16 Erster Abschnitt. Die Erklärungen der Wirtschaftskrisen. Grundsätze auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeit nehmer angewandt, die alten Ordnungen, welche dieses Verhältnis bis ins einzelne geregelt hatten, waren in Fortfall gekommen, und an ihre Stelle war der freie Arbeitsvertrag getreten. Keine öffentlichen Gen walten, keine Verabredungen unter Arbeitern oder Unternehmern sollten in Zukunft als störend im Sinne dieser individualistischen Auffassung in das Arbeitsverhältnis eingreifen. Man hielt diese Freiheit der Arbeit und des Arbeitsvertrages auch durchaus für im Interesse der Arbeiter liegend. Es hat aber kaum eine Zeit gegeben, in welcher die Lage der Arbeiter eine so gedrückte, ihre Arbeitszeit eine so ausgedehnte, ihre Lebenshaltung und Lage eine so schlechte gewesen war, als in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach Ein führung dieser wirtschaftlichen Freiheit. Es war also hier eine ähn liche Sachlage vorhanden wie bei diesen wirtschaftlichen Störungen. Auch in dem Verhältnis von Produktion und Konsumtion war der er wartete Gleichgewichtszustand ausgeblieben; statt der erwarteten Harmonie war, vor allem in England damals, eine gewaltige Über produktion mit großen Absatzstockungen, die man in einem solchen Maße bis dahin nicht gekannt hatte, eingetreten. Solche Erschütterungen des Wirtschaftslebens mit ihren ver hängnisvollen sozialen Wirkungen konnten aber unmöglich an der nationalökonomischen Wissenschaft spurlos vorübergehen. Allent halben war das Gegenteil dessen eingetroffen, was diese individua listische Richtung in der Nationalökonomie angenommen hatte, und die nationalökonomische Wissenschaft stand nun vor der Aufgabe, diesen Widerspruch zu erklären. Es entstanden jetzt zwei Richtungen, welche in ganz entgegengesetzter Weise diesen wirtschaftlichen Störungen gegenüber Stellung nahmen. Die eine baute vollkommen auf den oben dar gelegten Lehren der individualistischen Nationalökonomie auf. Sie hielt an dem Postulat der wirtschaftlichen Freiheit als dem Ideal aller Wirtschaftspolitik fest und suchte den Widerspruch zwischen der Welt der Tatsachen und dem, was man in optimistischem Glauben erhofft hatte, zum Teil damit zu lösen, daß sie diese Notstände auf das Walten außerwirtschaftlicher, mit der Kraft eines Naturgesetzes wirkender Faktoren zurückführte. Es sei beispielsweise nur an das Malthusschc Bevölkerungsgesetz und die sich darauf aufbau'ende pessimistische Lehre Ricardos von der Entwicklung in der Verteilung des Volkseinkommens erinnert 1 )- ü Auf diese Zusammenhänge bin ich eingehender zu sprechen ge kommen in meiner kleinen Schrift: Soziale und wirtschaftspolitische An schauungen in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegen wart. Leipzig 1919. Sammlung „Wissenschaft und Bildung“. Bd. 60.