Professor Dr. ERNST SCHULTZE, Leipzig, Direktor des Weltwirtschafts-Instituts der Handelshochschule Leipzig: DIE MÖGLICHKEIT WIRTSCHAFTLICHER PROPHEZEIUNGEN. Meine sehr verehrten Herren! Wenn ich über die Möglichkeit wirtschaftlicher Pro- phezeiungen vor Ihnen sprechen soll, so möchte ich an die Spitze den Satz stellen, daß in der Theorie wie in der Praxis des Wirtschaftslebens unaufhörlich prophezeit wird — auch dort, wo man es leugnet. Ich will weiter den Satz hinzufügen, daß in den wirtschaftlichen Vorgängen, die wir kennen und erleben, die Kräfte der Ver: änderung diejenigen der Beharrung bei weitem überwiegen. In einer stabilen Wirt: schaft wäre ein Voraussagen künftiger Er- eignisse überflüssig, weil die‘ ökonomischen Vorgänge sich in ihr immer von neuem in derselben Art wiederholen würden. Ob es eine solche stabile Wirtschaft jemals gegeben hat, sei dahingestellt; ich möchte es be: zweifeln. Jedenfalls haben wir damit zu rechnen, daß heute eine solche stabile Wirt: schaft nirgends vorhanden ist, sondern daß sowohl in der Volkswirtschaft wie in der Privatwirtschaft unaufhörliche Veränderun: gen an der Tagesordnung sind; und diese Veränderungen fordern eben dazu heraus, daß man den Versuch macht, in die Zukunft vorauszusehen. Das aber nennen wir „Prophezeien“. Wer das nicht tut oder wer die Zukunft falsch beurteilt, der hat erhebliche Verluste zu tragen. Wer sich in der Voraussicht der ökonomischen Entwicklung verrechnet, hat das zu büßen. Die Wirtschaftsgeschichte weist zahlreiche Beispiele dafür auf und nicht minder der Schicksalsablauf der Pri- vatwirtschaften. Fragen wir zunächst kurz, wer denn eigentlich wirtschaftlich pro: phezeit. Ich meine, daß dabei an der Spitze steht die Wirtschaftspolitik und die Gesetzgebung sämtlicher Staaten. Sie glaubt, aus den Erfahrungen der Vergangenheit die Entwicklungsrichtung der Zukunft voraus: berechnen und sie durch bestimmte Maß: nahmen in ganz bestimmte Bahnen lenken zu können. Ferner prophezeit in gleichem Sinne die Wirtschaftspolitik der Parteien ınd Verbände. Es prophezeit weiter die ;pekulation; sie geht immer von einer wirt: schaftlichen Prophezeiung aus und ändert, <orrigiert also daraufhin die gegenwärtigen ’reise bzw. Kurse. Infolgedessen prophezeit lie Börse durch alle ihre Handlungen: sie ıntizipiert die voraussichtliche künftige Ent- wicklung und bringt sie in Kurserhöhungen ‚der Kurssenkungen zum Ausdruck. Ferner »rophezeit die Unternehmung. Sie arbeitet ıe für die Gegenwart, sondern immer für lie Zukunft. Sie trifft alle Maßnahmen so, ls ob ihr die Entwicklungsrichtung der Zukunft bekannt wäre. Da aber der einzelne )nternehmer vielfach nicht über das nötige Material verfügt, um mit Sicherheit die Zuz :unft und die Schwankungen der wirtschaft: ichen Wechsellagen vorausberechnen zu zönnen, ist seit einiger Zeit die Konjunktur- orschung zu Hilfe gekommen. Sie sucht die Zukunft und zwar die nächste Zukunft der 7reisentwicklung methodisch zu erforschen ınd der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Nun möchte ich unter wirtschaftlicher ”rophezeiung etwas anderes verstehen ıls die Konjunkturprognose; ich will kurz sagen, worin ich die Unterschiede ler beiden sehe. Ihr Aufgabenkreis deckt jich nur zum Teil. Die Konjunkturprognose ’earbeitet größtenteils Probleme, von denen sich die wirtschaftliche Prophezeiung fern; 1ält. Der Hauptunterschied zwischen beiden ijegt wohl darin, daß die Aufgaben der Kon: 'unkturprognose zeitlich begrenzt sind, wäh: ‚end die der wirtschaftlichen Prophezeiung sich auf Zeiträume erstrecken, die der »rsteren verschlossen bleiben. Die wirt; schaftliche Voraussage, wenn ich so die wirt: schaftliche Prophezeiung mit einem anderen Namen bezeichnen darf, sieht in eine Zu- zunft hinein, die von der Konjunkturpro- inose nicht erschlossen werden kann, weil liese von den wirtschaftlichen Wechsellagen ler Gegenwart ausgeht und daraus ihre Schlüsse für einen Zeitraum zieht, der im Töchstfalle einige Jahre, in der Regel sogar