Das Wesen der Soziologie sicht ist das folgende Beispiel. Im Jahre 1910 hielt die »Deutsche Gesellschaft für Soziologie« ihren ersten Kongreß in Frankfurt am Main ab; es war hier den Rednern nur gestattet, Tatsachen festzustellen, nicht aber sie zu beurteilen. Die Kongreßberichte zeigen uns, wie die Vorsitzenden bei den einzelnen Sitzungen eine wahre Jagd auf jedes Werturteil der Vortragenden machten!, In den Vereinigten Staaten allerdings hat die Bezeichnung Soziologie lange Zeit hindurch sowohl die wissenschaftliche, als auch die praktische Bedeutung des Wortes umfaßt und noch immer sind beide etwas ineinander verflochten?. Immerhin sind die hervorragendsten Soziologen bemüht, die erstere selbständig hervortreten zu lassen. Lester F, Ward schrieb seine »Pure Sociology« lange vor seiner »Applied Sociology« und hat auch ersterer die bei weitem größere Bedeutung beigemessen. Die »Principles of Sociology« von W. Giddings sind im wesentlichen ein rein wissenschaftliches Werk. In den letzten Ankündigungen der amerikanischen Universitäten hat sich die Soziologie von dem, was man dort »Charities and Correction« nennt, frei gemacht. Überall streift also, um mich eines Ausdruckes aus der Technik zu bedienen, das Wort Soziologie seine Bedeutung als prak- tisches Fach von sich ab. Wir wollen den Versuch machen, die daraus entstehenden Folgerungen auf eine bestimmte Formel zu bringen. Eine Unter- scheidung, die täglich mehr in Aufnahme kommt, soll uns die Mittel dazu liefern. Es ist die zwischen Wissenschaft und Kunst- lehre. Man muß sich hier hüten, sie mit der früher verbreiteten und nicht weniger richtigen Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis zu verwechseln. Die Theorie ist ihrem Wesen nach etwas Allgemeines, Abstraktes, die Praxis ist etwas Besonderes und Konkretes. Unterscheiden sie sich aber in einem sehr wich- tigen Punkte voneinander, so gleichen sie sich doch in einer vielleicht noch wesentlicheren Eigenschaft: Beide zielen immer auf das Handeln. Beide haben das gleiche Ziel, die eine in einer höheren, die andere in einer bescheideneren Sphäre: das Beste- * Siehe Robert Michels: »Die deutsche Gesellschaft für Soziologie und ihr erster Kongreß«, veröffentlicht in der »Revue internationale de sociologie«, 1910. — Vgl. auch »Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages«, Tübingen 1911. ? Siehe Albion W. Small: »Fifty years of sociology in the United States« erschienen in »The American Journal of Sociology«, Mai 1916. — 6