38 eine Politik, die den letzten Arbeiter über das Märchen vom „sozialen Königstum" aufklären und ihn davon überzeugen muß, daß im heutigen Klaffenstaat die Regierung immer mehr und immer deutlicher die Sach walterin der Kapitalisteninteressen wird und allein die Sozialdemokratie die rückhaltlose und offene Vertreterin der Arbeiterinteressen ist." Das war eine kräftige Antwort, und als der Moment gekommen war, wurde auch in ihrem Sinne gehandelt. Am 6. Dezember 1898 — drei Monate nach der Oeynhausener Rede — trat der neue Reichstag zusammen. Es dauerte aber noch sechs weitere Monate, bis zum 5. Juni 1899, bevor die dort von Wilhelm II. angekündigte Vorlage an den Reichstag gelangte. Die Verzögerung begreift sich, wenn man das Schriftstück durchlieft. Mit vollem Recht erhielt es den Titel die „Zuchthausvorlage". Es war ein Machwerk, das, wenn es Gesetz geworden wäre, das Koalitionsrccht der Arbeiter fast in sein Gegenteil verkehrt hätte. Kaum eine der Landlungen, die zu einer Kollektivaktion der Arbeiter gegen über den Anternehmern gehören, wäre danach straffrei geblieben, von der Androhung einer Arbeitseinstellung, sofern solche unter Verstoß gegen die Kündigungsfrist eintrat — was sich ja nie voraussehen läßt — bis zur „Ehr verletzung" gegen Arbeitswillige, welche letzteren in der Begründung der Denkschrift als besonders nützliche Elemente des Staates bezeichnet wurden. Zur Verfolgung sollte bei Landlungen, die sonst nur auf Antrag des Ge schädigten verfolgt werden, im Falle von Arbeitseinstellungen kein Antrag erforderlich sein, wenn die Geschädigten Arbeitswillige waren. Für die meisten der bezeichneten Landlungen war Gefängnis oder Geldstrafe bis zu 1009 Mk. angesetzt; wo aber infolge eines Arbeiterausstandes oder einer Arbeiter aussperrung „eine Gefährdung der Sicherheit des Reichs oder eines Bundes staats eingetreten war oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben oder das Eigentum" herbeigeführt wurde, sollte (§ 8) auf Zuchthaus bis zu drei Jahren, gegen die Rädelsführer bis zu fünf Jahren zu erkennen sein. Der „Rädelsführer" wurde auch bei anderen Paragraphen gedacht, und ebenso wurden höhere Mindeststrafen für Personen angesetzt, welche sich die bedrohten Landlungen „zum Geschäft machen", d. h. die Vertrauensmänner der Arbeiter, Gewerkschaftsführer und Gewcrkschaftsbcamte. Daß auch Aussperrungen, also von Llnternehmern ausgehende Maßnahmen, in das Gesetz einbezogen werden sollten, hatte selbstverständlich nur formelle oder- dekorative Bedeutung. Auch ohne daß man das Posadowskysche Rund schreiben und die Reden Wilhelms II. kannte, kennzeichnete sich das Gesetz ohne weiteres als gegen die kämpfende Arbeiterschaft gerichtet. So zögerten denn auch die Arbeiter nicht, ihre Stimme geltend zu machen. Zn allen Teilen Deutschlands wurden große Protestversammlungen abgehalten und Resolutionen angenommen, in welchen die Zuchthausvorlage entrüstet zurückgewiesen und statt ihrer Schutz und Stärkung des Koalitions rechts der Arbeiter verlangt wurden. In Millionen von Exemplaren wurden Flugblätter verbreitet, welche die Arbeiter über die wahre Natur der Vor lage aufklärten. Die politische und die gewerkschaftliche Presse ward nicht müde, an Beispielen aus der Praxis zu zeigen, wie fast überall Polizei und Gerichte schon die bestehenden Strafbestimmungen in bezug auf Koalitionskämpfe einseitig gegen die Arbeiter kehrten, und die General kommission der Gewerkschaften Deutschlands, deren Sitz damals in Lam-