Indem ich versuche, einen Umriß dessen, was man „russische Welt- anschauung‘ nennen darf, zu skizzieren, nötigt mich dies Thema zuerst zu einem kurzen Vorwort darüber, was eigentlich solch eine Aufgabe bedeutet und wie sie überhaupt lösbar ist. Eine Weltanschauung ist immer das Werk und gleichzeitig der Ausdruck eines schaffenden individuellen Geistes, einer geistigen Persönlichkeit. In einem letzten, ganz konkreten und aktuellen Sinne gibt es eigentlich soviel Welt- anschauungen, wieviel es einzelne schaffende Persönlichkeiten oder Genien gibt. In diesem Sinne könnte man überhaupt nicht von „russischer Weltanschauung“, sondern nur von den russischen Welt- anschauungen sprechen, und ich müßte Ihnen eine ganze Reihe von einzelnen Systemen oder Lehren unserer großen Denker vorführen. Versucht man aber, aus allen diesen einzelnen Lehren oder Systemen durch ihre Vergleichung untereinander etwas Gemeinsames, sozusagen eine gemeinsame Weltanschauung aller, herauszufinden, so ist, bei der Größe und Tiefe der individuellen Verschiedenheiten, das Resul- tat zu dürftig und abstrakt - allgemein, um ‚ein ernstes Interesse zu verdienen und als irgendwie geformte und einheitliche Weltan- schauung zu gelten.‘ Auch darf nicht ohne weiteres jeder Denker eines Volkes in demselben Sinne und in demselben Grade als Repräsentant oder Exponent des nationalen Geistes gelten. Hier, wie überall, ist das wirklich bedeutend und lebendig Allgemeine nicht durch einfache Vergleichung von vielem verschiedenen und Abstraktion des ihnen Gemeinsamen zu gewinnen; man muß im Gegenteil schon xon vorn- herein von einer konkreten Einheit ausgehen. Nun ist aber eine natio- nale Weltanschauung, als Einheit gefaßt, natürlich niemals eine natio- nale Lehre oder ein nationales System; so was gibt es überhaupt nicht, sondern es handelt sich eigentlich um nationale Eigenart des Denkens selber, um eigentümliche geistige Tendenzen und Richtungs- linien, im letzten Sinne um das Wesen, des nationalen Geistes selber, das nur durch eine gewisse ursprüngliche Intuition erfaßt wird. An- dererseits aber traue ich mir gar nicht zu, mich in die Tiefen einer mystischen Psychologie der sogenannten „Volksseele“, in unserem Falle der „russischen Seele“ zu stürzen. Ein solches Unternehmen ist immer zu subjektiv gefärbt, um auf volle wissenschaftliche Objektivi- tät Anspruch zu erheben; und das Resultat ist notwendig ein Schema, und dazu noch ein ziemlich problematisches Schema. Wir sind also angewiesen, bei der Lösung dieses schwierigen Problems sozusagen 1* Q