Zunächst wurde aufgeräumt mit der Anschauung, als sei der Krüppel ein Mensch, der durch seine Gebrechen zu völliger Hilflosigkeit verurteilt sei und auf Betteln und Almosen angewiesen bleiben müsse. Es kam die Erkenntnis, daß auch der unheilbare, hilflose Krüppel durch geeignete Erziehung und Unterweisung zu einem selbsständigen Menschen gemacht werden konnte. Die Folge war, daß Krüppelan- stalten geschaffen wurden; denn nur durch anstaltsmäßige Erziehung und Unterweisung konnten Erfolge erzielt werden. Hierbei muß aber betont werden, daß die Verkrüppelung als etwa s G eg e b en es hin- genommen wurde. Man versuchte lediglich, die noch übriggebliebenen Kräfte und Fähigkeiten wirtschaftlich nuzbar zu machen. Dieser Fort- schritt verrät ein für damalige Zeit immerhin großes Maß sozialpoli- tischer Reife. Was aber noch fehlte, war die Einbeziehung der orthopädischen Wissenschaft, die der Entwicklung ihrer medizinischen Schwestern erst langsam folgte, in den Dienst der Krüppelfürsorge. Das wußten die Vorkämpfer der Krüppelfürsorge sehr gut. Sie unterstützten deshalb die Weiterentwicklung der Orthopädie in einer Zeit, als der Staat sich von der Notwendigkeit der Einrichtung von orthopädischen Univer- sitätslehrstühlen und der Einrichtung von orthopädischen Kliniken erst langsam überzeugen ließ und für die Krüppelfürsorge schlechthin noch kein Verständnis an den Tag legte. Die Orthopädie zeigte sowohl nach der operativen wie auch nach der mechanischen Seite, daß der Krüppel nicht nur ein armer, hilfloser Mensch war, sondern in erster Linie ein kranker Mensch, der Anspruch und Hoffnung auf Heilung haben Follte. Der Öffentlichkeit wurde die Bedeutung der Krüppelfürsorge be- sonders durch die von Biesalski 1906 mit amtlicher Unterstützung durchgeführte Krüppelzählung klargemacht, nach der es in Deutschland über 100 000 Krüppel unter 15 Jahren gab, von denen über die Hälfte anstaltsbedürftig waren. An solchen Zahlen konnten Reich und Staat nicht achtlos vor- übergehen. Sie konnten die Sorge um diese armen Menschen nicht allein der privaten Wohlfahrtspflege überlassen, die ja doch aus Mangel an Geld und bei Fehlen der Autorität nur in beschränktem Maße bei solchen Zahlen helfen konnte. Die reichsgesetzliche Grundlage für die öffentliche Krüppelfürsorge gab das Reichsgeseßz über den Untersstüungswohnsitz vom 6. Juni 1870, das sich mit der Unterstützung hilfsbedürftiger Deutscher schlecht- hin befaßt, also mit der Fürsorge für Arme. Die Landesgesetzgebung verschiedener Staaten hat für gewisse Zweige dieser Fürsorge, ins- besondere, soweit es sich um Geisteskranke, Idioten, Epileptische, Taub- stumme und Blinde handelt, den Landarmenverbänden oder größeren kommunalen Verbänden teils die Befugnis erteilt, teils die Ver- 39