1. EINLEITUNG. Die alte Erfahrung, daß in politisch müden Zeiten die sozialen ‚Ansprüche in den Vordergrund des Volkslebens treten, ist uns nicht bloß durch die staatlichen Zustände des letzten Jahrzehnts be- stätigt worden. Auch die Staatswissenschaft hat sich wieder als ein. treuer Spiegel der öffentlichen Verhältnisse erwiesen. Wir gind mit einer Fülle dankenswerter Forschungen über bisher ganz vernachlässigte soziale Fragen beschenkt worden. Noch mehr, es regen sich Vorschläge zu einem gänzlichen Neubau der Staats- wissenschaft: eine neue Lehre — eine Naturgeschichte des Volkes, eine soziale Anthropologie, eine Sozialwissenschaft — soll ihr zur Seite treten oder sie ganz verdrängen. Endlich hat Robert von Mohl in seiner Geschichte der Staatswissenschaft diesen weit aus- einander gehenden Stimmungen und Bestrebungen einen klaren wissenschaftlichen Ausdruck gegeben. Er verficht die Notwendig- keit, die Lehre von der Gesellschaft, von den je aus einem be- ‚stimmten Interesse sich entwickelnden natürlichen Genossen- schaften, aus der Lehre vom Staate auszuscheiden. Man durfte erwarten, eine so tief eingreifende Neuerung, vorgeschlagen von einem so kompetenten Urteiler, werde lebhafte Debatten hervor- rufen. Die Versuche, die Staatswissenschaft vom sozialen Stand- punkte aus umzugestalten, sind seitdem vielfach und in sehr ab- weichender Weise erneuert worden!). Doch ist ein direktes Ein- gehen auf Mohls Vorschläge erst von wenigen versucht ?) und noch *) Nach den bei Mohl (a. a. O. I, 67—110) angeführten Schriften sind erschienen: Stein, System der Staatswiss. Bd. 2: die Gesellschafts- lehre. Abt. 1. — Coßta, Einleitung in ein System der Gesellschaftswissen- schaft — und eine Reihe von Aufsätzen in der deutschen Vierteljahrsschrift. ?) Beiläufig von Laurent in der Heidelberger kritischen Ztschr, f. Rechtswiss. III, 3; ausführlicher von Bluntschli in der Münchener krit. Überschau. III, 2. Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft,