UL. or 19 RECHTSBUCHSTABE UND LEBENSDRANG. DIE GRENZEMPIRIE ZEIGTE UNS DIE WERDENDE GRENZE ALS Kampfzone, als dreidimensionalen Kampfraum — das Rechts- ideal aber, der Rechtsbuchstabe möchte sie am liebsten zur mathematischen, möglichst körperlosen Linie machen, minde- stens zum linear auf der Karte, auf dem Papier eintragbaren Begriff, mit Buchstaben und Zahlen möglichst unverrückbar zu umschreiben und zu beschreiben. So aber fanden wir in der Wirklichkeit des Lebens, von seinen Erscheinungen hin- und hergeschoben, die Grenze nicht, nirgendwo und nie, an keinem Orte und zu keiner Zeit. Wer sie nicht wirksam bewachte und beschützte, dem entglitt sie und entzog sie sich, auch wenn sie mit dem Rechtsbuchstaben noch so gut festgelegt schien. Denn freilich: Abgrenzung ist Naturgebot; aber Starr- heit in ihr ist lebensfeindlich, an Lebensformen ein Alters- zeichen, ein Beweis fliehenden und schwindenden, nicht drängenden und überquellenden Lebens: In ihrer Vollendung bedeutet sie Tod, ein Abgestorbensein, aus dem neues Leben schließlich nur unter völliger Nichtachtung seiner alten Lebensformen zu quellen vermag. Aber Staaten wie Völker müssen genau wie der Einzelne des memento vivere mehr ge- denken als des memento mori, wenn sie in dieser Zeitlichkeit fortbestehen wollen. So fragen wir also nicht: Wie kommt es, daß sich das Leben dem Rechtsbuchstaben dennoch unterwarf (denn das tat es nie und nirgendwo), sondern wie kommt es, daß sich die Grenz- empirie mit der Grenzüberlieferung einigermaßen abgefunden hat, auch in den Bezeichnungen, den Normen, die sie schuf? Wir fragen nach dem Wie? zuerst wieder das Grenzbild der Praxis: es findet sein Vorbild im Grenzstein! im eichenen