Am 3. Dezember 1922 war das Aufbauwerk gesetz- geberisch endgültig "erledigt. Der Nationalrat hatte seinen Teil zu der geschichtlich denkwürdigen Leistung beigetragen, Oesterreich war gerettet. Einmal geneh- migt, bedurfte das Aufbauwerk eigentlich finanzieller Gesetze nur mehr im geringen Maße; abgesehen von einem Gesetz über Zollerhöhungen waren lediglich für die österreichische Nationalbank, die am I. Jänner [023 ihre Tätigkeit aufnahm, Gesetze erforderlich. Viel Mühe verwendete der erste Nationalrat während der ganzen Gesetzgebungsperiode auf die Hebung der österreichischen Volkswirtschaft. Eine große Zahl von Handelsübereinkommen sollte den Warenverkehr mit dem Auslande beleben, an den gemeinwirtschaft- lichen Unternehmungen beteiligte sich der Staat mit Kapitalseinlagen, vor allem aber wurde die Ausnüt- zung der österreichischen Wasserkräfte durch mehrere Gesetze auf das tatkräftigste gefördert. Die Wiener und die Grazer Messe, die Bundesstraßen und die Eisenbahnen genossen die Fürsorge des Staates. Die Bahnen wurden durch Gesetz als eigener Wirtschafts- körper „Oesterreichische Bundesbahnen“ neu organi- siert, der staatliche Kraftfahrbetrieb wurde eingerichtet. Mehrere Gebührenbegünstigungen und das Vorkriegs- schuldengesetz kamen der Wirtschaft im allgemeinen, die Gesetze über den unlauteren Wettbewerb und über das Hausiergewerbe dem Gewerbestande zugute. Zur Beaufsichtigung des ganzen Bankwesens wurde die Bankkommission eingesetzt. Das Ernährungswesen wurde anfänglich noch staatlich geregelt durch Vor- schriften über den Verkehr mit Getreide und Mahl- produkten und über die Staffelung der Lebensmittel- preise; für die Landwirtschaft wurden Gesetze über die Ablösung von Pachtgründen und von Zinsgründen sowie über das Geldausgedinge beschlossen. Groß war die Zahl jener Gesetze, die der sozialer. Fürsorge gelten. In allen Zweigen der Sozialversiche- rung und in der Invalidenfürsorge wurden Verbes- serungen vorgenommen, die Gewerbeinspektion wurde ausgestaltet, der staatliche Wohnungsfonds in einen Wohn- und Siedlungsfonds umgebildet, das Mieten- und das Wohnungsanforderungsgesetz verabschiedet. Der Privatangestellten, der Schauspieler, der Haus- besorger, der Gutsangestellten wurde in eigenen Ge- setzen gedacht, ebenso der Kriegerwaisen und Invali- denkinder; die Verabreichung geistiger Getränke an Jugendliche wurde eingeschränkt und die Schüleraus- speisung unterstützt. Wiederum mußte auch den öffentlichen Angestellten aller Art und den Pensio- nisten mit Gesetzen beigestanden werden, insbeson- dere wurde eine große Besoldungsreform für die Bundesangestellten erledigt. Dem kulturellen Aufbau dienten mehrere Gesetze zur Verbesserung der Schul- verhältnisse, insbesondere auch der F ortbildungs- schulen, ferner ein Denkmalschutzgesetz. Gerichts- entlastungsnovellen und ein Gesetz: über die Ge- werbegerichte sollten das Justizwesen, ein neues Preß- zesetz das Österreichische Preßwesen reformieren. Gegen die Preistreiberei und den Schleichhandel traf ain Sondergesetz geeignete Vorkehrungen. Auch an der Verfassung wurde weiter gearbeitet. Das Burgenland mußte in den staatlichen Organis- nus eingefügt werden, Organisation und Verfahren les Verfassungsgerichtshofes und die Finrichtung des Volksbegehrens wurden in ausführlichen Gesetzen neu zeordnet. Das Wehrgesetz erfuhr einige Änderungen, wobei an die Stelle des Zivilkommissariats im Bundes- ninisterium für Heereswesen eine ständige Par- ‚amentskommission für Heeresangelegen- heiten errichtet wurde, die berechtigt ist, in die Verwaltung der Heeresangelegenheiten Einblick zu aehmen. Sie besteht aus drei Mitgliedern des National- -ates .oder Bundesrates, die der Nationalrat aus seinen Jlrei stärksten Parteien wählt. Kurz vor dem Ende der Tagung, die 210 Vollsitzungen umfaßte, bestellte ler Nationalrat noch das eigene Haus durch Ände- ungen an der Wahlordnung (Gesetz vom IL. Juli ‚023, BGBL. Nr. 367): Künftig werden nur 165 Ab- geordnete (statt 183) in 25 Wahlkreisen gewählt. Die Zahl der Abgeordneten jedes Wahlkreises wird in der Weise berechnet, daß die Bürgerzahl Österreichs Jlurch 165 geteilt und jedem Wahlkreis so oft ein Abgeordnetensitz zugewiesen wird, als die heraus- gekommene Zahl in der Bürgerzahl des Wahlkreises anthalten ist. Zur genaueren verhältnismäßigen Ver- :eilung der Abgeordnetensitze werden die Wahlkreise zu vier Wahlkreisverbänden zusammengefaßt, in denen durch ein zweites Ermittlungsverfahren die m ersten Ermittlungsverfahren nicht vergebenen Man- date (Restmandate) den einzelnen Parteien zugeteilt werden. Nationalrat, IL Gesetzgebungsperiode. (20. November 1923 bis 18. Mai 1027.) Es war ein innerlich gefestigtes Staatswesen, das am 2I. Oktober 1023 die Wahl des zweiten National- -ates vornahm — die erste Wahl, die für das gesamte Bundesgebiet gleichzeitig und einheitlich stattfinden konnte. Von den Gewählten waren 82 Christlich- ;oziale, 68 Sozialdemokraten, 10 Großdeutsche, 5 Landbündler. 25 Abgeordnetensitze waren erst im zweiten Ermittlungsverfahren vergeben worden. Zum Präsidenten des zweiten Nationalrates wurde VMiklas, zum zweiten Präsidenten Eldersch, zum dritten Dinghofer gewählt; an Stelle des letzteren irat später Dr. Waber. Politisch wurde das System der Koalition zwischen Christlichsozialen und Groß- deutscher Volkspartei fortgesetzt. Dank der Sanierung war der Nationalrat von vielen drückenden Sorgen befreit und seine Tätigkeit, die Gesetzgebung und die politische Leitung des Staates, bewegte sich mehr im normalen Geleise. Daß die vorhandenen politischen “egensätze trotzdem unverhüllt zutage traten und