VI. Deutsche Diesseitsreligion 115 Ein Sprichwort behauptet, der Prophet gelte nichts in seinem Vaterland, und gewiß hat kein Volk so wie die Deutschen immer noch die Neigung, seine Propheten in Politik, Wissenschaft, Kunst verhungern zu lassen ~ vielleicht um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Leistungsfähigkeit durch die stärkste Kraftprobe zu erweisen. Aber gilt der Prophet, der in seinem Vaterlande nichts gilt, darum mehr in andern Ländern? Doch nur sehr ausnahmsweise. Auch der Apostel Paulus war vielen Juden geradezu verhaßt; andererseits aber: wäre der Erfolg seiner Mission denkbar, wenn er nicht ge- tragen worden wäre von dem über das ganze Römerreich ver- streuten Volke der Juden-Christen? So viel abschreckende Beispiele man auch für den Satz mag aufstellen können, wonach der Prophet nichts gilt in seinem Vater- lande; viel mehr Beispiele wird man finden für den andern Satz: daß noch keiner „„die Welt““ erobert hat, der sich nicht vorher sein Volk erobert hätte. Wir Deutschen haben die leidige Gewohnheit, von „Weltruf“ zu sprechen, wo es sich um eine oft nur vorübergehende Berühmt- heit innerhalb der deutschen Grenzen handelt. Immerhin, wir Deut- schen — die wir von unsern vereinigten Feinden feierlich als Hunnen und Barbaren abgestempelt worden ~ haben ein paar Namen aufzuweisen, die aus der Geschichte der Menschheit nicht fortzudenken sind. Beispielsweise die Namen: Luther – Goethe ~ Richard Wagner. Luther war ein Glied der römischen Weltkirche und hätte sich auch dort, losgelöst von allem Volkstum, vielleicht erfolg- reich betätigen zu können. Für die Menschheit wird sein Wirken aber gerade dadurch bedeutungsvoll, daß er für sein Volk und durch sein Volk wirkte, daß er eine Volkspersönlichkeit mit der Gewalt seiner Ich-Persönlichkeit ergriffen und aufgerüttelt hat. Goethe hat den Grund zu seiner Weltberühmtheit gelegt mit dem Werther, also mit einem Werke, das auch seine Deutschen zutiefst gepackt hatte und das aus einer Zeit stammt, wo er selbst von Weltbürger- lichkeit noch weit entfernt war. Richard Wagner hat den Versuch gemacht, die Welt von Paris aus zu erobern ~ und ist gescheitert. Sein Siegeszug beginnt erst mit dem Augenblick, wo er sein eigenes Volk für sich gewonnen hatte. Es ist nicht die geistige Verkehrsform der Sprache allein, die C % V