihre Dauer eine Ver-
längerung. Das ist selbstverständlich aber für die wirtschaftliche und
soziale Beurteilung der Arbeitslosigkeit ein Punkt von außerordent-
licher Wichtigkeit. In einer Arbeitslosigkeit, die nur einige wenige
Tage dauert, ist noch nicht, wenigstens nicht ohne weiteres, etwas
bedrohliches zu erblicken. Erst wenn sich die Arbeitslosigkeit länger,
Wochen- und monatelang, hinzieht, führt sie zum wirtschaftlichen und
oft auch zum moralischen verfall der Familie.

Ls ist daher ungemein wichtig, zu wissen, wie lange die Arbeits-
losigkeit im Durchschnitt dauert. An umfassenden Erhebungen fehlt
es hierüber freilich noch. Allgemeine Arbeitslosenzählungen sind bis-
her überhaupt erst ganz vereinzelt vorgenommen worden. Das
Deutsche Reich hat im Jahre 1895 zuerst von allen Industriestaaten
der Welt eine solche Zählung veranstaltet, und zwar gleich Zwei-
Wal, einmal im Sommer im Zusammenhang mit der Berufszählung,
Und zum anderen im Winter im Zusammenhang mit der Volkszäh-
lung. In bezug auf die Dauer der Arbeitslosigkeit hatten diese Er-
hebungen folgendes Ergebnis:

		Arbeitslose		
Dauer der Arbeitslosigkeit	absolut		in Prozent	
am Zahltage		14. VI.	2. XII.	14. VI.	2. XII.
seit I Tage		2 104	15 791	1,17	2,85
„	2— 7 Tagen . ■ ■ •	17 471	70 589	9,76	12,75
.	8—14	„	....	39 659	155 206	22,16	28,03
„ 15—28	„	....	19 782	98 180	11,05	17,74
, 29-90	„	....	39 398	132 810	22,01	23,99
, 91 und mehr Tagen	25 256	39 051	14,11	7,05
unbekannt		35 334	42 013	19,74	7,59
Summa	179 004	553 640	100	100

Die Ursachen bet Erhaltung bes Kleinbetriebs

137

werde? — Das würde wegen der großen Rosten des Hin- und Rück-
transportes eine Verschwendung sein. Die Landwirte städtearmer
agrarischer Bezirke handeln daher durchaus richtig, wenn sie den
kleinen Mühlenbetrieben auf dem Lande trotz ihrer rückständigen
Technik ihre Rufträge zuwenden.

Nicht anders als in Deutschland ist es in dieser Beziehung übrigens
auch in Amerika, dessen Verhältnisse gern so dargestellt werden, als
ob dort überall nur nach den rationellsten Produktionsmethoden
gearbeitet werde. Nlan würde sich von dem amerikanischen Mühlen-
gewerbe ein ganz falsches Bild machen, wenn man annehmen wollte,
es gebe in ihm nur Riesendampfmühlen modernster Art, die für
die denkbar größte Leistungsfähigkeit eingerichtet seien. Man höre
R. tDieöenfctö32);

„ITTit betn Begriff bet amerikanischen mühleninbustrie verbindet man fast
durchgängig die Vorstellung eines Gewerbes, in dem es Kleinbetriebe
nicht gibt, dem die riesigen mehlfabriken von St. Paul-lMnneapolis durch-
aus bas Gepräge aufdrücken. Das ist ja auch insofern richtig, als in der
Tat der internationale Mehlhanbel lediglich durch die Großunternehmungen
berührt wird. . . . Der innere Konsum wird aber auch in Amerika keines-
wegs von den Riesenmühlen beherrscht- auf dessen Befriedigung gehen
vielmehr auch dort vor allem die kleineren Betriebe aus, und namentlich
in den Produktionsgebieten selbst finden wir noch immer kleine Kunden-
mühlen im Existenzkampf gegen das Eindringen der kjandelsmühlen. Die
Entfernungen, die das Rohprodukt zur nächsten Großmühle und das Mehl
von dort zurück zur einzelnen Farm zurückzulegen hat, find immer noch
zu groß und geben der kleinen Lohnmühle, die in unmittelbarer Nachbar-
schaft dem Farmer sein Korn vermahlt, einen beträchtlichen Vorsprung. Un-
ter den 13 188 Weizenmühlen, die der Zensus von 1900 gezählt hat, er.
heben sich nur 138 zu einer Jahresleistung von 100 000 Barrels und
darüber, dagegen verbleiben 1655 Werke unter 100 Barrels jährlicher
Vermahlung und weitere 3870 erreichen nicht 1000 Barrels, von den
26 258 wühlen aller Rrt sind nur 2620 reine ksandelsmühlen, dagegen
nicht weniger als 14905 reine Lohnmühlen."

ähnliches wie für die Müllerei gilt für zahlreiche andere Gs-

32) 3n betn von Prof. E. von Ejalte herausgegebenen Sammelband:
..Amerika", 1905, S. 184.

150

II, 3, B. Die Leistungsfähigkeit des Sozialismus

oder genauer gesagt, von dem Maße, in dem das durchschnittliche
Volkseinkommen über das Existenzminimum hinausragt. Nur das,
was nicht unbedingt zur Friftung des Lebens gebraucht wird, kann
denkbarerweise überhaupt gespart werden. Die Rapitalbildung in
einem Lande ist somit auch in sehr maßgebender weise mit abhängig
von der Größe des Produktionsertrags. Damit kommen wir zu der
zweiten vorhin aufgeworfenen Frage, der Frage, wie sich im Sozial-
staate die durchschnittliche Arbeitsleistung gestalten wird.

II. Die Befürchtung liegt ja sehr nahe, daß beim sozialistischen
Rechtestem die Arbeitsleistung und damit die Gesamthöhe des
Produktionsertrags stark zurückgehen, weil hier der Arbeiter gar kein
Interesse mehr daran hat, sein Bestes zu leisten.	|

Viesen naheliegenden Einwand haben nachdenkliche Sozialisten
allerdings damit abzuwehren gesucht, daß sie auf die Anwendbarkeit
der Akkordlöhnung und ähnlicher Lohnberechnungsmethoden auch im
sozialistischen Staate verweisen. Ihr Gedankengang ist der folgende:
Auch heute schon befindet sich die große Masse der Bevölkerung gar
nicht mehr selbst im Besitz der Produktionsmittel, sie sind gar nicht
mehr Eigentümer, die für eigene Rechnung und Gefahr produzieren,
sondern sie sind Lohnarbeiter. Dieselben Mittel nun aber, die heute
angewendet werden, um die Lohnarbeiter am Ertrag ihrer Arbeit
zu interessieren, lassen sich ebenso auch und mit der gleichen Aussicht
auf Erfolg in einem sozialistischen Staat anwenden. Bei diesem Ge-
dankengang werden aber zwei wichtige Punkte übersehen:

I. Ls ist auch heute nicht möglich, auf allen Gebieten das, was die selb-
ständige Produktion für eigene Rechnung und Gefahr leistet, durch den j
Stücklohn und ähnliche Löhnungsmethoden zu ersetzen. Und zwar
ist als das hauptsächlichste Produktionsgebiet, wo die Akkordlöhnung
nicht das gleiche zu leisten vermag wie die Produktion für eigene
Rechnung und Gefahr der Produzenten, die Landwirtschaft
zu nennen. Die Landwirtschaft hat sozusagen eine angeborene Vor-
liebe für die individualistische Wirtschaftsordnung und fetzt allen
sozialistischen Experimenten einen hartnäckigen widerstand entge-

124

11,2. Die Arbeitslosigkeit

formuliert hat: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Frei-
heit zugleich versprechen, sind entweder Phantasten oder Lharlatane."

Über doch beruhen die Erfolge des modernen Sozialismus zum
großen Teil darauf, daß er vor der Seele seiner Anhänger das Bild
eines Zukunftsstaates hat entstehen lassen, in dem das heute geltende
Maß von wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit mit einer Einkommens-
verteilung, die nur den Wert der geleisteten Arbeit als Maßstab gel-
ten läßt, vereinigt ist. Auf dem Papier ist es ja immer leicht, Ge-
sellschaftsordnungen zu entwerfen, in denen die Elemente entge-
gengesetzter sozialer Systeme zu neuen Gebilden kombiniert werden
— es fragt sich nur, ob die Wirklichkeit den Erfindern dieser sozialen
Luftschlösser den Gefallen tun wird, sich nach ihren Phantasien zu
richten. Wer auch nur eine Spur von soziologischer Einsicht in
die notwendigen Ronsequenzen der verschiedenen sozialen Systeme
besitzt, der weiß, daß der Sozialismus hier unerfüllbaren Traum-
bildern nachjagt. Das Problem, eine sozialistische Gesellschaftsord-
nung zu ersinnen, bei der das heutige Maß von wirtschaftlicher
Freiheit, insbesondere die Freiheit des Konsums und die der Ar-
beit, aufrechterhalten bleibt, ist prinzipiell unlösbar. Es ist ebenso
unlösbar, wie das Problem der Konstruktion eines Perpetuum mo-
bile in der Mechanik ein unlösbares Problem geblieben ist. „Es
erscheint hart, aber das Leben ist so hart, uns zu zwingen, überall
Nachteile mit Vorteilen in den Kauf nehmen zu müssen. Sn der
heutigen freien Wirtschaftsordnung haben wir die Freiheit der Be-
darfsdeckung, mit ihren schädlichen Folgen müssen wir uns abzu-
sinken suchen, Sn der sozialistischen wird uns die Sicherheit und
Regelmäßigkeit des Linkommenbezugs versprochen, dafür müssen wir
es uns gefallen lassen, wie Mönche und Soldaten behandelt
zu werden."?')

Manchmal dämmert natürlich auch den Sozialisten die Erkenntnis,
daß in der fehlenden wirtschaftlichen Freiheit der schwache Punkt
ihres Gesellschaftsideals liegt. Sie suchen dann aber die Sache mög-

27)	tv. ksasbach, Moderne vcmokratle, S. 372.

Vas rassische Beispiel

167

Der Hauptgrund aber für diese trostlose wirtschaftliche Lage der
russischen Industrie ist, wie zahlreiche Berichterstatter übereinstim-
mend hervorheben, der Rückgang der Arbeitsleistung. Sie ist auf
die Hälfte, ja ein vritteil und weniger des früheren Standes ge-
j funken. Verkürzung der Arbeitszeit, Abschaffung der Akkordlöhnung,
Aufhören der Disziplin in den Fabrikbetrieben, allgemeine Arbeits-
unwilligkeil der Arbeiter usw. haben mit vereinten Rräften dies

Ergebnis hervorgebracht. Was wollen die kleinen Ersparnisse an
Produktionskosten, welche eine Sozialisierung vielleicht in manchen

Fällen durch größere Zentralisation der Produktion sowie durch
ihre Vereinheitlichung (Normalisierung) zu erreichen vermag, be-
sagen gegenüber einem solchen katastrophalen Rückgang der Arbeits-
leistung? Die Mittel, um unter diesen Umständen den Betrieb über-
haupt noch fortzusetzen, verschafft sich die bolschewistische Regierung
nur mit Hilfe der Rotenpcesse, denn ihre Steuereinnahmen reichen
nicht entfernt aus, um auch noch das Defizit der Industrie zu decken.
Diese sogenannte sozialistische Regierung hält sich also nur mit Hilfe
/ einer Finanzmethode am Leben, die für gewöhnlich als eine Entartung
der kapitalistischen Finanzwirtschaft betrachtet wird. Es liegt auf
der Hand, daß diese parasitische Existenz der russischen Industrie
nicht von Dauer sein kann. Und es ist auch nicht schwer vorauszu-
sehen, welcher das natürliche Ende dieses Sozialisierungsexperiments
fein wird. Der Staat wird einst froh sein, wenn er Privatunter-
nehmer findet, die ihm den Betrieb der heruntergewirtschafteten
Industrieunternehmungen abnehmen und sie wieder in die höhe
bringen. Oder aber den Staatsbetrieben wird nichts übrigbleiben,
als dieselben Methoden zur Hebung der Arbeitsleistung anzuwenden,

12 bis 15 Rubel verkauften, kostet jetzt an die 1000 Rubel." weitere Schil-
derungen des Bolschewismus im allgemeinen sowie seiner Wirtschaftspolitik
i im besonderen bieten Lombart, a. a. ®., 7. flufl, S. 143 ff., ferner Dimi--
trt) Gawronskq, Die Bilanz des russischen Bolschewismus, Berlin 1919;
Alfons paqnet, Im kommunistischen Rußland, Zena 1919; Max Hirsch,
berg, Bolschewismus. München 1919. vgl. auch $. Derlich, Der Rom-
munismus als Lehre vom tausendjährigen Reich, 1920, 5. 142 ff.

Die Familie als Grundlage der Gesellschaftsordnung

9

Rechtsinstitutionen. Wenn das Wirtschaftsleben auf der Grundlage
des individualistischen Rechtsprinzips in glatten und geordneten Gang
kommen soll, wenn bei den einzelnen die vom Staate stillschweigend
vorausgesetzte Bereitwilligkeit herrschen soll, auf dieser Basis zu
produzieren und in Güteraustausch zu treten, dann mutz der Staat un-
bedingt einmal das Institut des privaten Eigentums anerken-
nen, d. h. er mutz die einzelnen in ihren wohlerworbenen Eigentumsrech-
ten schützen, und zum anderen, er mutz ihnen grundsätzlich Freiheit
der wirtschaftlichen Bewegung gewähren. Privateigentum
und wirtschaftliche Bewegungsfreiheit find notwendige Ergänzungen
des individualistischen Rechtsprinzips. Die individualistische Wirt-
schaftsordnung kann ohne sie auf die Dauer nicht bestehen.

Der Gedanke von der Unentbehrlichkeit des Privateigentums für
die heutige Wirtschaftsordnung hat manchmal einen etwas eigen-
tümlichen Ausdruck gefunden. Man hat von der „Heiligkeit des Pri-
vateigentums" gesprochen und wohl gar verlangt, der Institution des
Privateigentums sei ein besonderer strafrechtlicher Schutz gegen litera-
rische Angriffe zu gewähren. Solche Anschauungen haben auf sozia-
listischer Seite nicht ohne Grund lebhaften Anstotz erregt. Es ist aber
doch nicht schwer zu erkennen, welcher an sich durchaus zutreffende
Gedanke mit dieser wenig glücklichen Formulierung zum Ausdruck ge-
bracht werden soll, hinter der ungeschickten Behauptung von der
Heiligkeit des Eigentums verbirgt sich im Grunde nur die richtige
Erkenntnis, datz der Schutz des Privateigentums nicht um der ein-
zelnen Eigentümer willen notwendig ist, sondern datz er in der heu-
tigen Wirtschaftsordnung um der Volksgesamtheit willen unentbehr-
lich ist. Ohne die Erfüllung dieser Vorbedingung ist die Aufrecht-
erhaltung eines geordneten Wirtschaftslebens, zumal in einem Zu-
stande mit Arbeitsteilung und Tauschverkehr, ein Ding der Un-
möglichkeit. wird die Sicherheit des Privateigentums in Frage ge-
stellt — und das kann nicht nur durch Kaub und Plünderung, son-
dern auch durch konfiskatorische Maßnahmen geschehen, die sich in
scheinbar geordneten Formen vollziehen,- man denke an die Wir-

22

I, 2. Lrwerbswirtschaft und Konsumgenossenschaft

der Schmied, waren nicht gleich von Anfang an selbständige Ge-
werbetreibende im modernen Sinne. Sie ließen sich nicht auf eigene
Rechnung und Gefahr in einem Dorfe nieder und verdienten sich
ihren Lebensunterhalt in der Meise, daß sie für die Ausführung ein-
zelner Arbeiten von ihren Auftraggebern stückweise bezahlt wurden,
sondern sie hatten anfänglich vielfach den Charakter von An-
gestellten der Gemeinde. Die Gemeinde gewährte ihnen ihren
Lebensunterhalt, und sie waren dafür zur Verrichtung der vorkom-
menden Arbeiten ihres Fachs verpflichtet. Die einzelnen Dauern
trugen zu ihrem Lebensunterhalt gewöhnlich nach der Größe ihres
Besitzes bei, hauptsächlich durch bestimmte Abgaben in Rorn, und
erwarben damit ein Anrecht auf ihre Leistungen. Die Schmiedewerk-
stätte gehörte bei diesem Zustand meist der Dorfgemeinde, und der
Schmied würde in sie gegen die Verpflichtung zu guter Instand-
haltung für eine bestimmte Zeit als Verwalter eingesetzt. In ähn-
licher Meise sind in vielen Gegenden die ersten Mind- und Masser-
mühlen, die während des Mittelalters angelegt wurden, genossen-
schaftliche Gründungen gewesen, auf denen die einzelnen Lauern
selbst ihr Getreide mahlten oder von einem Unecht mahlen ließen.
Analoge Einrichtungen bilden die Gemeindebacköfen und die öffent-
lichen Brauhäuser, die Reih um von den Gemeindemitgliedern be-
nutzt werden.

Gleichviel aber, welches die ersten Anfänge dieser Entwicklung
waren, nach einiger Zeit finden wir regelmäßig den Zustand herr-
schend werden, daß die in Frage stehenden gewerblichen Arbeiten
von dritten Personen auf eigene Rechnung übernommen und diese
dritten Personen für ihre Arbeit stückweise bezahlt werden. Die an-
fänglichen Gemeindeangestellten oder Genossenschaftsbeamten ver-
wandeln sich damit in wirkliche Gewerbetreibende, und aus den ge-
nossenschaftlichen Produktionsanlagen werden Gewerbebetriebe in
dem Sinne, wie wir das Wort heute verstehen, d. h. wirtschaften,
die durch die entgeltliche Tätigkeit für fremden Bedarf einen Uber-
schuß zu erzielen, zum mindesten den eigenen Lebensunterhalt zu

94	II, 1. Das arbeitslose Einkommen

knapp, weil die Arbeit knapp ist, und zur Anfertigung der konkreten
Kapitalgüter, der Maschinen, Schiffe, Hochofenanlagen, Häuser usw.
Arbeit gebraucht wird, sondern es ist knapp, weil zur Vermehrung
des Kapitals einer Gesellschaft von der wirtschaftenden Menschheit,
und zwar ganz ohne Rücksicht auf die Rechtsordnung, in der sie
lebt, außer der Arbeit, welche die Anfertigung der Rapitalgüter er-
fordert, noch ein zweites wirtschaftliches Opfer zu bringen ist, nämlich
eine Einschränkung des laufenden Konsums, ein Genußaufschub, ein
Sparen, oder wie man es bezeichnen will. Dieses Opfer kann aber
in jeder Wirtschaftsperiode stets nur in beschränktem Maße gebracht
werden. Venn bei der Einschränkung des laufenden Konsums lassen
sich gewisse Grenzen nicht überschreiten. Die Ausdehnung des Kon-
sums und nicht seine Einschränkung ist doch das eigentliche Ziel der
menschlichen Wirtschaft. Durch die jährliche Vermehrung des Kapi-
tals ist daher bisher die Kapitalknappheit noch nie beseitigt worden.
Denn während das Angebot von Kapital zunahm, hat gleichzeitig
auch immer wieder der Kapitalbedarf infolge des Wachstums der 6e-
völkerung eine entsprechende Zunahme erfahren, und das Verhältnis
zwischen Bedarf und Deckung im ganzen ist infolgedessen ziemlich
unverändert geblieben.

Die Notwendigkeit des Kapitalzinses an sich wurzelt also in zwei
Tatsachen:

1.	Sn einer natürlichen Tatsache, die ganz unabhängig ist
von der jeweils geltenden Rechtsordnung des Wirtschaftslebens, näm-
lich in der andauernden, auf selbständigen Ursachen beruhenden
Knappheit des Kapitals.

2.	Sn einer sozialen Tatsache, in einer Einrichtung derRechts-
ordnung. Sn gewissem Sinne hat also der Sozialismus recht, wenn
er den Zins als eine Folgeerscheinung der heutigen Rechtsordnung
hinstellt. Aber zugleich springt der gewaltige Unterschied der ge-
wöhnlichen sozialistischen Auffassung des Zinses von der hier vor-
getragenen in die Augen. Rach sozialistischer Auffassung ist der Zins
nichts weiter als ein Abzug vom vollen Arbeitserträge, den der

7!

Kollektivismus und Kommunismus

| genießen können? Weshalb? Empfindet er gewöhnlich nicht
^ ^ne höhere Befriedigung bei seiner Arbeit, als diejenigen, die im
schweiße ihres Angesichts die gröbsten und schmutzigsten verrich-
' ^ngen auf sich nehmen müssen? Und nun soll ihr Anteil an den
! b°k ihnen gewonnenen Sachgütern verkürzt werden, um jenen neben
I ^r geistigen Freude auch noch sinnliche Vergnügen zu bereiten?

| Außerdem! wertvollere Erzeugnisse können gewöhnlich erst nach
| iiingerer Erziehung hervorgebracht werden. Auch diese wurde ihnen
I Weil. während die Armen an Geist sobald wie möglich zu geistloser
Arbeit angehalten werden."

6uf diese Einwände und Vorwürfe dürfte es den Vertretern der
! ^gierung in dem Parlament eines kollektivistischen Gemeinwesens
^vorausgesetzt. daß es diese veraltete Einrichtung dort noch gibt und
i die Massen es nicht vorziehen, den Staat auf einfacherem Wege zu
Agieren — sehr schwer werden, etwas Stichhaltiges zu erwidern.

Und der Schluß aus alledem? Der Kollektivismus, der so gern
Q's die höhere, die wissenschaftlichere Form des Sozialismus ge-
wiesen wird, ist in Wahrheit nur eine Halbheit. Der Kollektivis-
mus wird immer nur eine Form des Übergangs zum völligen Kom-
munismus sein können. Sobald man tiefer in die Dinge eindringt,
M>rd man unfehlbar zu dem Ergebnis kommen: Ls gibt nur eine
konsequente und in sich geschlossene Form des Sozialis-
mus. Vas ist der Kommunismus. Jeder Sozialismus, der
Mirklich Ernst machen will mit der Durchführung der sozialistischen
Zündsätze, wird schließlich — freiwillig oder gezwungen — beim
Kommunismus ankommen. Ls gibt auf dieser Bahn kein halten, Nkit
^rselben inneren Notwendigkeit, mit der das individualistische Ge-
^llschaftssqstem zum Kapitalismus führt, führt das sozialistische zum
Kommunismus. Insofern ist die Entwicklung, die wir jetzt innerhalb
' sozialistischen Bewegung erleben und die ja eben dadurch gekenn-
zeichnet ist, daß der einst al; ein großartiger Fortschritt gepriesene
Mlssenschaftliche Sozialismus kläglich zusammenbricht und vor dem
Kommunismus mit seinen primitiven Instinkten das Feld räumen

58

1,3. Unternehmung und Produktivgenossenschaft

schaftslebens im aristokratischen Sinne war zweifellos eine der stärk-
sten vorwärtstreibenden Kräfte der politischen Demokratie.

Nur eine Bemerkung noch zum Schluß!

Die Unternehmung verdankt ihre Überlegenheit, wie gezeigt, der
schärferen Scheidung zwischen leitender und ausführender Arbeit und
der besseren Disziplin, die in ihr herrschen. Selbstverständlich ist
aber bessere Disziplin nicht etwa gleichbedeutend mit hochfahrender
Behandlung der Lohnarbeiter. Im Gegenteil. In demjenigen Betrieb
wird die bessere Disziplin herrschen, in dem der Unternehmer, und vor
allem auch seine unteren Angestellten, es verstehen, ihre Unord-
nungen zu treffen, ohne in den Ton des kommandierenden Unter-
offiziers zu verfallen. Ohne Zweifel ist bisher auf diesem Gebiete
noch viel gesündigt worden. Zahlreiche Streiks sind vor dem Kriege
ausgebrochen, nicht weil die Urbeiter höheren Lohn oder kür-
zere Arbeitszeit haben wollten, diese Forderungen sind vielmehr
oft erst nachträglich erhoben worden, sondern weil die Urbeiter über
die Behandlung, die ihnen durch den Unternehmer oder noch häu-
figer durch Subalternbeamte der Unternehmung zuteil wurden, er-
regt waren. Fr. W. Foerster, der Vertreter der Pädagogik an
der Universität München, bemerkt im Hinblick hierauf durchaus zu-
treffend iS), daß wir für das moderne Wirtschaftsleben eine Fabrik-
und Bureaupädagogik brauchen, eine Unweisung, die Ungestellten
und Urbeiter richtig zu behandeln. Diejenige Aufgabe des Unterneh-
mers, die man gewöhnlich als Betriebsleitung bezeichnet, besteht
ja in Wahrheit zum großen Teil in Menschenleitung. Für
diese Aufgabe ist der Unternehmer oft aber nur äußerst mangel-
haft vorbereitet, wenn er nicht schon von Natur zufällig für sie
mit den nötigen Anlagen ausgestattet ist. Und doch stellt die Aufgabe,
einen Großbetrieb so zu leiten, daß nicht zwischen der Arbeiterschaft
und der Werkleitung unnötige Reibungen und Differenzen entstehen,
sehr große Anforderungen an den Takt und die Menschenkenntnis
des Unternehmers und aller Beamten der Unternehmung. In 3u-

13)	politische Ethik und politische Pädagogik, 2. stuft., S. 41.