Bass — Die Bevölkerungsrerhaltnisse der Erde 13 Beginnen wir mit China. Dessen Geschichte reicht bis 2600 v. Ohr. zurück. Leider sind mir statistische Zahlen nur bezüglich der letzten 170 Jahre bekannt. Nach Sakharow zählte das ganze Reich 1749 177 Millionen Einwohner 1780 ......... 277 1812 ..........360 1852 ...... 420 » > Die Bevölkerung hatte sich also in diesen 100 Jahren nahezu um das 2Y2fache vermehrt. Da in den letzten Jahrzehnten viele Millionen durch Überschwemmungen, Aufstände und Hungersnöte zugrunde gegangen sind, hat die Volksvermehrnng eine Zeitlang stagniert, ja Rückschläge erlitten. Die Volkszählung 1910 ergab 329'6 Millionen. Die neuesten Angaben lauten auf 351 Millionen Menschen, das ist mehr als ein Fünftel des ganzen Menschengeschlechtes. Die Übervölkerung zwingt trotz der ausgesprochenen Liebe für die Heimat zur Auswanderung. Wie stark die Heimatliebe ist, zeigt der Umstand, daß der ausgewanderte Chinese, wenn er schon nicht in sein Land zurück- kehren kann, wenigstens in heimatlicher Erde begraben sein will. Deren Zusehub ins Ausland ist daher ein lukratives Handels- geschäft. In Niederländisch-Indien allein wohnen zirka 4 Millionen Chinesen, auch sonst sind sie in Indien usw. sehr verbreitet. Nordamerika hat bekanntlich wegen Überflutung durch chinesische Einwanderer Abwehrverfügungen getroffen. Charakteristisch ist, daß in China chronisch Hungersnöte auftreten, weshalb die Regierung, um rechtzeitig helfen zu können, überall Getreidespeicher angelegt hat. Wegen der dichten Bevölkerung ist das Land in den frucht- baren Ebenen aufs äußerste parzelliert worden. Eine Familie von fünf Personen lebt dort von 1 bis 2 Im Ackerboden. Der Be- darf nach solchem zwang zu rücksichtsloser Entwaldung. Da sich die dicht bevölkerten Gebiete schon seit Jahrhunderten nicht Europäische Kolonisation 47 dem die am dichtesten bevölkerten Länder stehen, ist offenbar noch viel wichtiger. Im Durchschnitt der oben angegebenen Zahlen ergibt sich ein Hektarertrag von nur 12 hl., das heißt, die geringe Leistung des großen Rußland drückt den europäischen Durchschnitt auf ein Drittel des belgischen herab. Wenn es gelänge, die Intensität der Bewirtschaftung in allen Ländern auf die gleiche Stufe zu heben, die Belgien erreicht hatte, könnte Europa, selbst wenn die Anbaufläche nicht ver- größert würde, das Dreifache der V orkriegsproduktion an Getreide leisten. Das würde schon für einen erheblichen Bevölkerungs- zuwachs ausreiehen. Nun kommt aber dazu, daß die Vergröße- rung der Anbaufläche noch in recht weiten Grenzen möglich ist. Hickmanns Üniversal-Tasehenatlas, Seite 84, zeigt die Boden- verwertung in den europäischen Staaten in Prozenten der Ge- samtfläche. Man sieht, daß dieselbe naturgemäß je nach der physischen Beschaffenheit des Landes sehr verschieden ist. So hat z. B. Norwegen 71% unproduktive Fläche. Aber der Kultur- grad spielt auch eine große Rolle. Ohne uns auf die Möglichkeit einzulassen, unproduktive Flächen, wie z. B. Moorland, über das wir schon flüchtig sprachen, urbar zu machen, wollen wir hier nur vom Walde reden. Europa hat 28% Wald. Er verteilt sich sehr ungleich. Schweden hat 48%, das frühere europäische Ruß- land 39%) die Niederlande dagegen nur 8%, Dänemark 7%, Portugal 3%. An gut kultivierten Ländern, die etwa in der Mitte stehen, wollen wir Deutschland mit 26% und Frankreich mit 16% Bewaldung nennen. Nun läßt sich eine wünschenswerte Durchschnittsziff'er für Bewaldung wohl kaum festsetzen, da hier die Verschiedenheit der klimatischen und orographischen Ver- hältnisse in den einzelnen Ländern eine große Rolle spielt. Nehmen wir aber, um einen Rechnungsatz zu haben, an, daß sich die Dureh- schnittsbewaldung Europas ohne Schaden von den heutigen 28% auf 20% vermindern ließe, welche Ziffer etwa dem Mittel zwi- schen Deutschland und Frankreich entspricht, so würden noch 28 weniger 20 = 8% jetzigen Waldbodens der Kultur zugeführt werden können. Das wären 829.000 hm2 = 82*9 Millionen Hektar, welche Fläche über die Hälfte der jetzigen Anbaufläche an Getreide ausmacht. 38 Die Malthuslehre gehalten. Wir haben vielmehr früher gesehen, daß Europa in seiner Gesamtheit seine Autarkie längst verloren hat und von Übersee abhängig ist. Diese Abhängigkeit gerade Deutschlands hat leider der Weltkrieg nur zu deutlich bewiesen. Denn be- kanntlich sind die Mittelmächte vor allem durch den Hunger be- siegt worden. Auch ist nicht zu vergessen, daß, wie wir früher sahen, trotz der Steigerung der Produktion in der sogenannten Kulturwelt, die ungeheuren Gebiete Chinas und Indiens die Hun- gersnot nur zu gut kennen. Die Überschüsse Amerikas und der Kolonien wurden eben zum Großteil durch Europa in Anspruch genommen, so lange es zahlen konnte. Auch wird die Steigerung der landwirtschaftlichen Produk- tion auf beengtem Kaum, mögen ihr auch weite Grenzen gesteckt sein, doch einmal ein Ende finden müssen. Und wenn sie, der Notwendigkeit gehorchend, in ein krankhaftes Stadium der In- tensivierung getrieben werden muß, wird das nur zur Folge haben, daß der Landarbeiter ein ebenso überhastetes, nervenauf- reibendes Leben wird führen müssen, wie heute der Industrie- arbeiter, Das soziale Elend würde dann eben auch aufs Land übergreifen. Eine Grenze für das Anwachsen der Bevölkerung gibt es also trotz 'der tröstlichen Nachweise Delbrücks, und eine vernunft- gemäße Bevölkerungspolitik muß alle Mittel anwenden, um eine übermäßige Dichte der Bevölkerung zu vermeiden. 22 Die Bevölkerungsverhältnisse der Erde Ziffer von 449 Millionen bleibt, so würde es, wenn dann die ge- wohnte Zunahme von 0'88?/0 jährlich wieder beginnt, immerhin im Jahre 1940 schon 495 und 1950 schon 588 Millionen Ein- wohner haben, das heißt es hätte diese Ziffer um zirka 20 Jahre später erreicht als nach der Kalkulation vor dem Weltkriege. Wir haben früher 100 Einwohner pro Kulturquadratkilometer als Grenzwert für die Übervölkerung angenommen. Da Europa eine Kulturfläche von 5,285.640 km2 besitzt, entspräche dem eine Einwohnerzahl von 528 Millionen. Dieser]Zustand wird also schon zwischen den Jahren 1940 und 1950 eintreten, das heißt es würde dann in ganz Europa kein Land mehr geben, das über genügende Lebensmittelüberschüsse verfügt, um sie den übervölkerten Ge- bieten zuzuführen. Europa wäre dann, statt wie heute teilweise, gänzlich auf die Einfuhr aus fremden Weltteilen angewiesen. Um diese gegen heute so stark gesteigerte Einfuhr bezahlen zu können, müßte ganz Europa so hoch industriell entwickelt sein, als es heute England oder doch Deutschland ist. Das bedeutet aber, daß es in dieser Zeit mit einer ungeheuren Masse von Fabriksarbeitern angefüllt wäre, so daß die sozialen Verhältnisse sich überall ähnlich gestalten würden, wie heute in den ausge- sprochenen Industriegebieten. Wir wollen gerne hoffen, daß bis dahin gewaltige Fortschritte auf dem Wege zur Lösung der sozialen Frage gemacht sein werden. Ob es aber gelingen kann, das Los dieser Massen an industrieller Bevölkerung erträglich zu gestalten, wenn Europa in so hohem Maße auf die Einfuhr der Lebensmittel von aus- wärts angewiesen ist, erscheint mehr als fraglich. Auch ist es ungewiß, ob bis dahin die übrige Welt genügend fortgeschritten sein wird, um — noch dazu unter der Konkurrenz des mäch- tigen Amerika — einen ausreichend anfnahmsfähigen Markt für die Massen europäischer Industrieprodukte, die als Gegenwert für die Einfuhr der Nahrungsmittel abgesetzt werden müssen, zu bieten. Nichts ist also wahrscheinlicher als Absatzstockungen und als deren Folge Industrie- und soziale Krisen schwerster Art. Dazu kommt, daß natürlich auch in jener Zeit, ähnlich wie heute, Europa nicht gleichmäßig mit 100 Einwohnern pro Kulturq uadrat- kilometer besiedelt sein wird, sondern daß sich die Volksmassen nach wie vor in den eigentlichen Kulturgebieten stauen werden. Jtf 11 r 4 0 W 46 Europäische Kolonisation Für diese theoretische Untersuchung, die ja nichts anderes bezweckt, als aufzuzeigen, daß es ganz gut möglich wäre, wenigstens für einige kommende Generationen vorzusorgen, wenn statt einer Macht- und Haßpolitik eine vernunftgemäße Zusammenarbeit ein- treten würde, wollen wir die praktischen Bedenken zunächst bei- seite lassen. Setzen wir also voraus, daß es gelingen würde, ganz Europa zu intensivster Produktionsarbeit zu vereinen, und versuchen wir abzuschätzen, was auf diesem Wege zu erreichen wäre. Eine Zusammenstellung der Anbauflächen und Produktions- ergebnisse der Hauptgetreidearten in den wichtigsten Staaten Europas vom Jahre 1901 bietet Meyers Konversationslexikon, Band 7, S. 764 und 765. Ordnen wir die Staaten nach den von ihnen erzielten Hektar- erträgen, so erhalten wir folgende Zusammenstellung: Hektarertrag Anbaufläche Ernte 1901 in in in Hektolitern Hektar Hektolitern Belgien . . 35 705.000 25,300.000 Niederlande 32 447.000 14,300.000 Dänemark 30 802.000 24.600.000 Schweden 27 1,532.000 41,364.000 Norwegen 27 155.000 4,185.000 Großbritannien und Irland 27 3,352.000 90,900.000 Deutschland 24 13,845.000 342,000.000 Frankreich 17 11,982.000 210,300.000 Das frühere Österreich . . 16 5,900.000 99,000.000 Das frühere Ungarn . . . 16 6,477.000 106,500.000 Rumänien 15 2,448000 38,800.000 Italien 9-6 5.501.000 53,100.000 Das frühere europäische Rußland 8-8 78,095.000 691.900.000 Summe . . . — 131,241.000 1.742,249.000 Es fällt zunächst auf, wie verschieden die Hektarerträge sind. Gewiß haben daran die klimatischen Verhältnisse und die Güte des Bodens ihren Anteil. Aber der Einfluß der landwirt- schaftlichen Bildungsstufe und der Zwang zu produzieren, unter Das Städtewesen 29 lernt hat, ist in der neuesten Zeit an die Stelle der »Landflucht« der umgekehrte Wunsch getreten: Alles trachtet von der Stadt weg aufs Land zu kommen, das seinen Mann besser nährt. Diese Verhältnisse werden in einem Artikel der »Deutschösterreiehischen Wirtschaftszeitung für Stadt und Land« vom 15. Mai 1921, der sich »Stadtflucht und Landarbeit« betitelt, sehr klar geschildert. Ich lasse ihn deshalb hier auszugsweise folgen: »Es war einmal ..., so beginnt das Märchen. Wie ein Märchen mutet es uns an, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, da der Landwirt Überfluß an landwirtschaftlichen Hilfskräften hatte. Das war vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren der Fall, weshalb von den Dörfern Tausende rüstiger Arme in die Städte und Industrie- orte abwanderten, um sich dort ein auskömmliches Leben zu sichern. Der Landwirt konnte in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oft nur seinen Söhnen und Töchtern hinreichende Versorgung durch Arbeit geben. Die dünn bevölkerten Landstriche hatten einen verhältnismäßig ge- ringen Bedarf an 'Menschen, ebenso die Städte, die damals oft kaum die Hälfte der heutigen Bevölkerungszahl aufwiesen. Und so war es vielfach Regel, daß nicht nur die Söhne und Töchter der Kleinhäusler und Inwohner der Stadt den Fabriksorten zu- strebten, sondern auch mancher Bauerssohn und manche Bauers- tochter, die in der Stadt das Glück zu erfassen hofften, das freilich aber in den allermeisten Fällen ausblieb . .. Der Leutemangel in der Landwirtschaft war aber schon vor dem Weltkriege sehr fühlbar. Die Abwanderung in die Städte und Industrieorte nahm von Jahr zu Jahr zu. Man suchte der Landflucht durch allerlei Mittel und Mittelehen abzuhelfen, die aber zumeist versagten. Warum, ist leicht gesagt. Die Landwirtschaft war eben damals nicht so rentabel, als daß sie die Arbeitskräfte hätte besonders anlocken können. Mancher Bauerssohn und mancher Bauersknecht und landwirtschaftliche Arbeiter blieb deshalb auch nach Ableistung seines dreijährigen militärischen Dienstes in der Stadt als Tramwaybediensteter, als Ämtsdiener u. dgl. ,hängend Man betrachte nur auch heute noch die strammen Gestalten vieler Tramwaysehaffner, Briefträger, Portiere usw. und man wird unschwer das echt ,agrarische1 Ge- haben bei gar vielen herausfinden. Die Malthuslehre. Die Volkszahl und deren Änderungen sind nicht nur für das Leben des Staates und die Volkswohlfahrt von Wichtigkeit, sondern die Kenntnis derselben ist auch von hoher wissenschaft- licher Bedeutung. Infolgedessen hat sich im Laufe der Zeiten eine besondere Wissenschaft, die Bevölkerungslehre, gebildet. Sie zerfällt in 1. die Bevölkerungsstatistik, die sich mit der Zusammenstellung des einschlägigen statistischen Materials befaßt, 2. die Theorie der Bevölkerungslehre (Populationistik), welche die sich aus den statistischen Daten ergebenden Gesetzmäßigkeiten beleuchtet, und 3. die Bevölkerungspolitik, welche die Aufgaben be- handelt, die sich aus Statistik und Populationistik für das öffent- liche Leben, insbesondere für ein ordnendes Eingreifen der Staatsgewalt, ergeben. Die ersten Keime dieser Wissenszweige reichen bis ins Altertum zurück, indem man schon damals für Zwecke der poli- tischen Verwaltung, insbesondere der Besteuerung, die Volkszahl zu ermitteln trachtete. Mit fortschreitender politischer Entwicklung entstanden auch Listen über Geburten, Heiraten und Sterbefälle. Die mit Hilfe dieser Listen gewonnenen Erfahrungen verwendete man späten z. B. bei der Errichtung von Bentenanstalten. Seit dem 17. Jahrhundert gewannen diese Arbeiten immer mehr an wissenschaftlicher Vertiefung. Heute bilden sie ein wichtiges und umfangreiches Wissensgebiet. — Im Mittelalter war Europa allen Anzeichen nach wohl- bevölkert. Später trat jedoch entschieden Rückgang und Verfall ein (Spanien nach der Zeit der Araber, Italien während einiger Jahrhunderte, die Mongolen- und Ttirkenzeit in Osteuropa). In Deutschland hatte der Dreißigjährige Krieg die Be- völkerung um die Hälfte vermindert. (1618: 25 Millionen gegen Schlnßbetrachtung 55 (Mr. Boyden) im September, 1920 seine Ansichten in den Satz zusammen: »Bilden Sie die Vereinigten Staaten von Europa und es wird sieb für die Notlage aller eine Lösung finden.« In der heutigen politisch verworrenen Lage erscheinen solche Ideen freilich als Utopien. Klar ist aber, daß Europa, wenn es weiter eine Rolle in der Weltwirtschaft spielen will, nicht in dem heutigen balkanisierten Zustande bleiben kann. Aber mit diesen Fragen, so schwierig sie sein mögen, ist die Aufgabe, die den Lenkern der Weltgeschicke heute gestellt ist, keineswegs erschöpft. Wenn es gelingen soll, die Menschheit ohne neuerliche Welt- kriege, gegen die der vergangene vielleicht nur ein Kinderspiel war, durch die kommenden Jahrzehnte hindurch zu steuern, so steht nichts geringeres bevor als eine Aufteilung der Erde, die dem Expansionsbedürfnis der Übervölkerungsgebiete Europa, Japan, China, Indien Rechnung trägt. All diesen muß ent- sprechende Entwicklungsfreiheit gewahrt werden, was nur durch eine loyale Abgrenzung der Interessensphären geschehen könnte. Amerika haben wir hier deswegen nicht genannt, weil es über- großen Entwicklungsraum auf dem eigenen Kontinent hat. Aber seine Handelsinteressen und die überragende Machtstellung, die es heute einnimmt, werden ihm dabei eine gewichtige, wenn nicht die Hauptstimme, einräumen. Soviel über die Gegenwart. Wir haben aber unsere Untersuchungen auch weit in die Zukunft ausgedehnt und müssen nun kurz deren Ergebnisse rekapitulieren. Bei Betrachtung der Volksvermehrung fanden wir, daß die Bevölkerung der Erde heute bereits eine Zahl erreicht hat, die bei andauernder Verdopplung der Kulturmensehheit pro Jahrhundert rasch ins Gigantische steigt, wenn nicht Naturkatastrophen oder eine bewußte Eindämmung der Vermehrung Abhilfe bringen. Unter dem Gesichtspunkte, daß die jetzige Generation nur für das Nächstliegende vordenken kann und die Lösung der Zukunftsfrage kommenden Geschlechtern überlassen muß, zogen wir daraus nur die Konsequenz, daß wir eine weitgehende Produktionssteigerung und einen Ausgleich in der Be- völkerungsdichte anzubahnen haben. Wir erörterten daher, 12 Die Bevölkerungsverhältnisse der Erde genügender wirtschaftlicher Rührigkeit und Tatkraft, so bildet sich eine Übervölkerung. Allgemein spricht man von einer solchen, wenn das eigene Wohngebiet nicht die genügenden Nahrungsmittel liefern kann. Da aber auch in einem solchen Falle eine sehr dichte Bevölke- rung nicht allein ausreichend ihren Unterhalt finden, sondern selbst in Wohlstand leben kann, so bezeichnet man als Über- völkerung im eigentlichen Sinne eine Bevölkerung, die so dicht ist, daß ein Teil derselben keine Gelegenheit zu genügendem Erwerb finden kann. Allgemeine Merkmale derselben sind eine verhältnismäßig große Zahl von Armen, starke Auswanderung, Vergehen gegen das Eigentum usw. Nun ist der Spielraum der Ernährungsmöglichkeit ein verschiedener, je nach den natürlichen Verhältnissen, nach dem Stande der Kultur und des Verkehrs. Hienach ist der Begriff der Übervölkerung ein durchaus relativer. Eine gewisse Dichte der Bevölkerung mit städtischen Zentral- punkten ist sogar Vorbedingung für die Entwicklung der Kultur. Bei zu dünner Bevölkerung können wichtige geistige und wirt- schaftliche Kräfte überhaupt nicht zur Ausbildung kommen. Innerhalb gewisser Grenzen ist daher auch die Dichtigkeit der Bevölkerung ein Maßstab für die Kulturhöhe derselben. Doch ist bei einer Vergleichung verschiedener Ländergebiete auf die Be- schaffenheit des Wohnraumes und auf die Art der auf demselben gebotenen Erwerbsbedingungen Rücksicht zu nehmen. Die Zahlen an und für sich, insbesondere Durchschnittszahlen großer Länder, gewähren zur Vergleichung kein richtiges Bild. Bei Ländern mit großen unbewohnbaren Flächen ergibt leicht die Durchschnitts- zahl ein je nach dem Betrachtungsstandpunkte zu günstiges oder ungünstiges, die allgemeine Untersuchung von Stadtgebieten (London, Paris, Insel Malta), die in engster Beziehung zu einem großen Hinterlande stehen und erst mit demselben ein wirtschaft- liches Ganzes bilden, ebenfalls ein falsches Bild. Ich habe diese allgemeinen Gesichtspunkte hier angeführt, um bei Betrachtung der früher erwähnten Übervölkerungsgebiete der Erde ja nicht einseitig zu werden. Wenige Daten werden aber genügen, um darzutun, daß diese Gebiete nicht nur die dichtesten Volkszahlen aufweisen, sondern daß sie auch alle anderen Merkmale der Übervölkerung zeigen. 48 Europäische Kolonisation Millionen Hektoliter Nun betrug die Getreideernte der wichtigsten euro- päischen Staaten im Jahre 1901 ....................... 1742 Wenn es gelänge, den Hektarertrag überall auf 35 Hektoliter (Belgien) zu steigern, würde man bei gleich- bleibender Anbaufläche ernten ........................ 4593 Durch Waldrodung könnte die Anbäufläche um 82'9 Millionen Hektar gesteigert werden, so daß sie statt 1312 Millionen Hektar 214‘1 Millionen Hektar betrüge. Diese würde bei einem Ertrag von 35 Hektoliter pro Hektar eine Ernte ergeben von ............... ;•. . 7494 Versuchen wir nun, einen beiläufigen Überblick zu gewinnen, für welche Bevölkerungszahl diese gesteigerte Produktion aus- reichen würde. Das ist natürlich nicht so einfach. Wenn wir uns aber die Sache erleichtern, indem wir uns nur an das Haupt- nahrungsmittel, das Getreide, halten, läßt sich immerhin eine beiläufige Kalkulation aufstellen. Nach den mir eben zur Verfügung stehenden Daten be- rechnete sich die Getreideernte ganz Europas (in den eben ge- machten Angaben fehlen einige Staaten) an Weizen, Roggen, Gerste, Hafer in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege auf etwa 1827 Millionen Hektoliter. Nach der Größe ihrer Ge- treideeinfuhr rangierten die Staaten folgend: Großbritannien, Deutschland, Belgien, Niederlande, Frankreich, Dänemark, Schweiz, Italien, Norwegen, Spanien, Portugal, Schweden, Griechenland. Am wenigsten Einfuhr bedurfte Österreich-Ungarn. Diese Staaten führten in Summe etwa 286 Millionen Hektoliter ein; da ihr Gesamtverbrauch etwa 1777 Millionen Hektoliter jährlich betrug, machte die Einfuhr zirka 15°/0 des Gesamtverbrauohes aus. Rußland, Rumänien, Bulgarien und Serbien erzeugten mehr Getreide als sie brauchten. Sie führten zusammen zirka 141 Mil- lionen Hektoliter, und zwar hauptsächlich in die europäischen Bedarfsstaaten aus, das sind 7% des Einfuhrbedarfes derselben; zirka 145 Millionen Hektoliter, das sind 8% der Einfuhr kamen aus außereuropäischen Ländern. Es würde also damals _ genügt haben, wenn man die Getreideernte Europas um 8% hätte steigern können, um ÜBERVÖLKERTES LAND EINE BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE STUDIE ÜBER GEGENWART UND ZUKUNFT EUROPAS OTTOKAR LANDWEHR GENERALMAJOR D, R, 1923 WIEN UND LEIPZIG WILHELM BRAUMÜLLER UNIVEESITATS-VERLAGSBUCHHANDLUNG GES. M. I!. H. Die Bevölkervmgsverhältnisse der Erde 21 Der Krieg hat diese Entwicklung ins Stocken gebracht. In den Bulletins der »Studiengesellschaft für soziale Folgen des Weltkrieges in Kopenhagen« werden die Mensehenverluste durch den Krieg, worunter die Summe der Kriegstoten, der Plusdiffe- renz an Todesfällen unter der Zivilbevölkerung und der Minus- differenz an Geburten zu verstehen ist, für ganz Europa mit 35 Millionen angegeben. Die größte Einwohnerzahl dürfte der Welt- teil im Jahre 1915 mit schätzungsweise 470 Millionen gehabt haben. Gegenwärtig dürfte man der Wirklichkeit nahekommen, wenn man 449 Millionen rechnet. Derzeit haben nahezu alle am Kriege beteiligt gewesenen europäischen Staaten eine passive Bevölkerungsbilanz. Die stärksten Sterbeüberschüsse zeigten 1918 Frankreich (15°/oo) und Deutschland (1B%0). Auch die Sukzessionsstaaten des Zarenreiches und der Österreichisch-ungarischen Monarchie zeigen hohe Bevölkerungsabgänge. Weitaus günstiger steht es diesbezüglich in England und Italien. Diese Stockung der Be- völkerungszunahme dürfte infolge Fortdauer der Sterbetiber- schüsse und hoher Auswanderungsziffern noch einige Jahre an- halten. Gegenwärtig wächst die Bevölkerung nur in den wenigen nicht am Krieg beteiligt gewesenen Staaten, und zwar im ver- schiedenen Maße. Dieser Rückschlag ist aber keineswegs so hoch einzuschätzen, daß er das Bild, das wir uns bisher von den Bevölkerungsver- hältnissen Europas gemacht haben, wesentlich ändern würde. Ein ständiger Rückgang wäre nur zu erwarten, wenn die Lebensverhältnisse andauernd so schlecht bleiben würden, als sie in den ersten Nachkriegsjahren waren. Dies würde aber einen allgemeinen Kulturverfall Europas zur Voraussetzung haben. Wer an die Wiederkehr normaler Zeiten glaubt — und es sprechen doch viele Anzeichen dafür —, muß auch annehmen, daß die Bevölkerungszunahme in nicht zu ferner Zeit wieder beginnt. Dafür spricht auch die geschichtliche Analogie. JDenn vom Jahre 1800 bis 1835 nahm Europa trotz der Napoleonischen Kriege von 181 auf 245 Millionen Einwohner zu. Setzen wir aber sogar voraus, daß Europa im jetzigen De- zennium keine Zunahme erfährt, also bis 1930 auf der heutigen 4 Einleitung- Verliert es durch fortgesetzte Wirren seine Vormachtstellung-, so ist es auch wirtschaftlich zugrunde gerichtet und kann seinen Volksüberschuß nicht mehr erhalten, weil es die nötigen Ein- fuhren nicht bezahlen kann. Europäische Solidarität tut mehr denn je not, ja, da im heutigen Wirtschaftsleben Erschütterungen nicht lokal beschränkt werden können, sogar Solidarität aller Kulturnationen, wenigstens in den grundlegenden Fragen. Kur auf dieser Grundlage ist eine Lösung ohne ungeheure kriegerische Konflikte denkbar. Ich sage absichtlich »denkbar«. Ob auch »durchführbar«, ist eine Frage an den Genius der Menschheit. Innere Kolonisation. Nichts ist natürlicher, als daß man dem durch die steigende Bevölkerungszahl entstehenden Mehrverbrauch zunächst durch Steigerung der Produktion des eigenen Landes gerecht zu werden trachtet. Ebenso natürlich ist es, daß man, um den schädlichen Wirkungen von Volksanhäufungen auf engem Raum entgegen- zuarbeiten, bemüht sein muß, zunächst dünn besiedelte Strecken des eigenen Landes zu kolonisieren. Ich fasse hier unter der Be- zeichnung innere Kolonisation die Summe aller dieser Maßnahmen zusammen, gebrauche sie [also etwas weiter gefaßt. Denn ge- wöhnlich versteht man darunter nur die Maßnahmen zur Be- siedlung dünn bewohnter Gebiete des eigenen Landes. In diesem weiteren Sinne gehören schließlich auch alle Maßnahmen zur Hebung des Handels, der Industrie, des Verkehrswesens, der Energiewirtschaft usw. zur inneren Kolonisation. All diese Zweige wirken zusammen, um die Leistungs- fähigkeit des Staates zu heben. Auf diese Weise wurde es den dicht bevölkerten und hoch kultivierten Staaten Europas möglich, den Bedarf einer Bevölkerung zu bestreiten, deren Zahl die als nützlich erkannte (100 pro Kulturquadratkilometer) oft um ein vielfaches übersteigt. Die Bevölkerung solcher Länder lebt allerdings nur zum Teile von den im eigenen Land erzeugten Nahrungsmitteln. Einen Großteil ihres Bedarfes muß sie gegen Abgabe ihrer Industrie- produkte von auswärts einführen, wenn der betreffende Staat nicht in der heute ausnahmsweisen Lage ist, Tribute von anderen Staaten (Kolonien) zu beziehen. Eine Zusammenstellung der Ein- und Ausfuhrwerte pro Kopf der Bevölkerung für die wichtigsten Staaten der Erde bietet Hickmanns üniversaltaschenatlas von 1917, S. 50. Man 56 Schlußbetrachtung wie durch innere, durch europäische und durch Welt- kolonisation die Produktion gehoben, durch großzügige Aus- wanderung aus den übervölkerten Gebieten der Ausgleich der Bevölkerungsdichte eingeleitet werden könnte. Wiederholt betonten wir, daß diese Menschheitsfragen nicht durch den Einzelstaat, auch nicht durch ein europäisches Forum allein, sondern nur durch internationale Zusammenarbeit aller Kulturvölker der Erde gelöst werden können. Dieser Gedanke ist bekanntlich durchaus nicht neu. Das Emporbltihen der Weltwirtschaft wurde vielmehr vor dem Kriege vielfach durch internationale Vereinigungen gefördert. Wir er- innern diesbezüglich nur an den Weltpostverein, dasinternationale Bureau der Telegraphenverwaltungen, das Institut für internatio- nales Recht, die internationale Union zum Schutze des gewerb- lichen und literarischen Eigentums usw. Die Notwendigkeit, bei der Liquidierung des Weltkrieges die Stimmen aller daran Interessierten zu hören, ließ den »Völker- bund« entstehen. Er stellt heute, allerdings in sehr beschränktem Umfang und mit fraglicher Wirkung, eine Art Weltregierung dar. Inwieweit er sieh bewähren wird, ob er überhaupt von Dauer sein wird und ob ihm die Durchführung oder wenigstens die Anbahnung einer Lösung der in dieser Studie aufgeworfenen Menschheitsfragen zugemutet werden kann, ist eine offene Frage. Die Erinnerung an die nach den Napoleonischen Kriegen entstandene »heilige Allianz«, die ähnliche, wenn auch viel ein- fachere Aufgaben, aber trotzdem kurzen Bestand hatte, gibt nicht viel Hoffnung. Die Erkenntnis, daß dauernde internationale Zusammenarbeit nötig ist, hat eine ganze Reihe von privaten Vereinen und Ge- sellschaften entstehen lassen, die eine mehr oder minder erfolg- reiche Tätigkeit entfalten. — Wie dem auch sei — jedenfalls ist der Gedanke internationaler Zusammenarbeit auf dem Marsche. Ob er praktische Erfolge zeitigen wird, ist eine Menschheitsfrage von ernstester Bedeutung und hängt vor allem von dem Geist ab, in dem er angepackt wird. Solange Haß und Vergewaltigung die erste Geige spielen, ist an nützliche Resultate nicht zu denken. Abbau des Hasses und gegenseitiges Verstehenlernen sind das erste Erfordernis. 30 Das Städtewesen Heute fällt es wohl keinem Bauerssohn und keinem land- wirtschaftlichen Arbeiter mehr ein, der Stadt oder der Fabrik zuzustreben. Die Landwirtschaft nährt heute eben ihren Mann, und mit Sehnsucht blickt mancher kleine Beamte heute nach dem Bauernhöfe zurück, den er vor Jahren freiwillig verlassen hat. Unzweifelhaft geht heute der Zug der Bevölkerung in ent- gegengesetzter Richtung: Die Stadt flüchtet auf das Land. Mancher kleine Beamte und Geschäftsmann in der Stadt streben danach, auf dem Lande ein kleines Besitztum zu erwerben, um dann selbst ihren Kohl bauen zu können, selbst eine Ziege oder gar ein Schwein halten zu können und daneben auch Kleintierzucht zu treiben. Wer aber der Stadt nicht entrinnen kann, sucht sich wenigstens durch einen Schrebergarten einen Teil seines Gemüsebedarfes zu decken, und er ist glücklich, wenn er der Scholle einige Häuptel Salat, dann auch Spinat, Bohnen, Erbsen, Kohl und andere köst- liche Dinge abzuringen vermag ...» In Österreich hat also die Bevölkerung unter dem Zwang der Verhältnisse jenen Weg, den wir ihr nach dem Ergebnis unserer theoretischen Erörterungen anraten müßten, bereits be- treten. ' In anderen Ländern, die momentan nicht so hart leiden, wird die Überschätzung der industriellen Kultur vielleicht noch einige Zeit dauern. Aber auch sie werden früher oder später den Weg zur Scholle zurückfinden müssen. Es ist dies einer von den Rettungswegen, die wir in den folgenden Kapiteln besprechen wollen. Die Bevölkerungsverhältnisse der Erde 19 Krieg übervölkert waren, am stärksten von den Großstaaten Deutschland und Großbritannien. Unter 100 Einwohner hatten die Balkanstaaten, Rußland und Spanien. Diese großen Gebiete sind also noch sehr auf- nahmsfähig. Wenn wir die Kulturfläehe eines Staates mit 100 multi- plizieren, erhalten wir jene Einwohnerzahl, die nach unserer Voraussetzung für sein Gedeihen wünschenswert wäre. Machen wir diese Rechnung für die wichtigsten Staaten, so erhalten wir folgendes Bild; Sollte haben Millionen Einwohner Hatte faktisch Millionen Einwohner Also um Millionen Einwohner Großbritannien . . 2P4 456 24’2 zu viel Deutschland . . 35-2 60 24-8 » Italien . . 20-3 359 15-6 » > Das frühere Österreich . . 18-6 28-6 10-0 . > Frankreich . . 37 5 39-3 1-8 » » Spanien . . 29 7 19-6 10’ l zu wer Rußland . . 246-2 148-0 98-2 * Diese Betrachtungen sind wohl rein theoretische, weil sich natürlich an den bestehenden Verhältnissen nichts Grundlegendes ändern läßt. Sie sind aber insofern interessant, als sie mit aller Deutlichkeit zeigen, daß für jene Staaten, die keine Kolonien haben, nur erübrigt, zu trachten, daß sie ihren Menschenüberschuß in die menschenarmen Gebiete Rußlands, Spaniens und der Balkan- staaten oder nach Übersee abgeben können. Für das übervölkerte, seiner Kolonien verlustig gewordene Deutschland ist Rußland der natürliche Bundesgenosse, wenn sich erreichen läßt, daß es seinen Überschuß aufnimmt. Für die aus dem früheren Österreich entstandenen Nach- folgestaaten wäre von diesem Gesichtspunkte nichts natürlicher als der wirtschaftliche Zusammenschluß mit den dünner be- völkerten Nachbarstaaten, insbesondere Ungarn und den an- grenzenden Balkanstaaten. Wir werden hier an sehr wichtige Grundzüge der Bismarckschen Politik erinnert. 2* 6 Die Bevölkerungsverhiiltnisse der Erde Daß eine ständige Vermehrung stattfindet, ist zweifellos, wenn auch durch Rückschläge in einzelnen Gebieten diese Vermehrung manchmal verzögert wird. Die heutige Bevölkerung verteilt sich folgendermaßen auf die einzelnen Erdteile: Millionen pro Quadrat- kilometer Millionen Einwohner Quadrat- kilometer Fläche Europa . . . hat 449 auf 10-06 d. i. 45 Asien . . . . * 941 » 44-09 » » 21 Afrika . . . * 134 » 30-03 » » 4-4 Amerika . . » 212 * 38-65 » » 5-5 Australien 8-3 » 8-96 » 0-9 Die Gesamtzahl der Erdbewohner von 1744 Millionen verteilt sich — unter Vernachlässigung der Polargebiete — auf 13P79 Mil- lionen Quadratkilometer der festen Erdoberfläche, so daß die durchschnittliche Dichte 13 Menschen pro Quadratkilometer beträgt. Wir sehen also, daß Europa etwa doppelt so dicht als Asien, zehnmal so dicht als1 Afrika, neunmal so dicht als Amerika und fönfzigmai so dicht als Anstralien und Ozeanien besiedelt ist. Das Gesamtbild, das wir daraus erhalten, ist keineswegs das einer Übervölkerung im ganzen. Im Gegenteil, wenn wir be- denken, daß Europa mit seinen 45 Bewohnern pro Quadratkilo- meter bisher noch leben konnte, erscheint das nur halb so dicht besiedelte Asien noch sehr anfnahmsfähig, und die anderen Welt- teile, die. erst seit kurzem der Kultur erschlossen sind, noch in einem Anfangsstadium der Besiedlung. Wer sich ein Bild machen will, wie verhältnismäßig spärlich die Erde trotz des raschen Wachstums einiger Kulturzentren noch bevölkert ist, vergegenwärtige sich, daß, wenn mau vier Menschen auf jedem Quadratmeter der Eisdecke des Bodensees aufstellen würde, diese geringe Fläche (etwas über 500 km1) für die gesamte heutige Menschheit Platz bieten würde. (Siehe Damaschke; Die Bodenreform.) Allerdings hat die Erde heute immerhin schon eine Einwohner- zahl erreicht, die bei fortgesetztem Wachstum rasch zu ungeheuren Zahlen anwachsen wird. Doch darüber später. 36 Die Malthuslehre bestehe. Das ist aber in vielfacher Beziehung zweifellos der Fall. Eine verhältnismäßig dichte Bevölkerung ist die Voraussetzung für den Ausbau moderner Verkehrswege: Kanäle, Eisenbahnen usw., wodurch vielfach erst die Nutzbarmachung der Ernten von neuen Gebieten für die Unterhaltsmittel der Kulturmenschheit ermöo-- *■- hi licht wird. Eine verhältnismäßig dichte Bevölkerung ist ebenso die Voraussetzung für den Ausbau der großen technischen Hilfs- mittel, die es ermöglichen, altem Kulturboden die in der Ernte herausgenommenen Nährstoffe zu ersetzen. Die von der Natur gegebenen Vorbedingungen zu einem derartigen »verbesserten Kultursystem* aber erscheinen heute als praktisch unerschöpf- lich. Damaschke übergeht nun auf die Möglichkeit der ausge- dehnten Anwendung künstlicher Düngung (Kali, Phosphate, Stick- stoff) und meint daher, daß eine Abnahme der Ertragsfähigkeit des Bodens aus Mangel an Verbesserungsstoffen ausgeschlossen erscheine. »Mehr als alle Theorie«, sagt er weiter, »wiegt hier ein Wort der Praxis. Professor Delbrück hat als Rektor der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule im Jahre 1900 eine vielbeachtete Rede gehalten. Er wies darauf hin, daß sich die Bevölkerung auf dem Gebiete des Deutschen Reiches im 19. Jahr- hundert etwas mehr als verdoppelt, das Ergebnis der landwirt- schaftlichen Produktion in der gleichen Zeit aber verfünffacht habe. Die Ernte an Körnerfrüchten habe sich verdoppelt. Der Ertrag des Kartoffel- und Zuckerrübenanbaues, der noch im 18. Jahrhundert begonnen wurde, ist ein ausschließlicher Erfolg des 19. Jahrhunderts. Er gibt heute die gleiche Summe Nähr- stoff wie der Getreidebau. Demnach sei die landwirtschaftliche Produktion im Pflanzenbau wesentlich stärker gestiegen als die Vermehrung der Bevölkerung. Wenn trotzdem Deutschland heute kein Getreide mehr ausführe wie früher, so liege der Grund darin, daß ein großer Teil der Produkte der Landwirtschaft für technische und industrielle Zwecke Verwendung finde. Ähnlich große Erfolge sind auf dem Gebiete der Tierpro- duktion 2u verzeichnen. Der Pferdestand hat sich in Preußen von i-5 Millionen auf 32 Millionen, der Rindviehstand von 5'3 Millionen auf 12’2 Millionen, der Schweinebestäiid von 2 Millionen auf 18 Millionen gehoben. Der Schafstand ist allerdings znrück- gegangen. Alles zusammengenommen und auf Haupt-Großvieh Europäische Kolonisation 49 bezüglich dieses Artikels von den anderen Erdteilen unabhängig zu sein. Das heißt eine Getreideernte von 1827 -(- 146 = 1973 Mil- lionen Hektoliter würde ansgereicht haben, um in den Jahren um 1910 Europa, das damals 450 Millionen Einwohner hatte, zu versorgen. Wenn der Hektarertrag in ganz Europa auf die Höhe Bel- giens gebracht würde, könnten 4593 Millionen Hektoliter Getreide erzeugt werden. Diese würden fßr eine Bevölkerung von 1047 Millionen ausreiehen. Diese Bevölkerungsziffer dürfte aber Europa bereits um das Jahr 2000 haben. Das heißt, daß wir höchstens 80 bis 90 Jahre Zeit haben, um jene Kulturarbeit zu leisten, die es ermöglichen soll, Europa bezüglich Getreide selbständig zu machen. Gelingt dies nicht, so würde der Bevölkerungszuwachs Europas bald eine so ungeheure Zufuhr aus Übersee erfordern, daß wir sie im Zusammenhalte mit den sonstigen Einfuhrartikeln (vergleiche Seite 40) kaum mehr bezahlen könnten. Man mag Berechnungen wie die eben angestellten vielleicht als Zifferspielereien betrachten. Es wird auch niemandem beifallen, sie anders, denn als Vergleichsbehelfe aufzufassen. Sie zeigen aber doch mit voller Deutlichkeit, daß Europa für seine Volks- vermehrung nur dann aufkommen kann, wenn intensivste Kultur- arbeit geleistet wird. Sie zeigen ferner, daß die Zeitspanne, die uns für diese Riesenaufgabe gelassen .ist, recht kurz ausfällt. Sie führen endlich darauf, daß die Agrarländer Rußland, Rumänien usw. so rasch als irgend möglich intensiver Kultur zugeführt werden müssen. Der Zug nach dem Osten wird also für die Zukunft Euro- pas eine ungeheure Rolle spielen. All das ist aber nur möglich, wenn sich die Überzeugung durchringt, daß Europa wirtschaftlich als eine Einheit aufzufassen ist, da nur dann jene internationale Zusammenarbeit angebahnt werden kann, die den Aufstieg zur Höchstkultur ermöglichen soll. Landwehr, Übervölkertes Land. 4 Die Malthuslehre 33 Nach Malthus hat die Bevölkerung die Tendenz, sich rascher zu vermehren als die Lebensmittelproduktion gesteigert werden kann. Wenn auch noch unbebauter Boden vorhanden ist und Verbesserungen möglich sind, so gibt es doch eine je- weilig vom Stande der Technik und der Kultur abhängige, un- überschreitbare Grenze für die Vermehrung. Eine Bevölkerungs- politik, die nur auf Wachstum bedacht ist, und durch verkehrte Maßregeln (falsche Armenpflege) leicht zur Entstehung einer un- selbständigen, krankhaften Unterschicht der Bevölkerung Ver- anlassung gibt, wird von Malthus als schädlich verworfen. Die Natur sorge schon von selbst für eine genügende Bevölkerung- Damm solle der Staat nur gegen drohende Übervölkerung durch Beschränkung leichtsinniger Eheschließungen, vernünftige Armen- gesetze usw. einschreiten. Diesen Anschauungen entsprachen die vielfach bestandenen, erst im 19. Jahrhundert beseitigten Be- schränkungen in der Freiheit der Niederlassung und der Ver- ehelichung (Heiratsersehwerung durch Verpflichtung zum Nach- weis genügender Erwerbsfähigkeit, durch Festsetzung eines hoch- gegriffenen Normaljahres usw.). Der Neomalthusianismus, unter welchem Namen die Lehre von Malthus durch eine seit 1877 bestehende englische Gesellschaft (Malthusian League) vertreten wird, lehrt bewußte Beschränkung der Kinderzahl in der Ehe durch präventiven, die Empfängnis verhindernden geschlechtlichen Verkehr. Er hat auch auf dem Kontinent (in Holland, Deutschland, Italien) zahlreiche Anhänger gefunden und zerfällt jetzt in verschiedene Richtungen. Die extreme, der die meisten Engländer, aber auch einige Deutsche angehören, glaubt, daß alle sozialen Mißstände von der zu großen Bevölkerungszahl herrtihren und durch Befolgung ihrer Vorschläge beseitigt würden. Die gemäßigte Richtung (J. St. Mill, Mantegazza, Zacharias) sieht in letzteren wenigstens ein wichtiges Mittel zur Beseitigung mancher Schäden. Auch die sozialistischen Anhänger des Neo- malthusianismus (Kautzky) glauben, daß in der neuen sozialisti- schen Gesellschaft eine Regelung des Bevölkerungsstandes durch den präventiven Geschlechtsverkehr nötig sei, um die bestehen- den Übel dauernd zu beseitigen. Landwehr, Überpölhertes Land. 3 Einleitung 3 sie mit den Erzeugnissen ihres Industrie- und Gewerbefleißes bezahlen. Dergestalt ist eine fortschreitende Industrialisierung über- völkerter Gebiete selbstverständlich. Diese aber führt zur Zu- sammendrängung besitzloser Menschenmassen auf engem Räume, zum sozialen Elend und damit zur politischen Unzufriedenheit. So zeigt sich letzten Endes die Übervölkerung auch als die eigent- liche Ursache der sozialen Umsturzbestrebungen. In einer Zeit wie der heutigen, in der sich ganz Europa und ein großer Teil der übrigen Welt in einem Zustande sozialer Gärung befinden, verdient diese Seite der Frage besondere Auf- merksamkeit. — Die vorliegende Arbeit gibt vor allem einen Überblick Uber die Bevölkerungsverhältnisse der Erde und speziell Europas. Sie untersucht, wo Übervölkerung herrscht, wo noch Entwicklungs- raüm ist. Sie beschäftigt sich weiter mit der zu erwartenden Volksvermehrung und deren Konsequenzen. Sie versucht schließlich anzudeuten, wie dem aus der Menschenüberfüllung drohenden Unheil durch weit vorausblickende internationale Gemeinschafts- arbeit vorgebeugt werden könnte. Leider muß man bezweifeln, daß unsere heutige Zeit reif dazu ist, derartige Mensehheitsfragen mit Erfolg in die Hand zu nehmen. Wir leben in einer Hochflut des Völkerhasses, die für ver- ständnisvolle Zusammenarbeit trotz mancher Ansätze (Völkerbund) wenig Aussicht bietet. Und doch wäre, auch wenn man weiß, daß nicht Vernunft und Liebe die Welt regieren, sondern die Macht den Ausschlag gibt, die Organisierung einer vernunftgemäßen Abwehr einer Feind und Freund gemeinsam drohenden Gefahr gegenüber ein Gebot der Klugheit. Eine solche Gefahr ist die Übervölkerung zunächst für West- und Mitteleuropa, in nicht allzu ferner Zeit aber auch für andere Landstriche und Weltteile. Was speziell West- und Mitteleuropa anlangt, liegt klar zu- tage, daß es sich wirtschaftlich nur solange halten kann, als es ihm gelingt, seine Weltgeltung zu behaupten. 1* 20 Die Bevölkerungsverhältnisee der Erde Die von ihm angestrebte Freundschaft mit Rußland hätte Deutschland ein natürliches Absatzgebiet für seinen Volksüber- schuß schaffen können, während die Kolonialpolitik die Mißgunst der Westmächte wachrief. Die alte Stellung der Österreichisch- ungarischen Monarchie als Kulturbringerin für das Donaubecken und ihr Interesse für den Balkan entsprach völlig diesen be- völkerungspolitischen, durch die geographische Lage vorgesehrie- benen Ideen. Die Gegenwart zeigt West- und Mitteleuropa in einem Zu- stande der Übervölkerung, der schon vor dem Kriege schwer zu ertragen war. Der Krieg hat diesen Zustand nicht beseitigt, die Friedensschlüsse haben ihn durch die Zerschlagung der be- standenen großen Wirtschaftsgebiete in viele kleine wesentlich verschärft. Werfen wir nun einen Blick in die fernere Zukunft. Europa hatte im Jahre 1800 eine Bevölkerung von 181 Millionen. Im Jahre 1910 erreichte sie 450 Millionen. Die jährliche Bevölkerungszunahme betrug im Durchschnitt der letzten 10 Jahre vor dem Kriege in Frankreich 0*2%, in Spanien 0’5, in Italien 06, in Norwegen 0-6, in Schweden 0'7, in Griechenland 0 7, in Portugal 0'7, im früheren Ungarn 0'8, im früheren Österreich 09, in Belgien 1, in Großbritannien 1, in der Türkei 1, in Dänemark 11, in Bulgarien 1*2, in Ruß- land 1*3, in der Schweiz 1*8, in den Niederlanden 1*4, im Deut- schen Reiche 1*4, in Serbien 1*5, in Rumänien 1*6% der Bevöl- kerung. Es nahm also — wenn wir nur die wichtigsten Beispiele herausgreifen — Frankreich jährlich nur um 58.000 Menschen zu, während die Zunahme in Italien 209.000, im früheren Öster- reich 242.000, in Großbritannien 453.000 (England und Schott- land allein 450.000), in Deutschland 852.000, in Rußland 1,263.000 Menschen pro Jahr betrug. Ganz Europa nahm im Durchschnitt um 0*88%, das sind 3,960.000 Menschen jährlich zu. Wenn diese Zunahme gleichmäßig angehalten hätte, würde Europas Bevölkerung erreicht haben: Im Jahre 1920 500 Millionen, 1930 560, 1940 620, 1950 690, 1960 770, 1970 860, 1980 960, 1990 1070, 2000 1190 Millionen. Die Bevölkenmgsverhältnisse der Erde. Während die meisten Tierrassen an bestimmte Himmelsstriche gebunden sind, lebt der Mensch überall; in den heißesten Zonen des Äquators ebensowohl als in der Polarregion. In großer Masse hat er sieh aber doch nur dort an gesiedelt,. wo die Verhältnisse seine Existenz und seine Vermehrung begünstigten. Nur in solchen gesegneten Himmelsstrichen entstanden jene Kulturzentren, von denen aus er im Lauf einer vieltausendjährigen Geschichte die übrige Erde bevölkerte. Wir können hier nicht auf die Eutwieklungsstadien der Menschheit, soweit sie uns aus historischer Zeit mit einiger Sicher- heit und aus prähistorischer Zeit in vagen Andeutungen bekannt sind, eingehen. Nur soviel wollen wir uns in die Erinnerung rufen, daß der heutige Besiedlungszustand der Erde nichts Gegebenes, sondern etwas Gewordenes ist. Ob der Mensch nur in einer Gegend der Erde entstanden ist, wie es die Sage von Adam und Eva be- hauptet, oder ob die Menschwerdung an mehreren Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgte, wie die neuere Forschung meint, jedenfalls waren ursprünglich nur wenig Menschen vor- handen. Sie vermehrten sieh aber rasch. Trotzdem zeigen die ältesten statistischen Daten, die wir besitzen, daß noch vor wenigen Jahrhunderten die Einwohnerzahl der Erde nur ein Bruchteil der heutigen gewesen sein muß. So soll z. B. zu Christi Geburt Europa nur 40 Millionen Einwohner gezählt haben. Stimmt dies, so haben sie sich bis heute auf das elffache vermehrt. Für das Jahr 1800 wird die Zahl der Erdbewohner mit 990 Millionen angegeben, während sie heute 1744 Millionen er- reicht hat. Sie hat sich also in wenig mehr als hundert Jahren verdoppelt. Die Malthuslehre 37 umgerechnet, gibt dies eine Zunahme von 8-7 auf 17 Millionen Stück, das heißt fast eine Verdopplung. Diese Zahlen galten für Preußen; es ist nicht zweifelhaft, daß für Deutschland die Zahlen nicht ungünstiger lagen.« »Kann die landwirtschaftliche Produktion«, fragt Professor Delbrück weiter, »noch einmal verdoppelt werden?« »Ich nehme keinen Anstand, diese Frage ohne weiteres zu bejahen. Die großen Fortschritte der Landwirtschaft liegen gar nicht weit zurück. In dem letzten Jahrzehnt ist die Erzeugung bei Roggen um 19, bei Weizen um 10, bei Gerste um 3, bei Kartoffeln um 25% ge- stiegen. Pflanzenzüchtung, Sorten wähl, Kultur und Düngung haben an diesen Resultaten gleichen Anteil.« »Dasselbe Bild, das die deutschen Zahlen geben, zeigt ein Blick auf die Gesamtentwicklung. Von 1840 bis 1888 wuchs in den Kulturstaaten (Europa, Vereinigte Staaten von Amerika, Kolonien) das Areal des Ackerbodens von 492 Millionen Acres (zirka 276 Millionen Hektar = 2'76 Millionen Quadratkilometer) auf 807 Millionen Acres (322 Millionen Hektar = 3'22 Mil- lionen Quadratkilometer), das heißt um 65%; die Körnerernte wuchs von etwa 4 Millionen Busheis auf 9 Millionen, also um 120%) di® Bevölkerung aber wuchs nur um 70%. Rechnet man dazu die unendliche Fülle von Land, das in Vorder- und Mittelasien, in Amerika und Australien noch der intensiven Kulturarbeit harrt, so wird man bald erkennen, daß unsere praktische Volkswirtschaftspolitik durch das Malthussche Gesetz der ,Produktion auf Landc sich keine Schranke aufer- legen lassen darf.« Soweit Damaschke beziehungsweise Professor Delbrück. Das sind gewiß tröstliche Nachweise, die zeigen, daß bei entsprechen- der Steigerung der Kulturstufe und der Produktion auch eine sehr zahlreiche Bevölkerung ernährt werden kann. Man darf allerdings deswegen nicht zu optimistisch werden; denn Delbrück spricht nur von der großen Steigerung der land- wirtschaftlichen Produktion in Deutschland —- genauer genommen nur in Preußen — und von der Produktionssteigerung in der Gesamtheit der Kulturwelt. Nun hat aber leider die Landwirtschaft durchaus nicht in allen Staaten Europas gleichen Schritt mit jenen Deutschlands Die Bevölkerungsverhältnisse der Erde Heute ist also die durchschnittliche Besiedlung der Erde noch eine mäßige. Trotzdem herrscht in so vielen Gegenden Mangel am Nötigsten. Man könnte also die Frage aufwerfen, ob die Erde genügend Nahrung für ihre Bewohner erzeugen kann, da ja nur ein Teil des Festlandes Ackerland ist. Diesbezüglich stehen die Verhältnisse folgendermaßen: Das bereits kultivierte Ackerland macht etwa 15% der festen Erdoberfläche aus. Durchschnittlich entfallen auf den Quadratkilometer Ackerland in Europa 161, in Asien 119, in Afrika 36, in Amerika 45, in Australien und Ozeanien 18 Menschen. Man erkennt sofort, um wieviel intensiver die Bodenkultur in den dicht bevölkerten Erdteilen sein muß, um der größeren Menschenzahl genügende Nahrung zu geben, das heißt wieviel Mehrarbeit dort aufgewendet werden muß. * Außer den bereits unter den Pflug genommenen 15% der festen Erdrinde sind aber 37% noch unbebaute Weiden und Steppen, dann 26% Wald- und Buschland vorhanden, die bei Bedarf ausgenutzt werden könnten. Nur 22% der Erdfeste sind Wüsten und sonstige unproduktive Gebiete. Faßt man Ackerland, Wiesen und Weiden sowie Steppen unter der Bezeichnung »kulturfähiges Land« zusammen, so ent- fallen auf den Quadratkilometer desselben in Europa 85, in Asien 32, in Afrika 9 2, in Amerika 10'5 und in Australien gar nur 2'06 Einwohner. Man sieht, daß die Erde in ihrer Gesamtheit auch die Be- dürfnisse einer vielfach zahlreicheren Bevölkerung, als sie heute besitzt, leicht decken könnte, wenn sie entsprechend ausgenutzt würde. Wie die Verteilung der Menschheit auf die verschiedenen Erd- teile eine sehr ungleiche ist, so sind auch die einzelnen Staaten sehr ungleich besiedelt. Die diesbezüglichen Verhältnisse sind jedem statistischen Atlas (z. B. Prof. Hickmanns geographisch-statistischem Universal- atlas) zu entnehmen. Sucht man aus dessen Tabellen diejenigen Gebiete heraus, die mehr als 50 Einwohner pro Quadratkilometer haben, und zieht die Summen, so sieht man, wie durch einen Blick auf eine Bevölkerungskarte der Erde sofort bestätigt wird, daß sich auf unserem Planeten drei große Mensohenanhäufungen finden, und zwar: Das Städtewesen. In den vorhergehenden Abschnitten haben wir einen Über- blick über die übervölkerten Gebiete der Erde und insbesondere Europas gegeben. Innerhalb dieser Gebiete ist bekanntlich die Einwohnerschaft wieder sehr ungleich verteilt. Während auf dem Lande verhältnismäßig wenig Menschen wohnen, drängen sie sich in den Städten enge zusammen, nur zu oft einer dem anderen Licht, Luft und Lebensmöglichkeit einengend. Ohne dieses Zu- sammenwohnen, das den innigsten geistigen Kontakt, den rasche- sten Austausch aller neuen Ideen und Errungenschaften ermög- licht, wäre freilich ein höheres Kulturniveau kaum denkbar. Zahlreiche und blühende Städte waren deshalb seit jeher der Maßstab für den Kulturgrad eines Landes. Aber wo viel Licht, ist auch viel Schatten. Während die Städte einerseits die Träger der Kultur sind, bilden sie anderseits die Zentren der Übervöl- kerung und sind daher die Entstehungsherde aller nachteiligen Erscheinungen, die das dichte Beisammenwohnen vieler Menschen auf engem Raum mit sich bringt. In den Städten tritt das soziale Elend am stärksten auf, von ihnen nehmen daher auch die sozialen Bewegungen ihren Ausgang. Eine Betrachtung über die Bevölkerungsverhältnisse und ihre Rückwirkung auf das öffentliche Leben erfordert also eine wenn auch flüchtige Besprechung des Städtewesens. Wir wollen dabei, um kurz bleiben zu können, von histori- schen Rückblicken auf ältere Zeiten, die gewiß manche interes- sante Yergleichsdaten liefern würden, absehen und uns auf die neueste Zeit beschränken. Bis zum 19. Jahrhundert stand in den meisten europäischen Ländern die Stadtbevölkerung gegenüber der ländlichen an Zahl weit zurück. Weltkolonisation. Auswanderung und Kolonisation waren seit jeher die Mittel, durch die sich Staaten zu helfen suchten, in denen eine Been- gung der Lebensverhältnisse, sei es wegen Übervölkerung und Mangel an anbaufähigem Boden, sei es wegen sonstiger wirt- schaftlicher Schwierigkeiten, politischer Unzufriedenheit, religiöser Zerwürfnisse und ähnlichen Ursachen eingetreten war. Allerdings führten nicht immer bloß solch zwängende Gründe zur überseei- schen Kolonisation. Oft trieb auch Eroberungslust, Überschuß an Unternehmungsgeist und Kapitalskraft zu außereuropäischen Er- werbungen. So kam es im Laufe der Geschichte dazu, daß durch Aus- nützung günstiger Konstellationen, zumeist durch Staaten, die See- mächte sind oder es doch wTaren — abgesehen von Amerika, Japan und dem früheren asiatischen Rußland -—, etwa 61 Mil- lionen Quadratkilometer, das ist fast die Hälfte des bewohnten Festlandes, Kolonialgebiet europäischer Staaten sind. Natürlich gehören infolge der angedeuteten Entwicklung diese Kolonien nicht immer gerade jenen Staaten, die am dichtesten bevölkert sind, also am dringendsten Kolonien brauchen. Auf Seite 19 haben wir besprochen, daß gegenüber der wün- schenswerten Dichte von 100 Menschen pro Kulturquadratkilometer Großbritannien um 24‘2, Deutschland um 24'8, Italien um 15 6, das frühere Österreich um 10, Frankreich um 1'8 Millionen Ein- wohner zu viel, dagegen Spanien um 10*1 und das frühere Ruß- land um 98 2 Millionen Einwohner zu wrenig hatten. Demgegenüber besitzen an Kolonien; Großbritannien 39'9, Deutschland 0, Italien L6, Frankreich 12'5, Spanien 0-31, Belgien 2‘4, Portugal 2-l, Niederlande 2’0 Millionen Quadratkilometer. Deutschland besaß bekanntlich vor 2 Einleitung Raum erst schaffen. In den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege waren ihm koloniale Erwerbungen geglückt. Damit war es in den Wettbewerb um überseeische Geltung eingetreten und der Konfliktstoff gegeben. Dessen letzte Ursache liegt also in der zu zahlreichen Be- völkerung, deren Versorgung zur Expansion nötigte. Ähnliche Verhältnisse bestehen leider auch anderwärts. Viele europäische Staaten haben schon aus dieser primären Ursache — abgesehen von den sonstigen politischen Verhältnissen — Reibungen mit dem Nachbar. Und wenn wir den Blick auf die übrigen Weltteile lenken, fallen vor allem China und Indien, dann Japan in die Augen, die eine Überzahl an Volk haben und bei weiterer Vermehrung desselben auf die Nachbargebiete über- greifen müßten. Überall, wo eine zu zahlreiche Bevölkerung keine ausreichende Lebensmöglichkeit mehr findet, tritt der unwiderstehliche Zwang nach Expansion und damit der Konflikt mit dem Nachbar auf. Wenn in alten Zeiten ein Landstrich so übervölkert war, daß er — für die damaligen Verhältnisse — seinen Insassen nicht mehr genügte, wanderten ganze Völker in günstigere Ge- genden aus, die sie sich durch Kampf unterwarfen. Die ganze Periode der Völkerwanderung mag recht wohl auf solche Ursachen zurückzuführen sein. Irgendein übervölkertes Gebiet Zentralasiens gab den Anstoß, der die Nachbarvölker über den Haufen warf. Deren Druck pflanzte, sich daun wellenartig und auf lange Zeiträume verteilt fort, bis endlich wieder relative Ruhe eintrat. Heute ist diese primitive Form des Ausgleiches der Be- völkerungsdichte kaum möglich, außer in Gegenden, die noch von Nomaden bewohnt sind. Wohl flutet aber in der Form der Einzelauswanderung ständig ein Menschenstrom aus den Übervölkerungsgebieten in andere Gegenden. Zur Ruhe kommt die Bevölkerungssituation eigentlich nie, doch ist diese Bewegung viel zu gering, um der Volksvermehrung im Heimatlande das Gleichgewicht zu halten. So müssen die in der Heimat Zurückgebliebenen sich von aus- wärts den Lebensunterhalt verschaffen. Sie brauchen Einfuhr an Lebensmitteln und Rohstoffen aus dem Auslande. Diese müssen 54 Schlußbetrachtung Was speziell Europa anbelangt, macht sich die Zerschlagung zweier großer Reiche — Rußlands und Österreich-Ungarns — politisch und wirtschaftlich in schwerster Weise fühlbar. Während vor dem Krieg ein deutlicher Zug zu großzügiger Weltwirtschaft herrschte, der den Zusammenschluß mehrerer kleiner in wenige große Wirtschaftsgebiete vorbereiten wollte, haben die Friedensverträge Europa balkanisiert und damit dem Wirtschaftsverkehr jene tausend Schranken wieder auferlegt, die vergangene Epochen mit Mühe beseitigt hatten. Wir haben im Lauf unserer Betrachtungen oft genug darauf hingewiesen, daß die Übervölkerungsgebiete zu wenig Natur- produkte, vor allem Nahrungsmittel, erzeugen, um davon leben zu können. Sie brauchen Zuschub aus weniger dicht besiedelten Gegenden und geben dafür ihre Industrieprodukte in Tausch. Dem Notstand der Gegenwart könnte also nur durch Einrichtungen ab- geholfen werden, die diesen Austausch der Produkte erleichtern. Es müßte also die Handels- und Verkehrsfreiheit wenn möglich in einem noch viel ausgedehnteren Maße, als sie vor dem Kriege bestand, wieder hergestellt werden. Derzeit hat die Erde noch genügend Produkte aller Art, um dem Mangel der Übervölkerungsgebiete durch die Überschüsse der dünn bevölkerten abzuhelfen. Immer aber wird der Verkehr zwischen fremden Ländern gewissen Beschränkungen unterworfen sein. Völlig ungehindert vollzieht sich der Austausch der Produkte von Industrieländern gegen jene benachbarter Agrarländer nur dann, wenn sie einem einzigen Wirtschaftsgebiet angehören. Was wir daher speziell in Mitteleuropa brauchen, ist die Bildung großer Wirtschaftsverbände, in denen sowohl Industrie- ais Agrarländer, vertreten sein müssen, an Stelle der durch die Friedens Verträge geschaffenen lebensunfähigen Zwergstaaten. Für das zerschlagene Österreich-Ungarn, das ein solches Wirtschaftsgebiet war, wird früher oder später in irgendeiner Form Ersatz geschaffen werden müssen. Das wäre vielleicht der erste Schritt. Für die fernere Zu- kunft wird es freilich auch damit noch nicht abgetan sein. Schon heute denken manche viel weiter. So faßte der Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Brüsseler Konferenz 32 Die Malthuslehre 12 Millionen im Jahre 1648.) Viele Landstriche waren völlig ver- heert und menschenleer. Diese Erscheinungen übten einen mächtigen Einfluß auf die allgemeinen Anschauungen und die Regierungspolitik aus. Das bis Mitte des 18. Jahrhunderts herrschende Merkantil- system vertrat den Grundgedanken, daß der Reichtum eines Landes vorwiegend auf dem Besitz baren Geldes beruhe und stützte sich dabei auf die Tatsache, daß seefahrende Nationen und Handelsstädte zu Macht und Wohlstand gelangt waren. Es begünstigte daher den Handel und alle Produktionszweige, vor- wiegend die Edelmetallproduktion. Die Bevölkerungspolitiker dieser Epoche bemühten sich, die Volkszahl zu heben, was sie, ähnlich wie dies schon im Altertum und im Mittelalter geschehen war, durch Begünstigung der Verheirateten, Prämiierung des Kinder- reichtums, Anreiz zur Einwanderung usw. erstrebten. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits brachte dies- bezüglich eine sehr günstige Entwicklung. Fortschritte der Land- wirtschaft, gute Ernten, rasche Entwicklung von Handel und In- dustrie, insbesondere in England, wo große Wirtsehaftsfreiheit herrschte, begünstigten das Wachstum der Bevölkerung und die Bildung von industriellen städtischen Zentralpunkten. Damit ent- stand aber auch die Anhäufung von Not und Elend auf engem Raum. Und nun erfolgte ein Meinungsumschwung. Als nämlich Ende des 18. Jahrhunderts das Wachstum der Bevölkerung, zumal in den Städten, augenfällig wurde, trat an die Steile der bisherigen Wertschätzung des Volkswachstums die Angst vor der Über- völkerung. Insbesondere nach der großen französischen Revolution gewann dieser Gedanke Macht. Dieser Zeit verdankt denn auch die Bevölkerungstheorie von Malthus ihre Entstehung. Dieser englische Nationalökonom, der 1766 bis 1834 lebte, legte in seinem berühmten Buch »Essay on the principles of population«, dar, daß die Vermehrung der Bevölkerung nicht ins Ungemessene gehen könne, sondern von der Menge der beschaffbaren Unterhaltsmittel abhängig sei. Das Werk erschien 1798 in erster, 1888 in neunter Auflage in London und erlebte auch mehrere deutsche Ausgaben (1807, 1900 und 1905).  Das Städtewosen 25 Selbst berühmte Städte wie Nürnberg und Straßburg zählten im 15. Jahrhundert nicht mehr als 20.000 bis 25.000 Einwohner. London hatte Ende des 17. Jahrhunderts nur eine halbe Million. In ganz England gab es damals nur noch zwei Städte mit je 30.000 und vier mit je 10.000 Menschen. Mit dem Aufblühen der Technik und des Verkehrswesens trat ein Umschwung ein. Die Stadtbevölkerung wuchs nun weit rascher als die bäuer- liche, und zwar nicht infolge des Geburtenüberschusses, der z. B. nach dem dreißigjährigen Durchschnitt in den Städten Preußens nur 1'05% betrug, während er auf dem Lande P42% erreichte, sondern in erster Linie durch Zuzug vom flachen Lande. Das angenehme Leben in den Städten, die vielfältigen Ver- dienstmöglichkeiten, die dort bestehen, wohl auch die größere Sicherheit, lockten die Landbevölkerung herbei. Es entstand so eine bis in die Zeit des Weltkrieges anhaltende »Landflucht«, die es mit sieh brachte, daß sieh in den Städten viel arbeitsloses und unzufriedenes 'Proletariat anhäufte, während gleichzeitig auf dem Lande Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitern herrschte, so daß vielenorts die Bestellung der Felder und das Einbringen der Ernte nur durch ausländische Saisonarbeiter ermöglicht wurde. Diese Erscheinungen mögen durch einige Ziffern beleuchtet werden. In Frankreich betrug die städtische Bevölkerung im Jahre 1872; 31-06%; 1886:35’95; 1901; 36 22% der Gesamtbevölkerung. In Deutschland zählte sie: im Jahre 1871: 36T%: 1880: 41-4; 1890: 47'0; 1900: 54-3; 1910: 6D0; 1917: 7P3%. Das frühere Österreich hatte: im Jahre 1845; 22%; 1890; 45; 1900: 47'6; 1917: 69% städtische Bevölkerung. An größeren Städten (über 10.000 Einwohner) bestanden: In Deutschland: Im Jahre Städte Millionen Einwohnern 1880 .......... 176 mit zusammen 6 1890 .......... 205 » » 8-3 1900 .......... 245 » > > 11-3 1905 .......... 263 » » 133 1910 .......... 282 > » 15-3  8 Die Bevölkemngsverhältnisse der Erde West- und Mitteleuropa, also der Kontinent mit Ausnahme Rußlands, Spaniens, der Skan- dinavischen Staaten und des Balkan..................... Das eigentliche China . . . . Indien . .................... Millionen Quadrat- kilometer Fläche mit 3"3 » 3'8 . 2-9 Millionen Einwohner 313-53, 359-2, 257-5, pro Quadrat- kilometer d. i. 93 » » 93 > » 89 Davon sind die beiden letzteren uralte, vor fast fünf Jahr- tausenden entstandene Kulturgebiete, während Europa erst in den letzten 2000 Jahren einen raschen Aufsehwune: srenommen hat. o o Kleinere, aber sehr dicht besiedelte Menschenanhäufungen sehen wir in Japan, Unterägypten und den Ostteilen der Ver-. einigten Staaten von Amerika, und zwar: Millionen Quadrat- kilometer Millionen Einwohner pro Quadrat- kilo me t er Das eigentliche Japan .... mit 0’38 und 55’9 d. i. 146 Nordamerika (Oststaaten) »■ 0-300 » 28’09 » » 93 Unterägypten ............ > 0-172 » 7-15 » » 41-5 Zur Unterstützung der Vorstellung sei noch daran erinnert, daß das eigentliche Japan ebenso groß und volkreich als Deutsch- land ist. Der Osten der Vereinigten Staaten von Amerika macht nur einen ganz kleinen Bruchteil (etwa 3%) der Bodenfläche der Föderation aus, umfaßt aber zirka 26% ihrer Bevölkerung. Unter- ägypten endlich ist annähernd so groß wie die Tschechoslowakei mit etwas mehr als der Hälfte ihrer Bevölkerung. Da sich aber die Bevölkerung beinahe ganz auf das fruchtbare Niltal konzen- triert, ist dessen Besiedlung eine sehr dichte. Sie ließe sieh am ehesten mit Belgien vergleichen, denn dieses hat 22.000 km2 Kultur- fläche mit 337 Einwohnern pro Kulturquadratkilometer, jenes, umfaßt 19.716 km2 Kulturfläche mit 353 Einwohnern px-o Kultur- quadratkilometer. Unterägypten, dessen Geschichte wir bis 3200 v. Chr. zu- l ückverfolgen können, gehört also zu den am dichtesten besie- delten Gebieten der Erde. Die früher genannten Teile Europas, Chinas und Indiens haben zusammen eine Fläche von zirka 10 Millionen Quadrat- Weltkolonisation 51 dem Weltkriege 2'9 Millionen Quadratkilometer Kolonien, die es als ein dringendes Bedürfnis in den letzten Jahrzehnten erworben hatte. Der Krieg hat ihren Verlust zur Folge gehabt und damit die Frage, wie Deutschland in der Zukunft seinen Bevölkerungs- übersehuß unterbringen soll, offen gelassen. Da überseeische Ge- biete ihm voraussichtlich auf längere Zeit unzugänglich sind, wird Deutschland nichts erübrigen, als das engste Einvernehmen mit Rußland anzustreben, das allein seine überzähligen Menschen ab- sorbieren könnte. Eine gerechte Regelung der Kolonialfrage erscheint unter den heutigen Verhältnissen ganz aussichtslos. Aber wir betreiben ja hier keine Politik, sondern stellen lediglich fest, daß die Unter- bringung der Bevölkerungsüberschüsse eine Frage ist, welche die Lenker der Geschicke Europas ernstlich beschäftigen sollte, wenn sie dem Unheil, das sonst in den nächsten Jahrzehnten unver- meidlich ist, Vorbeugen wollen. Die Überlegung, daß Rußland ein ungeheures Kolonisationsgebiet nicht nur in Europa, sondern ins- besondere, trotz des heute sehr gelockerten Zusammenhanges, auch in Asien besitzt, daß Spanien 313.000 Quadratkilometer afrika- nische Kolonien hat und auch kleinere Staaten, wie Dänemark, Portugal, die Niederlande und Belgien, große Kolonien ihr eigen nennen, könnte die internationale Regelung der Kolonial- oder zum mindesten der Auswanderungsfragen erleichtern. Sehen wir nun zu, wie sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege die Auswanderung aus Europa vollzog. Von 1880 bis 1910 sind aasgewandert; Aus der Schweiz 190.000 Menschen, den Niederlanden 201.000 Dänemark 211.000, Frankreich 263.000, Norwegen 485.000, Portugal 767.000, Schweden 846.000, Schottland 984.000, aus dem, früheren Österreich 1,730.000, aus dem früheren Ungarn 1,792.000, aus Deutschland 2,172.000, Spanien 2,189.000, Irland 2,385.000, England 4,639.000, Italien 6,430.000 Menschen. Innerhalb dieser 30 Jahre sind also in Summe 25,284.000 Menschen aus Europa nach überseeischen Ländern gegangen. Die Verteilung auf die einzelnen Jahrzehnte dieser Epoche ist nicht gleich. Im allgemeinen war die Auswanderung von 1900 bis 1910 bedeutend stärker als früher. Nur in Deutschland machte sich, offenbar als Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges, den das 9 I ' }«'■!(■ i V der Erde kilometer und 930 Millionen Einwohner. Diese drei großen Menschen - anhäufungon umfassen also nur ein Dreizehntel der bewohnten Erdoberfläche, sie beherbergen aber über die Hälfte der gesamten Menschheit. Die drei kleineren Anhäufungen (Japan, Unterägypten, Ost- staaten Amerikas) haben zusammen nicht ganz 1 Million Quadrat- kilometer mit 91 Millionen Einwohnern, sind also nur etwa ein Zehntel so groß als die Hauptanhäufungsgebiete. Es springt ganz deutlich in die Augen, daß die Bevölkerung sieh auf einzelne Kulturgebiete der Erde zusammendrängt, die Übervölkerung also derzeit noch eine örtliche Erscheinung ist. Für die Menschheitsgeschichte sind natürlich diese Kultur- * gebiete ausschlaggebend; denn von ihnen gehen alle großen Än- derungen, Erschütterungen und Umwälzungen aus, die wohl namenloses Leid über die von ihnen betroffenen Generationen bringen, dabei aber freilich auch, anscheinend einem Naturgesetze gehorchend, Raum für eine weitere Entwicklung der Menschheit schaffen. Durch solche Umwälzungen, die alte Kulturgebiete ent- völkern und neue entstehen lassen, flndet ein Ausgleichsprozeß statt, ohne den die Menschheit so rasch anwachsen würde, daß in kurzer Zeit die ganze Erde übervölkert sein würde. Diesbezüglich sei eine kurze Überschlagsrechnung einge- schaltet, auf die wir zwar nicht zu viel Wert legen wollen, die aber doch Fingerzeige gibt. Die früher besprochenen sechs Übervölkerungsgebiete ums fassen zusammen 1021 Millionen, sagen wir für die Überschlags- rechnung rund eine Milliarde Menschen. Die dreiviertel Milliarden der übrigen Erdbewohner lassen wir außer Betracht. Nun hat sich in den letzten 100 Jahren die Bevölkerung Europas und Chinas um das zweieinhalb fache, jene der übrigen Übervölkerungsgebiete in weit höherem Maße vermehrt. Nehmeu wir trotzdem an, daß innerhalb 100 Jahren immer nur eine Ver- dopplung eintritt, so würden diese Gebiete im Jahre 2000 zwei Milliarden, im Jahre 2100 vier Milliarden, im Jahre 2200 ! ' acht Milliarden und im Jahre 2300 16 Milliarden Einwohner haben. Benützte Quellen 59 Heim zur Scholle. Von Peter Rosegger. Verlegt bei Ed. Strache, Warns- dorf in Böhmen 1915. Kleinhaus und Kleinsiedlung. Yon Hermann Muthesius. F. Bruck- mann A.-G., München 1918. Kriegerheimstätten, Von Franz Jesser, Eeichratsabgeordneter. Verlegt bei Ed. Strache, AVarnsdorf in Böhmen 1916. Was Europa geschehen ist. Von Frank A. Vanderlip. Deutsch heraus- gegeben von R. von Scholtz. Drei Masken-Verlag, München 1921. Wirtschaftliche Verhältnisse Deutschösterreichs. Herausgegeben im Aufträge des Vereins für Sozialpolitik von Dr. Michael Hainisch Verlag von Duncker und Humblot, Wien und Leipzig 1919. Einleitung. Der Weltkrieg und die Friedensschlüsse haben eine Lage geschaffen, der alles ratlos gegenübersteht. Nicht nur, daß wir uns mitten in den schwersten wirtschaft- lichen und sozialen Krisen befinden — auch politischer Zünd- stoff ist allerorts in Menge angehäuft. Die Zukunft sieht keineswegs friedlich aus. Die Ursachen dieser Weltlage sind vielgestaltig. Letzten Endes aber scheinen sie mir auf eine Grundursache zurüekzu- führen, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde; Die Über- völkerung. Die oberflächliche Betrachtungsweise, welche die Schuld am Weltkrieg einer oder der anderen Macht zuschieben und diese einseitig dafür zur Verantwortung ziehen will, findet nur mehr dort Glauben, wo sie als Voraussetzung für die Politik gebraucht wird. Unbeeinflußt Denkende haben längst eingesehen, daß die jahrzehntelange Spannung, die dem Weltkriege voranging und schließlich in ihm zur Explosion kam, tiefer wurzelte. Die landläufigste Ansicht ist heute, daß die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands die Eifersucht Englands erregt habe und dies die Kriegsursache war. Wirklich hatten Großbritannien und das Deutsche Reich eine überaus dichte Bevölkerung, deren Zahl von Jahr zu Jahr in einem derartigen Maße wuchs, daß die eigene Heimat zu eng wurde. Während aber England in seinem fast ein Viertel der festen Erdoberfläche umfassenden Kolonialbesitze die Möglichkeit dieser Ausdehnung bereits besaß, wollte sieh Deutschland den nötigen Landwehr, Übervölkertes Land. ' 1 16 Die Bevolkerung'sVerhältnisse der Erde Daß dieses in den letzten Jahrzehnten zu moderner Kultur und Weltbedeutung gelangte Reich Expansionsbestrebungen haben muß, ist selbstverständlich. Die Bevölkerung Ägyptens (ohne Siwal, Sinai-Halbinsel, Dongola und Suakin) betrug im Jahre 1800: 2’46 Millionen, 1821: 2-58, 1846: 4-47, 1882: 6-81, 1897: 9-73, 1907: 11-19 Millionen. Die Dichte ist, wie früher erwähnt, pro Kulturquadratkilo- meter gerechnet, etwas größer als die Belgiens. Auch hier finden wir also außerordentliche Dichte und sehr starkes Wachstum der Bevölkerung. Politisch stehen entsprechend dem Kulturgrade heute Europa, Amerika und Japan im Vordergründe. Den führenden europäischen Staaten und Japan sind ihre Expansionsbestrebungen durch ihre Übervölkerung vorgezeiehnet — sie müssen nach Atemraum streben, ob sie wollen oder nicht. Amerika hat noch so ungeheure leere Flächen zur Ver- fügung, daß es nicht gezwungen ist, sich in die Welthändel zu mischen, sondern die Möglichkeit hat, seine Interessen auf das eigene Gebiet zu beschränken. Treibt es trotzdem Expansions- politik, so hat das andere Gründe. Daher der Widerstreit in den Meinungen über die Notwendigkeit seiner Einmengung in die europäischen Verhältnisse und der in den letzten Jahren wahr- nehmbare mehrmalige Wechsel in der amerikanischen Politik. Die Interessengegensätze zwischen England, Amerika und Japan beunruhigen bekanntlich neben den großen europäischen Fragen schon lange die Weltpolitik. Auch das erwachende China und der indische Vulkan drohen mit Ausbrüchen. Und dieser Weltlage steht ein seit Kriegsausbruch offen- kundig politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch in seinen Grundfesten erschüttertes Europa gegenüber. In dieser Situation, die höchste Solidarität der alten Kultur- nationen erfordern würde, zerfleischt sich Europa weiter! — Eine loyale Abgrenzung der Interessensphären zwischen den Übervölkerungsgebieten, die allen den zum Atmen nötigen Raum verbürgt, wäre das einzige Mittel, um den von allen Seiten drohenden Gewitterstürmen vorzubeugen und der Menschheit eine längere Periode ruhiger kultureller Entwicklung zu verschaffen. the scale towards document Weltkolonisation 8; I: s; i: s; CD CD 8 51 dem Weltkriege 2 9 Millionen Quadratkilometer Kolonien, die es als ein dringendes Bedürfnis in den letzten Jahrzehnten erworben hatte. Der Krieg hat ihren Verlust zur Folge gehabt und damit die Frage, wie Deutschland in der Zukunft seinen Bevölkerungs- Überschuß unterbringen soll, offen gelassen. Da überseeische Ge- biete ihm voraussichtlich auf längere Zeit unzugänglich sind, wird Deutschland nichts erübrigen, als das engste Einvernehmen mit Rußland anzustreben, das allein seine überzähligen Menschen ab- sorbieren könnte. Eine gerechte Regelung der Kolonialfrage erscheint unter den heutigen Verhältnissen ganz aussichtslos. Aber wir betreiben ja hier keine Politik, sondern stellen lediglich fest, daß die Unter- bringung der Bevölkerungsüberschüsse eine Frage ist, welche die Lenker der Geschicke Europas ernstlich beschäftigen sollte, wenn sie dem Unheil, das sonst in den nächsten Jahrzehnten unver- meidlich ist, Vorbeugen wollen. Die Überlegung, daß Rußland ein ungeheures Kolonisationsgebiet nicht nur in Europa, sondern ins- besondere, trotz des heute sehr gelockerten Zusammenhanges, auch in Asien besitzt, daß Spanien 313.000 Quadratkilometer afrika- nische Kolonien hat und auch kleinere Staaten, wie Dänemark, Portugal, die Niederlande und Belgien, große Kolonien ihr eigen nennen, könnte die internationale Regelung der Kolonial- oder zum mindesten der Auswanderungsfragen erleichtern. Sehen wir nun zu, wie sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege die Auswanderung aus Europa vollzog. Von 1880 bis 1910 sind ausgewandert: Aus der Schweiz 190.000 Menschen, den Niederlanden 201.000 Dänemark 211.000, Frankreich 263.000, Norwegen 485.000, Portugal 767.000, Schweden 846.000, Schottland 984.000, aus dem, früheren Österreich 1,730.000, aus dem früheren Ungarn 1,792.000, aus Deutschland 2,172.000, Spanien 2,189.000, Irland 2,385.000, England 4,639.000, Italien 6,430.000 Menschen. Innerhalb dieser 30 Jahre sind also in Summe 25,284.000 Menschen aus Europa nach überseeischen Ländern gegangen. Die Verteilung auf die einzelnen Jahrzehnte dieser Epoche ist nicht gleich. Im allgemeinen war die Auswanderung von 1900 bis 1910 bedeutend stärker als früher. Nur in Deutschland machte sich, offenbar als Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges, den das 4* I Innere Kolonisation 42 wünscht, nur dann mit Beruhigung entgegensehen, wenn er Aus- sicht hat, seine Produktion im gleichen Maße zu steigern, als die Bevölkerung zunimmt. Auf die Frage, ob dies in der Praxis möglich ist, läuft also schließlich die ganze Bevölkerungstheorie hinaus. Im vollen Umfange wird diese Frage für Europa, das längst nicht mehr autark ist, nicht zu bejahen sein. Wenn wir uns aber an die Darlegungen Professor Delbrücks erinnern, werden wir geneigt sein, immerhin eine sehr wesentliche Vermehrung der europäischen Produktion für erreichbar zu halten. Die innere Kolonisation der Staaten Europas kann also das Schicksal des Erdteiles noch sehr wesentlich erleichtern und für jenen Menschenzuwaehs, der trotz aller theoretischen Warnungen nicht ausbleiben wird, noch auf einige Zeit versorgen. Wir beabsichtigen hier nicht, auf die einzelnen Zweige der Innenkolonisation, deren Besprechung weit über den Rahmen dieser Studie hinausgehen würde, näher einzugehen. Nur kurz andeuten wollen wir, wie groß ihr Arbeitsgebiet ist, indem wir einige der wichtigsten Themen aufzählen. Zunächst wollen wir darauf hinweisen, wie ungleich die Hektarerträge in den Staaten Europas sind. So ernteten z. B. Belgien und die Niederlande auf einem Hektar doppelt soviel Körnerfrüchte als Frankreich und das frühere Österreich-Ungarn und über ein Viertel mehr als Deutschland. Der Zusammenhang zwischen dichter Besiedlung und fortgeschrittener Landwirtschaft ist hier ganz unverkennbar. Die Notwendigkeit hat eben dazu geführt, Bearbeitungsmethoden anzuwenden, die Höchsterträge bringen. Weniger besiedelte Länder haben sich mit der Sache offenbar nicht so intensiv beschäftigt. Auch das Verhältnis der Ackerfläche zur Gesamtfläche des Staates ist nicht überall in Europa gleich. Wir bringen darüber später einige Zahlen und wollen jetzt nur bemerken, daß selbst Deutschland trotz seiner vorgeschrittenen Bodenkultur noch 36.850 &m2 Ödland hat, das ist 2Y2mal soviel Fläche, als das alte Königreich Sachsen hatte. Es ist dies zum größten Teile Moorland, das noch der Kultivierung harrt, trotzdem im ver- gangenen Jahrhundert schon große Strecken urbar gemacht wurden. 18 Die Bevölkerungsverhältnisae der Erde Rußland 60, Spanien 66, Bulgarien 69, Griechenland 78, Serbien 86, Schweden 94, das frühere Ungarn 95, Dänemark 98, Rumänien 100, Frankreich 105, Österreich-Ungarn 118, Portugal 125, Norwegen 148, das frühere Österreich 153, die Schweiz 168, Italien 177, Deutschland 185, Großbritannien mit Irland 213, Niederlande 286, Belgien 337. Man sieht, daß von den Großstaaten nur Rußland dünn be- völkert war. Frankreich, wo eine ins Volksbewußtsein über- gegangene zurückhaltende Bevölkerungspolitik (Zweikindersystem) die Vermehrung einsehränkte, hat noch genügend Boden für seinen derzeitigen Bedarf. Österreich-Ungarn war bis wenige Jahre vor dem Kriege noch imstande, seinen Bedarf durch Eigen- produktion zu decken. Erst in den letzten Vorkriegszeiten war es genötigt, Getreide einzuführen. Seit der Zerschlagung der Donaumonarchie in kleine Nachfolgestaaten haben sich die Ver- hältnisse für jeden einzelnen derselben ungeheuer verschlechtert. Italien, Deutschland, Großbritannien waren längst auf die Ein- fuhr angewiesen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Grenze zwischen nützlicher Dichte und beginnender Übervölkerung etwa bei 100 Einwohnern pro Quadratkilometer Kulturfläche, also etwa bei dem Zustande, in dem sich heute Frankreich befindet, annimmt. Was dichter bevölkert ist, lebt schon schwer und leidet, wenn es nicht Zuschnb von außen bekommen kann, Mangel. Der für übervölkerte Gebiete nötige Austausch ihrer Industrie- produkte gegen Agrarerzeugnisse volksärmerer Nachbarländer vollzieht sich am leichtesten, wenn diese Nachbargebiete dem gleichen Staat angehören, weil dann der Handel nicht durch die hemmenden Einflüsse politischer Grenzen beengt wird. Der moderne Wirtschaftsverkehr drängt also zur Schaffung großer Wirtschaftsgebiete. Faktisch hatten sich solche nach Überwindung der Kleinstaaterei vergangener Zeiten überall in Europa gebildet. Die Friedensschlüsse nach dem Weltkriege brachten einen ver- hängnisvollen Rückschlag in dieser Entwicklung. — Wenn wir 100 Einwohner pro Kulturquadratkilometer als die Grenze der Übervölkerung angenommen haben, ergibt sieh, daß alle europäischen Großstaaten (mit Ausnahme Rußlands), dann die Schweiz, die Niederlande und Belgien schon vor dem  26 Das StädteweseB Außerdem gab es in Deutschland 1910 noch 994 Städte unter 10.000 Seelen mit zusammen 3'5 Millionen Einwohnern, so daß in diesem Jahre 1276 Städte mit 18'8 Millionen Einwohnern und außerdem 51.338 Landgemeinden mit 21*2 Millionen Einwohnern, deren Beschäftigung nicht der Landwirtschaft diente, bestanden. Im früheren Österreich gab es im Jahre 1910 173 Städte über 10.000 Seelen mit 6 6 Millionen Einwohnern, in Ungarn 147 solcher Städte mit 4*4 Millionen Einwohnern. Interessant ist speziell das Anwachsen der Großstädte (über 1 Million Seelen). Es wuchsen z. B. seit dem Jahre 1800; London von 0'95 Millionen auf 6*7 Millionen; Paris von 0'65 auf 4vl5: Berlin von 0T7 auf 3’8; Wien von 023 auf 23 (jetzt nur P84); St. Pe- tersburg von 0'36 auf 1'96 (jetzt nur 0*7); Moskau von 0*25 auf 1*53 (jetzt nur 1*35); Konstantinopel von 0*6 auf 1*2; Tokio von 0 8 auf 2T7; Osaka von 0*4 auf 1*25; Hankou von 0'6 auf 1*44; Kalkutta von 0'6 auf 1'22; New York von 0'08 auf 7*4; Chicago von 0 004 auf 2*70; Philadelphia von 0*02 auf 1*82; Buenos Aires von 0'09 auf 1*62; Rio de Janeiro von 0’09 Millionen auf 1*12 Millionen. Diese Ziffern geben aber noch weitaus kein Bild, wie sehr heutzutage die Menschheit in die Städte zusammengedrängt ist. Hiezu würde ein so umfangreiches Ziffernmaterial erforderlich sein, daß es den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten würde. Ich will mich also darauf beschränken, jene Städte der Erde in Betracht zu ziehen, die mehr als 120.000 Einwohner haben. Es bleiben dann freilich die Unmassen kleinerer Städte unbe- rücksichtigt. Da aber Städte mit über 120.000 Einwohnern auch heute als große Städte gelten können, in denen die charakteristischen Eigenschaften der Industriezentren (viel besitzloses Proletariat, Wohnungsmisere usw.) meist zu finden sind, möge diese Auswahl für eine flüchtige Charakteristik genügen. Rechnet man (z. B. nach Hickmanns Universalatlas) diese großen Städte zunächst für die europäischen Staaten zusammen, so findet man, daß besitzt: England 28 solcher Städte mit zusammen 14,325.000 Ein- wohnern, Deutschland 37 Städte mit 14,140.000 Einwohnern, Frankreich 14 mit 7,088.000, Rußland 12 mit 4,199.000, Italien Die Malthuslehre 36 haben wir diese Grenze mit etwa 100 Einwohnern pro Kultur- quadratkilometer angenommen. Als Ursache des sozialen Elends zeigt sich also, ganz nach Malthus, einerseits die örtliche Übervölkerung. Anderseits aber müssen wir den Mangel einer ausgleichenden internationalen Organisation als die zweite Ursache erkennen, der abzuhelfen aber wohl unendlich schwer ist. Zum mindesten scheint die heutige Menschheit trotz mancher Ansätze noch nicht reif dazu. Wenn sich aber der Malthus-Satz für übervölkerte Gebiete bisher als richtig erwiesen hat, kann man nichtsdestoweniger die Frage aufwerfen, ob dies bei gesteigerter Kultur auch immer so bleiben müsse. Damaschke, »Die Bodenreform«, sagt darüber: Was Malthus dazu führt, sein Bevölkerungsgesetz als so fest begründet anzu- sehen, ist seine Anschauung vom »Gesetz der Produktion auf Land« oder, wie es auch genannt wird, dem »Gesetz der ab- nehmenden Erträge«. Nach ihm wird überall der beste Boden zuerst in Angriff genommen. Die Kultur des minder guten Bodens, zu dem die Menschen später greifen müssen, erfordere mehr Kapital und Arbeit, und doch müsse »im Verhältnis, wie die Kultur sich ausdehnt, die Zunahme der früheren Durehschnitts- produktion allmählich und regelmäßig abnehmen«. Der Ertrag einer Fläche sei nicht nur endlich beschränkt, sondern es müsse auch jede Steigerung des Ertrages durch Aufwendung von ver- hältnismäßig mehr Arbeit und Kapital erkauft werden. Dieses Gesetz der Produktion auf Land ist wohl richtig — unter einer Bedingung; Arbeit und Kapital werden stets in unveränderter Weise angewandt. Sobald aber die Arbeit- und Kapitalverwen- wendung eine andere wird, tritt dadurch eine Tendenz in Wirk- samkeit, die der Tendenz der sinkenden Erträge widerstreitet. Das spricht Malthus selbst einmal im 10. Kapitel des III. Buches aus; »Ein verbessertes Kultursystem kann beim Ge- brauch besserer Geräte eine lange Zeit die Tendenz einer aus- gedehnten Kultur und einer großen Kapitalzunahme, geringere Verhältniserträge zu liefern, mehr als aufwiegen.« Er ist aber diesem Gedanken nicht nachgegangen und hat nament- lich nicht erwogen, ob eine Wechselbeziehung zwischen der Ver- mehrung der Bevölkerung und der Verbesserung des Knltursystems 3* 34 Die Malthusichre Man wird bei der Beurteilung solcher Vorschläge nicht außer acht lassen dürfen, daß sie gerade bei jenem Teil der Bevölke- rung unwirksam sind, von denen die eigentliche Volksvermehrung ausgeht. Wie .dem auch sei — jedenfalls gilt, daß, während diese und andere Folgerungen, die Malthus für die praktische Politik aus seiner Lehre gezogen hat, zweifelhaft sein mögen, die Haupt- züge der Malthusschen Bevölkerungslehre mit den nötigen Ver- besserungen, wie sie Psychologie und Statistik an die Hand geben, auch heute ziemlich allgemein anerkannt sind. Daß sich die Bevölkerung Europas rascher vermehrt hat, als die Lebensmittelerzeugung des Weltteils , znnahm, haben wir be- reits besprochen. Vom Standpunkte Europas ist also der Malthüs- Satz richtig, und wir haben allen Grund, zu glauben, daß er bei weiterer Bevölkerungszunahme sich immer zutreffender erweisen werde. Auch für China, Indien und Japan stimmt er, also, kurz gesagt, für alle Ubervölkerungsgebiete. Wenn wir aber die Totalität der Erde ins Auge fassen, die eben noch nicht übervölkert ist, dann sahen wir bereits, daß ihr heu- tiger Bevölkerungszustand die Menge der erzeugten Lebensmittel nicht überschreitet. Sonst hätten wir längst die Anzeichen einer Welthungersnot merken müssen, während doch der Zufluß aus anderen Erdteilen nach Europa ein überaus reichlicher war, so lange es nicht von der finanziellen Kalamität der Nachkriegszeit erfaßt war. Die Hungersnöte in China und Indien erklären sich durch mangelhafte Zivilisation, insbesondere mangelhaften Ver- kehr und mangelnde Kaufkraft. Wenn diese Faktoren behoben wären, würde es keinem Zweifel unterliegen, daß deren Notstand durch Zuschub von außen behebbar wäre. Wenn eine internationale Organisation bestände, die dafür sorgt, daß solchen Äbgangsgebieten das Nötige geliefert werde, könnte die Erde ihre heutige und eine noch viel größere Be- völkernngszahl ertragen. Allerdings gilt dies, wie wir auf Seite 10 besprachen, nur mehr für einige Jahrhunderte. Denn für dicht bevölkerte Gebiete hat sich der Malthus-Satz, daß die Bevölkerung rascher zunimmt als die Nahrungsmittel, wahr erwiesen. Es gibt also eine Grenze, über die die Bevölkerung nicht wachsen darf, ohne Mangel zu leiden. Bei dem heutigen Kulturgrade Europas 52 W eltkolonisation Reich damals genommen hatte, ein Abnehmen der Auswanderung geltend. (1880 bis 1890 13 Millionen, 1890 bis 1900 05 Mil- lionen, 1900 bis 1910 0-28 Millionen). Das Gegenstück bildet Spanien, das trotz geringer Bevöl- kerungsziffer ebensoviel Auswanderer aufweist als Deutschland. Im Durchschnitte der letzten zehn Jahre vor dem Kriege sind etwa 12 Millionen Menschen jährlich aus Europa ausge- wandert, wogegen der jährliche Menschenzuwaohs etwa 4 Mil- lionen (0-88°/0 der Volkszahl) betrug. Die bisherige Auswanderung war also viel zu gering, um der wachsenden Überfüllung Europas abzuhelfen. Da aber weder die innere Kolonisation der Einzelstaaten noch jene ganz Europas rasch genug vorschreiten wird, um mit dem Wachstum der Bevölkerung gleichen Schritt zu halten, könnte nur eine großzügige Auswanderung in außereuropäische Gebiete Abhilfe schaffen. Freilich könnte auch hier nur internationale Gemeinschafts- arbeit zum Erfolg führen; denn schon das Problem selbst müßte nicht vom Einzelstaat, sondern vom gesamteuropäischen Stand- punkt aus aufgezäumt werden, die Abhilfen aber, die in der Ein- wanderungsbewilligung in außereuropäische Gebiete und den ent- sprechenden Vorsorgen bestünden, würden die Zusammenarbeit aller Völker der Erde bedingen. Die Schwierigkeit in all diesen Fragen liegt immer darin, daß es derzeit noch kein Forum gibt, das geeignet wäre, diesen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Staaten her- beizuführen. Das darf aber nicht hindern, wenigstens in der Theorie die hier niedergelegten Wahrheiten immer wieder zu betonen. Die Bevölksrungsverhältnisse der Erde 17 Europa hat daran das allergrößte Interesse, denn ihm mangelt, wie wir in den folgenden Kapiteln deutlich sehen werden, der Raum, um seinen Bevölkerungszuwachs auf eigenem Gebiete zu versorgen. Es kann sich aber als Machtfaktor von der bisherigen Größe im Weltgetriebe nur erhalten, wenn man einig vorgeht. — Das ist die wichtigste Frage der nächsten Jahrzehnte. Versteht es Europa nicht, europäische Politik zu treiben, statt sich im Hader der Einzelstaaten zu erschöpfen, so ist seine Weltgeltung dahin. Europa. Rekapitulieren wir kurz das über die Verteilung der Be- völkerung auf der Erde Gesagte, so finden wir : Es haben Einwohner: pro Quadrat- kilometer pro Acker- quadrat- kilometer pro Kultur- quadrat- kilometer Europa. . . . ... 45 161 85 Asien . . . . ... 21 119 32 Afrika . . . . ... 4-4 36 9-2 Amerika. . . ... 55 45 105 Australien . . ... 09 18 2-06 Europa ist also, wie bekannt, der am dichtesten bevölkerte Erdteil. Dies hatte zur Folge, daß es auch in der Ausnutzung des verfügbaren Bodens am weitesten vorgeschritten ist. Von der Gesamtfläche der einzelnen Weltteile macht das kultivierte Land (Ackerland, Wiesen und Gärten) in Europa zirka 50%, in Asien 18%, in Afrika 12%, in Amerika 12% und in Australien gar nur 5% aus. Innerhalb Europas ist die Verteilung der Bevölkerung wieder eine sehr ungleichmäßige. Vor dem Weltkriege — die diesbezüglichen neuen Verhält- nisse sind noch schwer ziffermäßig festzustellen — hatten die damals bestandenen wichtigeren Staaten Europas folgende Ein- wohnerzahlen pro Kulturquadratkilometer: Landwehr, Übervölkertes Land, 2 Innere Kolonisation 43 Holland verdankt einen großen Teil seines besten Bodens der Trockenlegung der Moore, die dort schon im Jahre 1630 begann. Wie sehr die Bodenerträge in vielen europäischen Ländern noch durch Verbesserung der Bodenbearbeitung, durch Saatgut- auswahl und -Züchtung, durch eine verbesserte Düngerbehandlung, durch künstliche Düngung, durch künstliche Bewässerung usw. gehoben werden könnten, wird heute oftmals in Versammlungen, Büchern und Zeitschriften besprochen. In dicht besiedelten Gegenden ergibt sich überdies die Mög- lichkeit einer fortschreitenden Industrialisierung der Land- wirtschaft. Die Hebung des Molkereiwesens, die Verbreitung der Klein- tier- und Geflügelzucht, des Gartenbaues sowie der verschieden- artigsten landwirtschaftlichen Nebengewerbe kann außerordentlich zur Hebung des Volkswohlstandes beitragen. Wieviel sich auf dem Gebiete der Energiewirtschaft (z. B. Ausnutzung der Wasserkräfte) und des Verkehrswesens zur Hebung des Volkswohlstandes noch tun ließe, wird heute in den Fachkreisen der notleidenden Staaten fortwährend erörtert Die Grundlage für die durch die Innenkolonisation ange- strebte Intensivierung des landwirtschaftlichen Betriebes ist eine vernünftige Bodenreform, die anstrebt, nicht gehörig ausgenutztes Land einer besseren Verwertung zuzuführen, insbesondere auch durch Überführung nicht genügend intensiv betriebenen Groß- grundbesitzes in Mittel- und Kleinbesitz. Freilich dürfen dabei jene Großgrundbesitzerfamilien, die seit Jahrhunderten mit der Heimaterde verwachsen sind wie keine andere Schicht der Bevölkerung, nicht entwurzelt werden. Wenn solche Familien ihre Wirtschaften gut betreiben, sind sie vermöge ihrer Bildung und ihrer Mittel, die sie befähigen, allen technischen Fortschritten Eingang auf ihren Gütern zu verschaffen, eine Wohltat für die landwirtschaftliche Kultur. — Nur zu häufig ist aber in neuerer Zeit der Großgrundbesitz zu einem Handels- objekt geworden, das sehr oft den Besitzer wechselt und dann die oben genannten volkswirtschaftlichen Vorteile verliert. Solchen Erscheinungen gegenüber muß die systematische Arbeit der Boden- reform einsetzen. Allerdings erfordert die Verwirklichung der 44 Innere Kolonisation hier angedeuteten Kulturideen ein ungeheures Maß von Arbeit. Aber darüber muß sieh das Volk Idar werden: Um leben zu können, müssen die übervölkerten Gebiete Europas mehr und besser arbeiten als alle anderen Teile der Erde. Das verträgt sich zwar schlecht mit der beliebten Forderung nach Herabsetzung der Arbeitszeit; es verträgt sich auch schlecht mit der überall bemerkbaren Verminderung der Autorität — aber es ist die Wahrheit. i ‘■u il; Wenn wir selbst- leben und für die kommenden Generationen vorbauen wollen, wird wohl nichts übrig bleiben, als zu harter Arbeit unter der Führung leitender Autoritäten zurückzukehren. . »V e > i- • u ■*»■> < rf-. ? ? \ : * # •• * ■•• • •. ' * • . , ) r u . ,v‘. . :■< "> / S : 1 " r - U * ) ' ( : : * f . - l - /../■> .. ’ 5 H « •5 • -1 '> U t 5 « i v i c , «r , JK 1 ' - ■ * e . -n 'fei- dj j j T f ' u f ' ■■ J r ; .« . . ' * - v - '» : h ■' « » * < U . ■ , ‘ V . . , M r ‘ . i r. ,, .. > • ■ . -i- • - • EINE BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE STUDIE ÜBER GEGENWART UND ZUKUNFT EUROPAS OTTOKAR LANDWEHR Generalmajor D. R. Die Bevölkerungsverhiiltnisse der Erde n seitig bedrängten. Das älteste uns bekannte derartige Beispiel ist wobl jenes Babylons. Dessen Geschichte können wir, allerdings nur mehr in Andeutungen, bis zum Jahre 3800 v. Ohr. ver- folgen. Babylonien war einst ein dicht bevölkertes, reich kulti- viertes Land. Die Sage behauptet, daß nach dem Turmbau zu Babel Sprachenverwirrung eingetreten sei und die Völker sich getrennt hätten. Modern ausgedrüokt heißt dies wohl, daß die verschiedenen dort zusammengepferchten Nationen keinen Raum mehr hatten und sich teils in gegenseitigen Kämpfen aufrieben, teils aus- wanderten. Heute ist das einst so reiche Gebiet verödet. Mit zunehmender Zivilisation sind allerdings die Hemmnisse der Volksvermehrung (Kriege, Seuchen) immer unwirksamer und die Bevölkerungszunahme ist immer stärker geworden. So hat die Erde heute eine Bevölkerungszahl erreicht, bei der sich fort- schreitende Vermehrung, gar wenn sie eine Verdopplung ist, äußerst schnell fühlbar macht. Doch lassen wir nunmehr die Zukunftssorgen und kehren wir zur Gegenwart zurück. Zunächst müssen wir festzustellen trachten, was man beim heutigen Zustande als Übervölkerung zu betrachten hat. Eine große Dichtigkeit der Bevölkerung ist im allgemeinen bei sehr großer Fruchtbarkeit des Landes, Reichtum desselben an Erzen und fossilen Brennstoffen, einfachen Bedürfnissen der Bewohner (Java), intensiver Bodenwirtschaft (China, Lombardei), hoher Entwicklung des Verkehrswesens und der Industrie, bei vorteilhafter Gestaltung der Bodenoberfläche und günstiger Ver- teilung von Wasser und Land (England, Belgien, Sachsen) usw. möglich. Sie kann auch entstehen, ohne daß das Gebiet, auf dem sie sich befindet, ausreichende Nahrungsmittel für die Menschen zu liefern vermag, sei es, daß ihnen Industrie und Handel ge- nügend Erwerb verschaffen, oder daß ihnen Kolonialländer mit oder ohne Vergeltung die nötigen Mittel liefern (Verzehrung von in den Kolonien erworbenen Vermögen, Tribute), oder daß ihnen das Ausland Zins zu zahlen hat. Es kann aber auch eine sehr dichte Bevölkerung die Folge von leichtfertiger Eheschließung und Kinderzeugung sein. Fehlt es in einem solchen Falle an  Das Städtewesen 27 11 mit 4,100.000, Spanien 8 mit 2,295.000, Polen 5 mit 2,103.000, Niederlande 5 mit 2,047.000, Belgien 3 mit 1,206.000, Österreich 2 mit 1.997.000, Ungarn 1 mit 1,240.000, Europäische Türkei 1 mit 1,200.000, Ukraine 3 mit 1,089.000, Tschechoslowakei 2 mit 877.000, Dänemark 1 mit 644.00o/ Portugal 2 mit 629.000, Schweden 2 mit 605.000, Lettland 1 mit 569.000, Schweiz 3 mit 468.000, Rumänien 2 mit 475.000, Griechenland 3 mit 445.000, Norwegen 1 mit 256.000, Litauen 1 mit 205.000, Danzig 1 mit 194.000, Finnland 1 mit 186.000, Estland 1 Stadt mit 138.000 Einwohnern. In ganz Europa bestehen also 151 Städte von über 120.000 Einwohnern mit zusammen 62,720.000 Menschen. Man sieht, daß das Städtewesen in England und Deutsch- land weitaus am stärksten entwickelt ist, weit schwächer in Frank- reich und Italien. Das zaristische Rußland hatte 18 Städte mit über 120.000 Einwohnern, die zusammen über 8 Millionen Seelen beherbergten. Auch heute kommt Rußland mit 12 Städten von zusammen 4,199.000 Einwohnern gleich hinter Frankreich. Dies erklärt sich durch die Größe des Reiches und beeinträchtigt dessen agrarischen Charakter nicht. Es ist aber deswegen bemerkenswert, weil es dem Verständnis näherbringt, wieso gerade das im Durchschnitt schwach besiedelte Zarenreich, in dem von einer Übervölkerung keine Rede sein konnte, trotzdem seit Jahrzehnten der Herd an- archistischer Umtriebe war, die zur Revolution führten und es ermöglichten, daß sich dort jahrelang das kommunistische Regime halten kann. Diese großen Städte beherbergen nämlich eine ganz gewaltige Menge geistigen Proletariats, bei dem die Umsturzideen, begünstigt durch die Rückständigkeit des früheren Regimes, einen besonders fruchtbaren Boden fanden. — Je mehr große Städte ein Land hat, je stärker seine Industrie entwickelt ist, ein um so größerer Teil der Bevölkerung bekommt die Härte des Kampfes ums tägliche Brot mit einer Wucht zu spüren, von welcher der Bauer, der auf seiner Scholle lebt, keine Vorstellung hat. Vergleichen wir Europa mit den anderen Weltteilen, so zeigt sich; Europa hat 151 Städte über 120.000 mit zusammen 62,720.000 Einwohnern; Asien hat 87 Städte über 120.000 mit zusammen 40 Innere Kolonisation sieht ans ihr, daß — vor dem Kriege — nur Spanien und Serbien gerade so viel Werte einführten als sie ausführten. Die Ausfuhr aberwiegt nur bei Argentinien (40 Mark), den Vereinigten Staaten von Amerika (26 Mark), Brasilien (11 Mark), Rumänien (20 Mark), Ägypten (16 Mark), Mexiko (16 Mark), Rußland (7 Mark) und Britisoh-Indien (3"4 Mark pro Kopf). In allen anderen dort aufgezählten Staaten überwog die Ein- fuhr (fast alle europäischen Staaten). Die stärksten Einfuhrüber- schüsse weisen die sehr dicht bevölkerten Länder, und zwar die Niederlande, Belgien und die Schweiz auf (126,113 und 129 Mark pro Kopf). Großbritannien führte um 65 Mark pro Kopf mehr ein, als es ausführt, das Deutsche Reich, Frankreich und Italien um 26, 26 beziehungsweise 27 Mark. Das sind lauter hoch kul- tivierte Staaten mit konsumkräftiger Bevölkerung. Bei den be- dürfnisloseren Chinesen und Japanern ist der auf den Kopf ent- fallende Einfuhrüberschuß viel geringer (1*2 respektive 4 Mark). Britisch-Indien hat trotz seiner dichten Bevölkerung einen erheb- lichen Ausfuhrüberschuß (3-4 Mark pro Kopf); dieser ist durch die Kostbarkeit der dortigen Produkte und die Eigentümlichkeit der Verhältnisse genügend erklärt. Sonst aber sind alle Länder, die Ausfuhrüberschüsse haben, dünn besiedelt (Argentinien, Ver- einigte Staaten, Brasilien, Mexiko). Die Ein- und Ausfuhrverhältnisse der fünf Erdteile betrugen im Jahre 1911 in Millionen Mark: Einfuhr Ausfuhr Europa .... 52.110 = 66 % 40.960 = 59-2% Asien......... 8.160=10-3% 8.850= 12-7% Afrika........ 2.940 = 3'8% 2.460= 3-5% Amerika. . . . 13.610 = 17-2% 15.100 = 21-8% Australien. . . 2.120= 2'7% 1.980= 2-8% Wir sehen, daß Europa einen Einfuhrbedarf hatte, der seine Ausfuhr um 11.150 Millionen Mark überschritt. Europa wird eben von aller Welt, hauptsächlich aber von Amerika, beliefert, das schon im Jahre 1911 um 1490 Millionen Mark mehr Waren erzeugte, als es selbst bedurfte. Der Spezialhandel der Welt konzentrierte sich damals mit 66% Ein-und 59"2% Ausfuhr auf Europa, dann folgte Amerika 14 Die Bevölkerungsverhältnisse der Erde mehr selbst ernähren konnten, war der Zuschub aus den dünner besiedelten Gegenden unabweisliehes Bedürfnis. Der Chinese der Kulturgebiete ist dadurch zum erstklassigen Kaufmann erzogen worden. Betrachten wir nun Britisch-Indien. Im Jahre 1901 betrug dessen Bevölkerung 294 36 Millionen, wovon 23P9 Millionen auf die unmittelbaren, 62'46 Millionen auf die mittelbaren Besitzungen entfielen. Durch Pest und Hungersnot hatte in dem Jahrzehnt seit 1891 ein großes Gebiet, nämlich Zentralindien und das nordwest- liche Dekhan eine Abnahme der Einwohner erfahren, und zwar bei den mittelbaren Besitzungen von 5%. Die unmittelbaren Be- sitzungen dagegen wiesen einen Zuwachs von 4-7% auf. In diesem Dezennium betrug die Zunahme ganz Britisch- indiens nur 1‘5% gegen ll°/0 im vorhergegangenen. Die Auswanderung, der auch eine Rückwanderung entgegen- steht, betrug daher 1901 nur 34.147 Personen, darunter 21.000 Kulis. Die Sterblichkeit hatte namentlich durch Hunger und Pest sehr zugenommen. Sie stieg von 1899 bis 1901, auf das Tausend berechnet: in Bengalen von 31'2 auf 36’6, im Pandschab von 29'6 auf 47’7, in den Zentralprovinzen von 2ST auf 56’8, in Bombay von 35-7 auf 70T, in Berar von 39 9 auf S2'7, in Adschmir Merwara von 33-2 auf 120 usw. Im Jahrzehnt von 1901 bis 19.11 scheinen sich die Ver- hältnisse wesentlich gebessert zu haben. In diesem Dezennium betrug die Bevölkerungszunahme in den unmittelbaren Besitzungen 5‘5%, in den mittelbaren 12'9%. Die Zählung 1911 gibt die Bevölkerung Indiens mit über 315 Millionen an. Heute sind es etwa 333 Millionen. Diese gewaltige Menschenansammlung be- herbergt also auf relativ engem Raume wieder nahezu ein Fünftel der ganzen Erdbevölkerung. Trotz dieser außerordentlich großen Bevölkerungsdichte ist die Landwirtschaft ziemlich rückständig. Im Jahre 1903 waren vom Gesamtareal Britisch-Indiens nur 205'2 Millionen Acres = 830.460 hm1 wirklich bebaut; 37‘2 Millionen Acres lagen brach, 108 Millionen sind noch kulturfähig, 67'5 Millionen sind Wald, 134’4 Millionen Acres sind Ödland. Schiaßbetrachtung Ehe menschheitsfördernde Ideen in die Wirklichkeit umge- setzt werden können, muß zuerst diesem Geiste der Versöhnung zum Durchbruch verhelfen werden. Die wichtigste Aufgabe der Gegenwart erblicken wir daher in der Förderung dieses Geistes. Aber da niemand glauben wird, daß die Menschen von heute auf morgen Engel werden, wollen wir uns zur Stärkung dieses Geistes weniger auf altruistische Denkungsweise, als auf das Gebot realer Interessen verlassen, die eine fruchtbare internationale Zusammenarbeit gebieterisch fordern. Wir glauben, daß die vorliegende Studie ausreichend auf solche reale Interessen hingewiesen hat. Entweder widmet sich die Menschheit diesen und löst die schwebenden Fragen oder sie läßt mit Bewußtsein die dann unvermeidlichen Kata- strophen über sich hereinbrechen. Noch eine Bemerkung. Im Bewußtsein der Allgemeinheit wird gern internationales Denken mit Vaterlandslosigkeit ver- wechselt. Man glaubt oftmals, daß derWeltbürger kein guter Staats- bürger sein könne. Das ist grundfalsch. Die Durchführung des Programms, das wir angedeutet haben, erfordert im Gegenteil höchste Vaterlandsliebe, denn es beginnt mit dem Hinweis zur Entfaltung aller Kräfte zum Wohle des eigenen Landes. Von der Innenkolonisation des Vaterlandes ausgehend, soll sich der Mensch solange als möglich um die eigene Scholle bemühen, dann aber muß, weil wir zu zahlreich werden, der Blick in die Ferne schweifen und für kommende Geschlechter vorbauen. Das kann im gegenseitigen wohlverstandenen Interesse nur im Einvernehmen mit dem Nachbarn erfolgen. Zur Durchführung eines so großen Programms gehört vor allem Ordnung und Autorität in den einzelnen Staatswesen. Denn nur gesunde und zielbewußt geführte Einzelwesen können in ihrer Gesamtheit einen lebensfähigen Organismus bilden. Der Weltkrieg hat eine Epoche hochentwickelter, auf Weltwirtschaft gerichteter Zivilisation unterbrochen und an die Stelle allmählicher Evolution eine Reihe von Revolutionen gesetzt. Wenn wir vorwärts kommen wollen, müssen wir wieder zur zielbewußten Evolution zurückkehren. Landwehr, Übervölkertes Land. 5 / —** Schlußbetrachtung. Wenn wir die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen kurz zusammenfassen, tritt uns aus der Menge von Daten und Einzelfragen folgendes Bild klar vor Augen: Die Bevölkerung der Erde hat heute eine Zahl erreicht, bei der sich Volksvermehrungen ungeheuer rasch fühlbar machen. Insbesondere sind es die drei großen Übervölkerungsgebiete in Europa, China und Indien und die drei kleineren Menschen- anhäufungen in Japan, Ägypten und den Oststaaten von Nord- amerika, die im Vordergründe des weltwirtschaftlichen und poli- tischen Interesses stehen. Die Übervölkerung dieser Kulturgebiete erzeugt Interessen- gegensätze, die zu fortgesetzten Reibungen führen müssen. Von diesem Standpunkte betrachtet, war der Weltkrieg ein Versuch zur gewaltsamen Lösung der Differenzen, die in weltwirtschaft- licher Beziehung zwischen den Kulturstaaten — in erster Linie zwischen dem meeresbeherrsehenden England und dem aufstre- benden Deutschland — bestanden. Bisher ist nicht ersichtlich, daß durch den Krieg bezie- hungsweise die Friedensverträge, die ihm folgten, eine Klärung oder gar eine Besserung der weltwirtschaftlichen Differenzen er- folgt wäre. Das einzige bisher erkennbare Resultat ist eine ge- waltige Verschiebung der Maehtverhältnisse, und zwar zugunsten Amerikas. Die Weltwirtschaft, die vor dem Kriege bereits einen hohen Grad der Entwicklung erlangt j^at, ist in Unordnung ge- raten. Überall, auch in den Siegerstaaten und selbst in Amerika, machen sich schwere Wirtschaftskrisen bemerkbar. Und während wir noch an den Folgen des kaum vorübergegangenen Gewitter- sturmes leiden, wetterleuchtet es bereits an den verschiedensten Punkten des Erdballs. Neue Kriege stehen bevor. Die Bevölkerungsverhältnisae der Erde 23 Es wird sich also zunächst in den schon heute übervölkerten Gebieten Europas die Übervölkerung bis zur Unerträglichkeit steigern. Dann werden gewaltsame Lösungen erfolgen, ähnlich, nur noch viel umfangreicher, als der Weltkrieg war. Ob aber dann der geschwächte Körper stark genug sein wird, diese Krisen zu tiberstehen, ohne in Marasmus zu verfallen, wird die Zukunft lehren. Vielleicht bricht die alt gewordene europäische Kultur zusammen wie einst die babylonische, und andere, jüngere Weltteile übernehmen die Führung. — All das wäre sicherlich nicht notwendig, wenn sich Europa bereit finden würde, weitvorausschauende Gemeinschaftsarbeit zu leisten. Wir haben in früheren Abschnitten dieser Schrift gefunden, daß die Erde ;im |Durohsehnitt derzeit noch keineswegs über- völkert ist und Boden genug hat, um noch einige Jahrhunderte lang eine weitgehende Vermehrung der Bevölkerung zu ertragen. Es würde sich also nur darum handeln, die örtliche Über- völkerung auszugleiohen, indem man die Volksüberschüsse der zu dicht besiedelten Länder in dünner besiedelte ableitet, sie kultiviert und die Produktion überall so weit als möglich steigert. 10 Die Bevölkemngsverhältnisse der Erde Das Festland der ganzen Erde inklusive der Polargebiete umfaßt 151 Millionen Quadratkilometer. Es würde also im Jahre 2800 jedes Fleckchen der Erde mit über 100 Einwohnern pro Quadratkilometer besetzt sein, das beißt nahezu so dicht als heute Deutschland. Dieser Zustand träte schon in 4=00 Jahren ab heute gerechnet ein. Man kann nun natürlich an den Rechnungsgrundlagen deu- teln und z. B. in der Hoffnung auf technische Vervollkommnungen und neue Erfindungen eine noch dichtere Besiedlung (der ganzen Erde!) als sie heute Deutschland hat, für möglich halten. Man wird dann einige Jahrhunderte mehr herausrechnen. Aber die ständige Verdopplung kann keinesfalls auf so lange Zeiträume, als die bisherige Entwicklung des Menschengeschlechtes umfaßte, anhalten, ohne das Leben unmöglich zu machen. Denn wenn wir die obige Rechnung fortsetzen, finden wir, daß schon im Jahre 3600 über 131.000 Milliarden Menschen vorhanden sein würden. Die 151 Millionen Quadratkilometer der festen Erdoberfläche entsprechen 151.000 Milliarden Quadratmeter. Es würden aber schon im Jahre 3600 — also von heute ab in nicht ganz 1700 Jahren — 131.000 Milliarden Menschen da sein, das heißt, es würde nahezu auf jedem Quadratmeter der festen Erdober- fläche ein Mensch leben müssen. r Die Lebensmöglichkeit hört offenbar schon viel früher auf. Jedenfalls zeigt sich, daß die heutige Menschheit bereits eine Zahl erreicht hat, deren Verdopplung nur mehr in die Jahr- hunderte, nicht aber in die Jahrtausende möglich ist. Es muß also entweder durch Katastrophen oder durch natür- liche oder künstliche Verzögerung der Vermehrung eine Ein- dämmung erfolgen. In vorgeschichtlicher Zeit mögen oftmals Naturkatastrophen (vergleiche z. B. die Sage von der Sintflut) den Regulator gegen zu rasche Zunahme der Bevölkerung abgegeben haben. Pest und Hungersnot taten regelmäßig ihren Dienst. Der Mensch sorgte unbewußt durch zahlreiche Kriege dafür, , daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Große politische Katastrophen ergaben sich immer dort, wo die Völker zu zahlreich geworden waren und einander gegen- — Benützte Quellen. Die Erde und ihre Bewohner, Yen K. Fr, Vollrath-Hoffm ann (um 1830). Europas Neue Staatengrenzen. Mit einer Völkerkarte und erläuternden statistischen Flächen- und Bevölkerungsangaben. Bearbeitet von Alois Fischer. Gr. Freytag und Berndt G. m. b. H., Wien und Leipzig, 1920« Geographisch-statistische Notizen. Von II. Wichmaun. In Justus Perthes Taschenatlas, 1899. Otto Hübners Geographisch-statistische Tabellen aller Länder der Erde. Von [Dr. Franz Juraschek. Verlag von Heinrich Koller, Frankfurt am Main 1915. Professor Hickmanns Geographisch-statistischer Handatlas. Auf- lagen 1917 und 1921. G. Freytag und Berndt 6. m. b. H., Wien. Statistische Skizze der Österreichisch-ungarischen Monarchie, Von Dr. H. F. Bitter von Braehelli. Leipzig 1892, J. C. Hinriohsche Buchhandlung. Wirtschaftsstatistische Materialien über Deutschösterreich. Wien 1919. Im Selbstverlag der Niederösterreichischen Handels- und Gewerbe- kammor. Das mitteleuropäische Wirtschaftsbündnis und der internatio- nale Handelsverkehr. Herausgegeben vom Mitteleuropäischen Wirt- schaftsverein in Österreich. Wien und Leipzig 1917. Buchdruckerei und Verlagsbuchhandlung Carl Fromme G. m. b. H. Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not. Von Adolf Damaschke. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1919. Die Grundlagen der Agrarwirtschaft in Österreich. Von Dr. H. C. Siegfried von Strakosch. Wien 1917, Verlag von F. Tempsky. Die Weltkrise, ihr Erreger und seine Bekämpfung. Prolegomena zu einem jeden Friedensschlüsse, der als Befreiung von der Kultur der Selbst- zerfleisohung wird auftreten können. Von Anaxagoras. Wien 1919, Verlag von Moritz Perles. Erinnerungen. Von Alfred von Tirpitz. Leipzig, Verlag von IC. F. Koehler, 1919. 28 Das Städtewesen 32,777.000 Einwohnern; Amerika hat 72 Städte über 120.000 mit zusammen 34,606.000 Einwohnern; Afrika hat 8 Städte über 120.000 mit zusammen 2,266.000 Einwohnern; Australien hat 5 Städte über 120.000 mit zusammen 1,371.000 Einwohnern. Auch von diesem Gesichtspunkt ist also das an und für sich übervölkerte Europa den größten Gefahren ausgesetzt, und die Schärfe des sozialen Kampfes muß um so ärger werden, je mehr in der Zukunft die städtische Bevölkerung anwäehst. Nicht umsonst erschallt daher schon seit Jahrzehnten der Warnungsruf weitblickender Geister: »Zurück zur Scholle!« Das Zusammendrängen in den Städten, die Flucht vor dem Landleben, ist eine der besorgniserregendsten Erscheinungen, die unserer alten Kultur nur zu leicht ein vorzeitiges Ende be- reiten kann. Der einseitigen Bevorzugung der Industrie muß deswegen wieder eine höhere Bewertung des Ackerbaues entgegenwirken. Nur wenn es gelingt, dem Zusammendrängen in den Städten Einhalt zu tun und die Bevölkerung gleichmäßiger im Lande zu verteilen, ist die für den Lebensunterhalt der europäischen Staaten so notwendige Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion zu erreichen. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, den bei ständigem Anwachsen der Bevölkerung drohenden Kampf aller gegen alle zu bannen und den Menschen eine Existenz zu bieten, die sie zufrieden und zu ruhiger kultureller Weiterentwicklung fähig macht. Es haben daher schon vor dem Krieg in jenen Ländern, die diese Verhältnisse am meisten zu fühlen bekamen, das ist in Eng- land, in Deutschland und auch in Österreich, Bestrebungen ein- gesetzt, die eine Auflockerung der Bevölkerungsdichte der Städte und eine bessere Besiedlung des flachen Landes zum Ziele haben. Ich meine die »Gartenstadtbewegung« und die verschiedenen » Siedlungsbestrebungen«. Dies sind Richtungen, welche die höchste Beachtung und Förderung beanspruchen dürfen. Insbesondere im neuen Österreich, das bei seinem Lebensmitteimangel und den Verlegenheiten, die ihm die Ernährung der Millionenstadt Wien bereitet, die Wahr- heit des Rufes »Zurück zur Scholle« gar deutlich empfinden ge-  !. i Europäische Kolonisation, Wenn wir uns erinnern, daß mit Ausnahme Rußlands, Spaniens und einiger Balkanstaaten die europäischen Länder alle schon heute mehr als 100 Einwohner pro Kulturquadratkilometer haben und daß die durch innere Kolonisation erreichbare Pro- duktionssteigerung nicht nur Grenzen hat, sondern daß es in den am intensivsten kultivierten Ländern, wie z. B. Belgien, fraglich ist, ob sich die Erträge überhaupt noch weit über die Vorkriegsleistung steigern lassen, wird klar, daß eine Selbst- ernährung Europas bei steigender Einwohnerzahl nur dann zu erreichen wäre, wenn wir Europa als ganzes betrachten und an- nehmen, daß es mit der Zeit gelingen werde, die heute noch dünner besiedelten Gebiete durch die Überschüsse an Menschen- material, welche die übervölkerten Gebiete nicht mehr verwerten können, zu kultivieren. Das heißt, es müßte aus den alten westlichen und mittel- ' $ • europäischen Kulturländern eine systematische Auswanderung in /die menschenarmen Gebiete, insbesondere nach Rußland, in die Wege geleitet werden. Das sind Voraussetzungen, auf deren Erfüllbarkeit in abseh- barer Zeit man wohl wenig Hoffnung haben wird. Insbesondere in unserer heutigen politisch und sozial zerrütteten Lage er- scheinen sie fast aussichtslos. Möglich übrigens, daß gerade die jetzige desolate Situation Rußlands, in die es durch die bolsche- wistische Irrlehre geraten ist, die Sache* erleichtert, sobald die Bolschewisten abgewirtschaftet haben. Dann mag ein Aufblühen Rußlands erfolgen, denn dort ist noch Raum für ungeahnte Entwicklungen. Vielleicht fällt in Zukunft ihm die führende Rolle zu. Innere Kolonisation 4L mit 17'2% reßpektive 21'8%- Aus diesen Ziffern springt recht deutlich in die Angen, daß Europa längst aufgehört hat, sich selbst zu genügen. Das wissen wir freilich alle, aber wir würdigen die Folgen dieser Tatsache zu wenig. Meist waren wir vor dem Kriege stolz darauf, in wie hohem Maße sich der europäische Außenhandel entwickelt hat; daß wir aber damit auch von Übersee abhängig sind, ist uns erst durch den Welt- krieg so recht zum Bewußtsein gekommen. Was diesmal den Mittelmächten passiert ist — daß sie zugrunde gehen mußten, weil ihnen die auswärtige Zufuhr abgeschnitten war —, kann bei einer anderen Kräftekonstellation das näehstemal andere Staaten treffen; ja es kann, wenn vielleicht in Zukunft einmal Europa als Ganzes um seine Weltgeltung ringen muß, für den ganzen Erdteil zum Verhängnis werden. Professor Schullern sagte deshalb schon im Dezember 1915 in seiner Einleitung zu Jurascheks geographisch-statistischen Tabellen; »Es sei auch der Gedanke nicht ganz außer acht ge- lassen, daß der Krieg möglicherweise Verschiebungen in den Binnenwanderungen, in der Berufsgruppierung usw. zeitigen wird. Darin würde aber ein Umstand von um so größerer Wichtigkeit liegen, als man gerade aus dem Kriege hat lernen können, wie sehr das Produktions- vor dem Verkehrs-, vor allem aber vor dem Geldproblem an Bedeutung voraussteht; nicht die Geld- beschaffungs-, wohl aber die Produktionsfrage hat für den Krieg (dessen Ausgang damals noch unbekannt war) eine allererste Be- deutung. Damit aber rückt das Agrarproblem wieder aus dem Winkel, in dem es so lange Zeit irrigerweise gehalten worden ist, in den Vordergrund des Interesses: nicht Industrialisierung um jeden Preis und auf Kosten der Eigenerzeugung an Lebens- mitteln, sondern die den gegebenen Verhältnissen und Bedürf- nissen jeweils am besten angepaßte Verteilung und die lücken- lose Verwertung aller produktiven Kräfte im Staatsgebiete muß das Ziel einer weitaussehenden Volkswirtschaftspolitik sein.« Nur ein Staat, dem es gelingt, auf seinem eigenen Gebiet alles Lebensnotwendige, vor allem aber die Nahrungsmittel selbst zu erzeugen, steht bei kriegerischen Verwicklungen auf festen Füßen. Auch ein solcher kann aber einer raschen Vermehrung seiner Bevölkerung, die er vor allem aus militärischen Gründen 15 Die Bevölkeruägsverhältnisse der Erde Es entfallen also 333 ; 0'83 = zirka 400 Einwohner pro Quadratkilometer Ackerland (gegen 246 in Deutschland, 298 in Großbritannien, 530 in Belgien). Abgesehen von der Pest, die z. B. allein in der Präsident- schaft Bombay im Oktober 1903 an 14.000 Personen hinweg- raffte, ist seit 1873 die Hungersnot zu einer fast ständigen Er- scheinung geworden. 1891 bis 1900 waren 81 Millionen Menschen (30% der damaligen Gesamtbevölkerung auf 40% des Flächen- inhaltes) von Hungersnot betroffen. — , Wir sehen also in den beiden großen Menschenanhäufungen, China und Indien, alle dehtliehen Zeichen der Übervölkerung. Hungersnot und Auswanderung in China, Hungersnot und Pest in Indien treten als selbsttätige Regulativmittel auf, die von Zeit zu Zeit die Volksvermehrung eindämmen. Trotzdem iiberwiegt aber die Tendenz zur Vermehrung, und die Volkszahl nimmt daher rasch zu. In Europa, dessen West- und Mittelstaaten das dritte der, großen Stauungsgebiete bilden, sind bis jetzt die Zeichen der Übervölkerung noch nicht so deutlich zutage getreten. Höhere Kultur und die Beherrschung ungeheurer überseeischer Kolonien haben ihm bisher die Mittel geboten, seinen Volksüberschuß mit dem Nötigen zu versehen. Aber das Expansionsbedürfnis hat jene Spannungen erzeugt, die zum Weltkriege führten. Er war ein Elementarereignis, das man recht wohl als ein un- bewußtes Regulativmittel gegen die Übervölkerung, ähnlich wie Pest und Hungersnot in den asiatischen Übervölkerungszentren, deuten kann. Nun noch einige Worte über Japan und Ägypten. Von der Gesamtfläche Alt-Japans (382.000 hm2) sind nur 70.000 hm2 landwirtschaftlich verwertet, während 225.000 hm2 (60%) auf Waldungen entfallen. Die 70.000 hm2 landwirtschaft- licher Fläche müssen 55-9 Millionen Menschen ernähren, es ent- fallen also pro Aekerquadratkilometer nahezu 800 Menschen. Eine so dichte Besiedlung ist nur bei der außerordentlichen Genügsamkeit des Volkes, dessen Hauptnahrung Reis bildet, und bei der geringen Viehzucht, die wenig Futter absorbiert, möglich. Dabei ist die Vermehrung des Volkes eine sehr starke (0‘9%,, pro Jahr). ( V-v